Jeder, der es sich zur Aufgabe macht, in Klassen zu unterrichten, die als Sammelbecken für Schüler fungieren, die bisher durch alle Maschen der Schule gefallen sind und die dabei einen scheinbar endlosen Weg des Leids mit den eigenen Misserfolgen erduldet haben, weiß, dass diese Arbeit - neben den viel zu häufig vergessenen Erfolgen - nicht selten mit Verletzungen und Zweifeln an den eigenen pädagogischen Fähigkeiten verbunden ist. Besonders problematisch stellt sich für viele die Tatsache dar, dass Schüler, die über ein Jahrzehnt, oft aus Hilflosigkeit, mit schnell hingeworfenen Diffamierungen verletzt und gekränkt wurden, die die volle Breitseite des geistigen Bizeps einiger Lehrer zu spüren bekommen haben und damit klein gemacht wurden, an ihrem Hass derart gewachsen sind, dass sie zum Teil gewaltige Größen erreichen. Dieses zum Teil von Schule selbst herangezogene Phänomen scheint derart bedrohlich, dass Lehrer als Ausweg immer wieder nicht die naheliegende Alternative - nämlich eine Veränderung der pädagogischen Arbeit für die Obenbeschriebenen - wählen (hier scheint eine Anfrage an das eigene Selbstverständnis noch zu bedrohlich zu sein), sondern in alter Tradition auf den Erfolg von "Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen" setzen. In einer solchen Schule lernen die Schüler dann, was sie ohnehin schon wissen, nämlich, dass der Stärkere gewinnt, während der Schwächere das Nachsehen hat. Am Ende eines solchen Machtkampfes sind dann die Verluste zu beklagen: Auf der einen Seite stehen schlechte Noten, kaputte Schulkarrieren und stigmatisierte Schüler, und auf der anderen Seite steht ein endloser Stress, zweimal pro Woche eine Therapiestunde, ein psychosomatisches Leiden oder gar eine vorzeitige Pensionierung. dass dieses nicht zwangsläufig der Gang der Dinge sein muss, bedarf für manche einer scheinbar kaum zu bewältigenden Denkanstrengung. Setzt man sich ihr aus und ist bemüht, den Kreislauf von Gewalt (seitens des Schülers) und Gegengewalt (seitens der Schule) zu durchbrechen, erlebt man zum Teil Erstaunliches.
Eigentlich war das Thema "Gewalt und Waffen" nicht geplant. Einige Ereignisse machten ein Angehen der Thematik unumgänglich. Das, was sich daraus entwickelte, ist ein Lehrstück in Sachen Gewalt.
Wir
Wir, das heißt die Klasse BVJ II (Berufsvorbereitungsjahr) und ich, haben bereits ein halbes Jahr gemeinsame Erfahrungen miteinander gemacht. Einige davon waren schmerzhaft, wenige hoffnungslos, die meisten haben uns weiter und einander näher gebracht. Die Klasse BVJ II besteht aus 14 Schülern: sechs Deutsche, drei Türken, zwei Spätaussiedler ("Russen", so die Schüler), ein Kurde, ein Libanese und ein Serbe. Ich unterrichte die Klasse einmal in der Woche zwei Stunden im Religionsunterricht und zwei Stunden in der Wahlpflichtarbeitsgemeinschaft "Bootsbau". Die längste gemeinsame Zeit haben wir auf einer fünftägigen Klassenfahrt verbracht, die uns in die Nähe von Bergen-Belsen führte und während der wir Fundamentreste des alten Konzentrationslagers freilegten und uns intensiv mit dem Geschehen in Bergen-Belsen währende der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzten. Vermutlich entstand hier die Nähe, die folgendes möglich machte.
1. Akt: Birols Statement während einer Klassenkonferenz
"Passen Se auf, das ist doch so. Wenn man am Wochenende irgendwo hingeht, muss man aufpassen, dass man nicht angemacht wird. ...Geh' ich letztens in die Disco, kommt da so'n Typ, dem bin ich nicht grad' sympathisch, der sucht dann 'nen Grund. Meist findet so einer dann auch was. Macht er mich wegen meines T-Shirts an - war eins mit 'Meat Loaf' drauf. "Scheiß Pißtyp" sagt der zu mir. Wer mich blöd anmacht, kriegt 'n Brett. Dann standen auch schon ein paar drumrum und dann ging's los. Der Idiot macht mich jetzt nicht mehr an. ... Meist ist das so: Wenn der andere nicht so viel drin hat, hat er meist noch ein Messer oder 'ne Knarre dabei, und dann geht es gut zur Sache. Das Wichtigste ist, dass du dann auch was hast, sonst bist du angeschissen. Das kann hier in der Schule auch passieren, die meisten hier haben was, Nunchakus, 'n Butterfly, 'ne Gaspistole oder so was..."
