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Bernhard Dressler: Unterscheidungen. Religion und Bildung. Evangelische Verlagsanstalt, Stuttgart 2006

„Das Thema Bildung hat Hochkonjunktur.“ (5) Mit diesen Worten eröffnet der Marburger Religionspädagoge Bernhard Dressler seine Ausführungen zu Bildung und Religion vielsagend: Auf den ersten Blick werden damit die zahlreichen Diskussionen und Reformbemühungen zum Ausdruck gebracht, die insbesondere seit dem so genannten PISA-Schock unter dem Schlagwort „Bildung“ firmieren. Darüber hinaus ist es näher betrachtet kein Zufall, dass Dressler das Wort „Hochkonjunktur“ ganz nah an die Seite von „Bildung“ rückt. Er markiert damit die Ambivalenz und die Schattenseite der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion: ihre Ökonomisierung und ihre „sozialtechnologische Verzweckung“ (5). Dressler führt seinen Gedankengang in drei Hauptteilen aus, wobei an dieser Stelle nur eine Beschränkung auf einige ausgewählte Aspekte dieser Studie vorgenommen werden kann.

Zu Beginn seines ersten Hauptteils „Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts“ (9-58) legt Dressler dar, wie unter dem Eindruck der ‚1968er Kritik’ der Bildungsbegriff „nur im Terminus der ‚Bildungspolitik’“ (9) überlebte. In den 1980er Jahren lässt sich eine gewisse Renaissance in den Erziehungswissenschaften beobachten, die nicht zuletzt damit zu tun hat, dass nach der Ernüchterung gegenüber alternativen Begriffen wie Lernen und Erziehung die Affinität des Bildungsbegriffs zu Freiheits- und Subjektivitätsansprüchen wahrgenommen wurde, die aufgrund der reflexiven Funktion des Bildungsbegriffs besteht (‚sich bilden’, vgl. 14). Bemerkenswert ist Dresslers differenzierte Sicht auf die PISA-Studie, die ganz entscheidend die gegenwärtige Bildungsdiskussion motiviert. Keineswegs erfolgt nämlich ein pauschales Verdikt mit Verweis auf die Operationalisierung schulischer Bildung sowie „einem unzureichenden Konzept von Allgemeinbildung“ (16). Solche kritischen Voten ergänzt Dressler mit dem Hinweis auf die „vorbildlose Anschlussfähigkeit von PISA (und damit von empirisch-evaluativen Fragestellungen) an bildungstheoretische Diskurse“ (16).

Skeptisch im Blick auf begriffsgeschichtliche Analysen zum Bildungsbegriff einschließlich ihrer vagen etymologischen Analogien (S. 20) betont Dressler mit guten Gründen aus theoriegeschichtlicher Perspektive, „dass Bildung in der Moderne immer dort thematisiert wird, wo Übergänge stattfinden, die mit Unsicherheiten und Undeutlichkeiten verbunden sind. […] Bildung wird dann zum Thema, wenn der Ausgang des Menschen aus zerbrochenen Selbstverständlichkeiten bewältigt werden soll“ (22, zitiert im Anschluss an Christoph Schwöbel).

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass in den Bildungstheorien von Klassikern wie Humboldt und Schleiermacher bereits alle Grundmotive wie -probleme des Bildungsbegriffs vorhanden sind: „das Prinzip der Bildsamkeit […]; das Prinzip der Aufforderung zur Selbsttätigkeit […]; die Überwindung der Problemverkürzungen in formalen und materialen Bildungstheorien“ (23), die Dressler als die wichtigsten exemplarisch benennt. In diesem Sinne lässt sich für die Beibehaltung des Bildungsbegriffs ein entscheidender Grund anführen: „Bildung als der Prozess der wechselseitigen Erschließung von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt [sc. kann] nur mit einem starken Personbegriff zusammen gedacht werden“ (25f). Allein es bedürfte meines Erachtens einer weitergehenden Diskussion, ob Dressler in seiner positiven Einschätzung von Schleiermachers Bildungsbegriff als nicht-instrumentell und nicht-affirmativ (vgl. 29 mit Anm. 56) richtig liegt. Hier ist an die kontroverse religionspädagogische Diskussion zu erinnern, in der insbesondere Godwin Lämmermann den gegenteiligen Standpunkt einnimmt.

