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Karin Finsterbusch und Michael Tilly (Hg.): Verstehen, was man liest. Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, ISBN 978-3-525-58012-7, 200 Seiten 19,90 Euro

Die Bibel dem Verstehen zu erschließen, bleibt eine stets neu wahrzunehmende Aufgabe. Dieser Thematik widmete sich eine Tagung von Bibelwissenschaftlern und Religionspädagogen an der Universität Koblenz-Landau, deren Vorträge (um einige weitere Beiträge ergänzt) jetzt in dem vorliegenden Sammelband veröffentlicht sind. Dabei geht es den Autorinnen und Autoren darum, „die grundsätzliche Bedeutung von historisch-kritischen Fragestellungen für das Verständnis biblischer Texte aus ihrer Forschungsperspektive und anhand von Beispielen aus ihren Forschungsfeldern aufzuzeigen“ (S. 12). Dies ist nach meinem Eindruck mit den vielfältigen Beiträgen in überzeugender Weise gelungen.
So betont Michael Wolter in seinen grundsätzlichen Überlegungen: Der historisch-kritischen Bibelwissenschaft kommt die Aufgabe zu, die Autonomie des biblischen Textes stark zu machen. Es geht darum, nach der Intention des Autors der Texte zu fragen und ihre existentielle Bedeutung aufzuzeigen. Im Rahmen der hermeneutischen Reflexion historisch-kritischer Forschung hebt Klaus Bieberstein hervor: Das Entstehen und das Verstehen der Texte lässt sich nicht gegeneinander ausspielen. Wenn man beispielsweise die geschichtlichen Entwicklungsprozesse im Gottesdenken biblischer Texte ernst nimmt, tritt das Besondere des Bekenntnisses zu dem einem Gott, wie es Deuterojesaja bezeugt, um so klarer hervor.

Für das Neue Testament hinterfragt Reinhard Feldmeier das vertraute Gottesbild von „Gottvater“. Ausgehend vom Gottesverhältnis Jesu gewinnt die neutestamentliche Rede von Gott, dem Vater, ihren Grund im Christusbekenntnis und hat sich erst dann – begünstigt durch die Nähe zu religiösen Vorstellungen im Hellenismus – mit dem Gedanken von Gott dem Schöpfer und Erhalter verbunden. Auch hier wird m. E. sehr deutlich, dass gerade durch die historische Betrachtungsweise zentrale Aussagen der neutestamentlichen Botschaft von Gott in den Blick kommen.

Weitere Beiträge behandeln einzelne Themen: Das Werden des Kanons biblischer Schriften mit aufschlussreichen Erkenntnissen der neueren Septuaginta- und Qumranforschung (Heinz-Josef Fabry), die Geschichte von der „Bindung Isaaks“ mit einer überraschenden Neuinterpretation (Thomas Staubli), die Erzählungen von der Verurteilung Jesu mit ihren unterschiedlichen Deutungen durch die Evangelisten (Ute E. Eisen), ein Forschungsüberblick über das Verhältnis des Johannesevangeliums zur Hermetik und die daraus sich ergebende Aufgabenbestimmung für die religionsgeschichtliche Methode (Frances Back).
In den religionspädagogischen Beiträgen befasst sich Elisabeth Reil mit der Frage nach dem historisch-kritischen Arbeiten im Religionsunterricht der Grundschule. Sie plädiert für ein „vorsichtiges Ja“ (S.168), entfaltet dies im Blick auf verschiedene Ziele und Unterrichtsvorschläge, u.a. durch einen einfachen synoptischen Vergleich zwischen den Kindheitsgeschichten des Matthäus- und des Lukasevangeliums.

Christian Cebulj stellt eine Unterrichtsreihe für die gymnasiale Oberstufe vor. Er konkretisiert sein Konzept des „identitätsbildenden Lernens mit der Bibel“ an grundlegenden Texten des Johannesevangeliums, um so ein vertieftes Bibelverstehen als auch ein vertieftes Selbstverstehen zu ermöglichen.
Insgesamt geben die vorliegenden Beiträge einen aufschlussreichen Einblick in Fragestellungen und einzelne Forschungsgebiete der heutigen Bibelwissenschaft. Vor allem aber zeigen sie, dass gerade durch historisch-kritische Methoden zentrale Aussagen der biblischen Botschaft in den Blick kommen und dem Verstehen erschlossen werden und damit auch für die Bibeldidaktik wesentliche Bedeutung gewinnen. So wünsche ich dem Buch viele interessierte und aufmerksame Leserinnen und Leser, die sich durch die vielfältigen Fragestellungen und Einsichten zum (erneuten) Wahrnehmen biblischer Texte und zur eigenen Urteilsbildung anregen lassen.

Gerald Kruhöffer

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2011

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