2. Akt: Das Urteil und die Folgen
Nachdem Birol mehrfach wegen "unerlaubten Waffenbesitzes" in der Schule ermahnt worden war, entscheidet die Klassenkonferenz, ihn für vier Wochen vom Unterricht auszuschließen. Die Lehrerschaft atmet auf, und Birol verlässt frustriert das Lehrerzimmer. Beim Rausgehen ruft er noch in die erleichterte Runde "Wenn ich einen von Euch draußen erwische ...". Für ihn bedeutet der Raussschmiss die einmonatige Entlassung in eine wahrscheinlich öde und erlebnisarme Lebenswelt, die ihm kaum Möglichkeiten bietet, seine affektiven Bedürfnisse adäquat auszuleben. Birols Motiv, sich zu bewaffnen, hat sich durch diese Maßnahme nicht verändert. Es wird sich vielleicht in den nächsten langweiligen Wochen verstärken, und er wird mit noch ein wenig mehr Hass auf die Schule, als er ohnehin schon in sich trägt, vier Wochen später wieder zum Unterricht antreten.
Exkurs
Gewalt als gelebte Männlichkeit ist seit jeher bekannt und als solche in der Entwicklung unserer Gesellschaft kein neues Phänomen. Dieses belegt allein die Tatsache, dass immer wieder Generationen von jungen Männern im zivilisierten 20. Jahrhundert staatlicherseits zur Gewaltanwendung mit der Waffe angehalten werden. So sind Zweifel, dass körperliche Stärke ein Definitionselement traditioneller Männlichkeit ist, unangebracht. Besonders gilt dieses für Männer, die ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit verdienen müssen. Das daraus resultierende Bewusstsein körperlicher Stärke grenzt sich traditionell gegen Intellektuelle ab. Damit wird männliche Körperlichkeit für eine Vielzahl von Männern zu einer wesentlich identitätsstiftenden Größe. Diese tradierte Rolle ist durch die Neudefinition der Geschlechterrollen und durch die zunehmende Entwertung körperlicher Arbeit in die Krise geraten. Falsch ist nun die Annahme, dass sich sich daraus ein friedlicheres veränderndes, sozial akzeptiertes, gesellschaftlich hoffähiges Konzept von Männlichkeit zwangsläufig entwickelt hätte, an dem sich gegenwärtige Jugendliche orientieren können. Die Notwendigkeit, die Geschlechterrolle zu definieren besteht jedoch weiter und geschieht in einer Definition der Identität im Rückzug auf fundamentalistisch überhöhte traditionelle Identitäten. Die Medien liefern hier Vorbilder, die z.B. von den Männern im BVJ besonders bereitwillig angenommen werden, da sie ohnehin zu den Menschen in unserer Gesellschaft gehören, die nur sehr rudimentär Ansätze zu eigenen Stil- und Verhaltenselementen zeigen. So wird die Praxis der Gewalt für viele zu einer Möglichkeit, gelebte Männlichkeit zu praktizieren und Geschlechtsidentität zu finden. Die Folge auf institutioneller Seite ist eine zur Zeit zum Teil überhitzte Diskussion in den Schulen, den Elternhäusern, den Gerichten und Medien, die in der Regel in institutionellen Zuständigkeiten die Lösung sieht. Eine reflektierte Auseinandersetzung, z.B. mit der Entwicklung männlicher Identität in unserer Gesellschaft, lässt auf sich warten. Daraus ergibt sich, dass die Auseinandersetzung mit bewaffneten Schülern nicht ihr Ende darin finden darf, dass die Institution Schule, gestützt durch Waffenerlasse, den Schülern ein für sie bedeutsames identitätsstiftendes Utensil abnimmt und sie dann allein lässt. Ein solches Handeln nutzt einzig dem Waffeneinzelhandel - die Wiederbewaffnung ist vorprogrammiert. Die Aufgabe der Schule sehe ich vielmehr in einer Vermittlung von Orientierungs- und Handlungssicherheit, in