Sehr bedenkenswert ist Dresslers Relativierung des religionspädagogisch hoch gehandelten Pluralismusbegriffs, da dieser letztlich ein „Epiphänomen funktionaler Ausdifferenzierung“ (34) darstellt. Die bildungstheoretische Relevanz dessen besteht u.a. darin, dass Religion optional wird, was zu Indifferenz, Dauersuche oder fundamentalistischen Gewissheiten führen kann. Gerade deswegen ist Religion angewiesen auf Bildung, welche eine reflektierte Beziehung ermöglicht (vgl. 36).

Seinen zweiten Hauptteil „Religion und Bildung“ erschließt Dressler mit zwei wechselseitigen Perspektiven: Zunächst wird „Bildung in theologischer Perspektive“ (59-120) reflektiert, sodann „Religion in bildungstheoretischer Perspektive“ (121-160). Aus theologischer Perspektive hebt Dressler hervor, dass christliche Theologie die Pädagogik nach ihrem zugrunde liegenden Menschenbild befragt, insbesondere wo idealisierte Vollkommenheitsansprüche die Grenzen des Menschseins ausblenden oder „Menschen für Zweckkalküle funktionalisiert und daher in ihrer Würde verletzt werden“ (69).

Gemeinsam mit der Rechtfertigungslehre wird durch eine recht verstandene Gottebenbildlichkeit des Menschen deutlich, dass die Personwürde ohne eigenes Verdienst zugesprochen wird und daher Bildung nicht die Würde einer Person begründen kann. Umgekehrt ist das Personsein die Bedingung der Möglichkeit von Bildung (71). Mit den Worten von Peter Biehl: „Subjekt muss der Mensch im Prozess seiner Bildung erst werden, Person ist er immer schon“ (73).

In Auseinandersetzung mit Reiner Preul, der Bildungsprozesse auf Handlungsfähigkeit ausgerichtet sein lässt, stellt Dressler pointiert dar, dass Bildung nicht nur die aktive, sondern auch die passiv-rezeptive Seite des Menschen einbezieht. Dementsprechend ist zwar religiöse Praxis als Handlungsvermögen beschreibbar, es gehören dazu aber auch „Wahrnehmungsvermögen (als ‚Deutekompetenz’) und (kaum als ‚Kompetenz’ formulierbar) Selbstvertrautheit“ (96). Unverkürzt sei in diesem Zusammenhang ein Bonmot Dresslers wieder gegeben: „Mit Otto Schily lässt sich pointiert sagen: ‚Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit’ – aber wer aus diesem Satz die Gründung von Musikschulen zu einem sicherheitspolitischen Programm macht, verfehlt beides, die Musik wie die innere Sicherheit“ (97f).

Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bildungstheorie Wolfgang Klafkis, die nach Dressler „den Problemen funktionaler Ausdifferenzierung als dem Grundphänomen moderner Gesellschaften nicht gerecht“ (108) wird, nimmt er Bezug auf die Ausdifferenzierung der Weltzugänge, wie sie z.B. in der PISA-Studie durch die Unterscheidung zwischen kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver sowie religiös-konstitutiver Rationalität angeführt werden. Diese verschiedenen Weltzugänge tragen der unhintergehbaren Einsicht Rechnung, dass es keine einheitswissenschaftliche Weltsicht mehr gibt und für Bildungsprozesse die Fähigkeit des Perspektivenwechsels und das entsprechende Unterscheidungsvermögen konstitutiv sind (109f). Zugleich ist es ganz entscheidend, dass solche Weltzugänge jeweils ‚die’ Welt aus ihrer Perspektive konstruieren und modellieren (vgl. 111f).

