Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit, Wege aus der kollektiven Erregung.
Carl Hanser Verlag: München 2018,
ISBN 978-3-446-25844-0, 256 Seiten, 22,00 Euro
Fake-News, Gerüchte, Wahrheiten, Lügen, Skandale – jede Minute die mehr oder weniger subjektive Aktualität des Weltgeschehens über das Netz. Große Geschichten ganz klein oder kleine Geschichten, die vor zwanzig Jahren noch keinen interessiert hätten, ganz groß. Alles ist möglich, gedankenlos hochgeladene Videos können Existenzen zerstören, über das Internet organisierte Proteste können autoritäre Regime ins Wanken bringen. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt in seinem neuen Buch das Internet als Erregungsmedium, das es vermag, sowohl in der Politik als auch im Privaten zu einer „großen Gereiztheit“ zu führen.
Als ein Beispiel führt Pörksen die Geschichte der 13-jährigen russischstämmigen Lisa aus Berlin-Marzahn an. Sie verschwindet für einige Tage und wird nach eigenen Angaben von Flüchtlingen vergewaltigt. In Wahrheit hat sie Probleme in der Schule und traut sich nicht nach Hause. Im Netz verbreitet sich die erfundene Story rasant, wird millionenfach angeklickt. Der russische Staatssender „Pervyj Kanal“ greift die Geschichte auf. Die russlanddeutsche Community zieht gemeinsam mit rechten Gruppierungen vor das Kanzleramt; am Ende schaltet sich der russische Außenminister Sergej Lawrow ein und wirft den deutschen Behörden vor, den Fall zu verschleiern. Diplomatische Verwicklungen aufgrund von banalem Gehabe eines Teenagers.
Anhand solcher und ähnlicher Beispiele beschreibt Pörksen die Mechanismen unserer Mediengesellschaft, die Verluste von Autorität im Netz und die Allgegenwart von Skandalen, die das Nervenkostüm bewegen, verstören, ängstigen und reizen. In solchen Zeiten kommt der Tweet eines mental aus der Spur geratenen amerikanischen Präsidenten genau so bedeutsam wie die Rettung eines eingeklemmten Hundes aus einem Abwasserschacht daher. Seriöse Meldungen von Journalisten stehen neben selbst gebastelten Nachrichten von Pegida-Anhängern. Jede und jeder wird zum Sender. Das Plebiszit der Klickzahlen und Likes entscheidet darüber, was relevant und interessant erscheint. Entsprechend beschreibt Pörksen das „Geschehen auf dem Planeten“ als „Hitliste des Merkwürdigen, Bizarren, Aufregenden.“
Als Konsequenz einer sich spannend lesenden Analyse unserer Medienwelt plädiert Pörksen für die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft. Wir alle müssen zu Journalisten werden und Journalismus als allgemeine Lebensform begreifen. Generalisierte Skepsis und Wahrheitssuche sind für Pörksen konsequente Antworten auf Facebook, Google und Co. Medienbildung wird damit zu einer unverzichtbaren Kulturtechnik und zu einer wesentlichen Stütze unserer Demokratie. Entsprechend fordert der Autor das Schulfach Medienethik. Die Fragen, welches Fach er dafür streichen will und womit die Schülerinnen und Schüler sich in diesem Fach über viele Jahre beschäftigen sollen, bleiben allerdings unbeantwortet. Jedoch wird anhand der Analyse deutlich, dass das Warten auf ein neues Fach zu lange dauern würde und Fächer wie z.B. Politik, Religion, Geschichte, Deutsch und Ethik im Unterricht die Digitalisierung der Medien wesentlich stärker als bisher kritisch begleiten müssen. Nicht allein zur Vorbereitung eines solchen Unterrichts ist die Lektüre des Buches absolut empfehlenswert.
Dietmar Peter