Sabine Andresen: Einführung in die Jugendforschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 978-3-53417516-1, 155 Seiten, 14,90 Euro.
Warum sollen Lehrerinnen und Lehrer ein Buch zur Jugendforschung lesen? Weil, so gibt Sabine Andresen die Ansicht eines Jugendforschers aus den 1920er Jahren wieder, „die psychologische Forschung nicht Sache des einzelnen Lehrers sein könne, sondern diese bereits vor dem eigentlichen Unterrichtsgeschehen als Wissen zur Verfügung stehen und den Lehrern handhabbar dargeboten werden müsse„ (S. 68f.). Diese Einschätzung beschreibt auch heute noch die Defizite mindestens der universitären Ausbildung von Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrern.
Sabine Andresen, Jahrgang 1966 und seit 2004 Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bielefeld, hat mit ihrem Einführungsband diese Lücke ein klein wenig geschlossen. Das Buch ist von überschaubarem Umfang und schreckt nicht gleich durch epische Breite ab; vor allem ist es gut und verständlich geschrieben, hat, wie alle Bände der Reihe „Grundwissen Erziehungswissenschaft„, ein übersichtliches Layout, das mit wenigen fett gedruckten Kernbegriffen im Fließtext und den logischen Gedankengang nachziehenden Leitbegriffen in der Randspalte für eine hervorragende Lesbarkeit sorgt. Die breite Randspalte lässt sich aber auch gut für eigene Notizen nutzen. Wer mag, kann nach jedem Kapitel mittels der Fragen in einem grau unterlegten Kasten („Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel xy gelesen haben„) überprüfen, was vom Gelesenen „hängen geblieben„ ist.
Aber auch ohne solche Überprüfung wird die Leserin, der Leser behalten, was Pubertät von Adoleszenz unterscheidet, was ein Moratorium im Zusammenhang mit Jugendtheorien bedeutet, wovon manche Standardwerke der pädagogischen Literatur handeln und wie sie einzuordnen sind – etwa Rousseaus Entwicklungsroman Emile (1762), Sprangers Psychologie des Jugendalters (1924), Eriksons Jugend und Krise (1968) oder der von Karin Flaake und Vera King herausgegebene Sammelband Weibliche Adoleszenz (1992).
Immer sind Andresens Ausführungen eingebettet in den biografischen und kulturell-politischen Kontext, so dass sich nach der Lektüre des Buches zum einen ermessen lässt, welchen „akademischen und intellektuellen Verlust … die deutsche Wissenschaft durch den Nationalsozialismus und die bereitwillige Hingabe der deutschen Universitäten an Rassenwahn und Antisemitismus erlitten hat„ (S. 70). Zum anderen werden historische Linien aufgezeigt zwischen der bürgerlichen Jugendbewegung im „Wandervogel„ bis hin zur „Hitlerjugend„ sowie die Verwobenheit jeglicher Jugendforschung mit zeitgeschichtlicher Politik und der Entwicklung der Psychoanalyse.
Die Leserin, der Leser können so ein Überblickswissen erwerben, ein Netzwerk, in das die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, sei es aus Lektüre oder aus direkter Anschauung, eingeflochten werden können.
Das vorletzte Kapitel des Buches (S. 119-131) widmet sich der empirischen Jugendforschung im Prozess der Demokratisierung und Pluralisierung, hier werden vor allem die seit 1953 erscheinenden Shell-Studien thematisiert. Seit 1981 kennzeichnet die Shell-Studien methodisch eine Verknüpfung von quantitativen Forschungsmethoden (Fragebögen) mit qualitativen (narrative Interviews). Das letzte Kapitel schließlich (S. 131-141) befasst sich mit den Genderaspekten der modernen Jugendforschung.
Insgesamt wird eines deutlich: „Die„ Jugendlichen gibt es nicht. Und selbst wenn es sie gäbe: Das Verhältnis zwischen empirischen Ergebnissen und normativen Vorstellungen muss für die Erziehungswissenschaft wie auch für jede einzelne Pädagogin und jeden einzelnen Pädagogen immer wieder neu austariert und bestimmt werden. Dabei muss geprüft werden, inwieweit die eigenen Vorstellungen vom „Jugendalter„ beeinflusst sind von der je eigenen Jugend (und möglicherweise deren Mystifizierung oder Ablehnung), von der Verankerung der meisten heutigen Lehrerinnen und Lehrer im Bildungsbürgertum und von der Prägung durch die demokratische, konsumorientierte Nachkriegsgesellschaft der BRD.
Zu solchen selbstreflexiven Gedankengängen und zu weiterer Lektüre regt das Buch von Sabine Andresen an. Ihm seien viele Leserinnen und Leser gewünscht.
Bärbel Husmann