In bildungstheoretischer Hinsicht hebt Dressler demgemäß „die Möglichkeit des Perspektivenwechsels“ (135) hervor. Dabei spielen religiöse Bildungsprozesse „nicht nur eine andere Perspektive in das Ensemble der allgemeinen Bildung ein, sondern tragen in sich selbst noch einmal die Differenz zwischen religiöser und wissenschaftlicher Weltsicht ein, indem sie den Wechsel zwischen religiöser Rede und religionstheoretischer Rede über Religion methodisch kontrolliert gestalten. Nicht zwei Wirklichkeiten werden damit postuliert, wohl aber die Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Betrachtung der einen Wirklichkeit“ (135). Für religiöse Bildungsprozesse ist insofern der Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive, zwischen religiöser Rede und Reden über Religion konstitutiv (vgl. bes. 147f). Allein es stellt sich m. E. die Frage, welche bildungstheoretischen Konsequenzen es nach sich zieht, dass zumindest im Kontext des Christentums religiöse Rede fließende Übergänge zu Reden über Religion aufweist, wie sich mit Verweis auf die Theologie des Paulus im Römerbrief exemplarisch belegen lässt.

Im abschließenden dritten Hauptteil „Religiöse Bildung: Orte und Lernformen“ (161-205) vermag Dressler vergleichbar zu den vorangehenden Themen treffsicher entscheidende Aspekte zu markieren: „Die Kirche als Bildungsinstitution“ (165-171), „Die Schule als Ort religiöser Bildung“ (171-185), „Religionsunterricht als Werteerziehung“ (185-190), „Religiöse Bildung: Standardisierbar?“ (191-196) sowie „Ausblick: Zur Didaktik religiöser Bildung“ (197-205).

Hervorgehoben seien an dieser Stelle Dresslers Ausführungen zur Religion am Lernort Schule, die für ihn im Anschluss an Thomas Ziehe ein Raum für „Probehandeln“ sowie „Probedenken“ darstellt, „der für religiöse Bildung erst dann richtig fruchtbar zu machen ist, wenn Religion als eine Praxis in den Blick genommen und in ihrer Performanz erschlossen wird“ (176). In diesem Sinne ist Religion nicht nur als Bewusstseinsphänomen in kognitiver Hinsicht, sondern auch „unter Einschluss ihrer kulturellen Objektivationen und Handlungsmuster zu verstehen“ (181). Dabei legt Dressler großen Wert darauf, dass die Vermittlung einer entsprechenden Partizipationskompetenz zwar nur im Blick auf eine konkrete Religionsgestalt denkbar, jedoch nicht „mit der Einübung in eine bestimmte (kirchliche oder andere) Religionspraxis (180f) zu verwechseln ist.

Seine differenzierte Sicht auf PISA und die gegenwärtige Standard- und Kompetenzdiskussion setzt sich konsequent fort im Blick auf die Standardisierbarkeit religiöser Bildung: Für diese gilt einerseits im besonderen Maße eine sehr eingeschränkte objektivierende Evaluierbarkeit, so dass stets die Diskussion um Grenzen der Standardisierbarkeit zu führen ist. Andererseits besitzt religiöse Praxis „eine konkrete, darstellbare ‚Außenseite’“ (192), so dass Teilkompetenzen von Partizipationsfähigkeit und evaluierende Aufgabenstellungen formuliert werden können, „in denen religiöse Wahrnehmungs-, Verstehens- und Deutungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsfähigkeiten (perzeptive, kognitive, performative, kommunikative Kompetenzen) beobachtet werden können“ (193). Hier wird im Vergleich zu früheren Publikationen Dresslers deutlich, dass seine dort geäußerte grundlegende Skepsis gegenüber der gegenwärtigen Kompetenz- und Standarddiskussion einer vorsichtigen Aufgeschlossenheit gewichen ist. Vielleicht wird Dressler im Fortgang dieser Diskussion auch seine in diesem Band geäußerte Skepsis ablegen, was die Evaluierbarkeit von Einstellungen anbelangt (vgl. 119). In jedem Fall dokumentiert er mit diesem Band seine Kompetenz, sowohl feinsinnige Unterscheidungen zu treffen, als auch einmal getroffene Unterscheidungen kritisch zu hinterfragen.

Resümierend bleibt festzustellen: Dresslers „Bildungsgedanken“ stehen auf Augenhöhe mit den herausragenden religionspädagogischen Publikationen von Karl Ernst Nipkow und Peter Biehl – und bereichern entsprechend die religionspädagogische Grundlagendiskussion zum Bildungsbegriff. Hier liegt eine unumgängliche Pflichtlektüre für alle vor, die sich mit dem Bildungsbegriff fundiert auseinandersetzen möchten.

Martin Rothgangel