einer stärkeren Hinwendung zu den Bedürfnissen junger Männer und in der Signalisierung von Gesprächsbereitschaft, die den Schüler als Gesprächspartner ernst nimmt und nicht zwangsläufig zu Sanktionen führt. Im einzelnen meine ich damit die Vermittlung von Kompetenzen und Ressourcen, die es jungen Männern ermöglichen, Sicherheit in bezug auf ihre Lebensplanungen zu erleben. D.h. Schule hat Hilfen zur Bewältigung existenziell relevanter sozio-ökonomischer und materieller Lebensbedingungen sowie Hilfen zum Aufbau von Sicherheit in sozialen Bezügen und damit identitätsfördernde Hilfen anzubieten. Gelingt dieses, wird beim Schüler die Kompetenz zur Selbstorganisation des eigenen Lebens gestärkt, und er wird zunehmend in die Lage versetzt, Realitätskontrolle, Durchsetzungsvermögen und Selbstwert aus gewaltfreien Formen der Lebensbewältigung zu erleben. Desweiteren hat Schule durch eine stärkere Berücksichtigung der Motive für unerwünschtes Schülerhandeln Räume bereitzustellen, in denen junge Männer andere, angemessenere Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Motive ausprobieren können. Damit dieses gelingt, ist von Seiten der Schule und hier konkret von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer eine Gesprächs- und Handlungsbereitschaft Voraussetzung, die den Schüler nicht ausgrenzt, sondern im Gegenteil eine Art Anwaltschaft für ihn übernimmt.
3. Akt: Dienstagmorgen, 1. und 2. Stunde Religion
Nachdem ich mehrer Tage darüber nachgedacht habe, wie ich das Thema "Waffen" bestmöglich im Unterricht angehe, stellt sich bei mir Ratlosigkeit statt einer konstruktiven Idee ein. So begebe ich mich weitgehend unvorbereitet am Dienstag in die erste Doppelstunde. Ich werde schon weit vor der Tür begrüßt. Zwei Schüler fragen, ob sie den Porno, den Mirko mitgebracht habe, sehen könnten. Ich antworte nur, dass ich für heute etwas Besseres vorbereitet habe. Die Schüler stöhnen und laufen in den Klassenraum. Als ich den Raum betrete, empfängt mich ein Geschrei, aus dem ich mit Mühe die Worte "... hab' heute keinen Bock ..." heraushöre. In den hinteren zwei Reihen sitzen wie aufgereiht zwölf Schüler, Baseballmützen tief ins Gesicht gezogen, einige haben die Füße auf dem Tisch, andere wiederum hören laut Walkman. Nach einigen Minuten tritt relative Ruhe ein. Mit der Begrüßung fällt mir wie ein Glückstreffer der Schlüsselsatz für das, was in den folgenden Wochen passieren sollte ein: "Im Fernsehen haben sie gesagt, dass jeder fünfte Berufsschüler mit einer Waffe zur Schule kommt." Unmittelbar ernte ich Zustimmung. "Klar, das weiß doch jeder," ruft Cecim in gebrochenem Deutsch in den Raum und Thomas fügt hinzu, "Was meinen Sie, was sonst hier abgehen würde, wenn die anderen nicht wüssten, dass man sich wehren kann". Mirko wirf ein, dass er am Wochenende nur mit seinem Schlagring 'rausgehe. Ich stelle mich wieder ahnungslos und sage "Stellt euch mal vor: Wenn jeder fünfte Jugendliche an der Berufsschule bewaffnet ist, dann müssten hier in dieser Klasse ja auch zwei mit Waffe da sein." Diese von mir bewusst in naivem Ton hervorgebrachte Bemerkung löst in der Klasse ein heftiges Gelächter aus. "Was glauben Sie denn, was hier los ist" ruft Sven, "die meisten von uns gehen doch nicht mehr ohne so was aus dem Haus. Fragen 'Se mal in der anderen BVJ-Klasse, da ist noch mehr los!" Ich zeige mich überrascht und beteuere, dass ich mir das gar nicht vorstellen könne. "Wir können unsere Sachen ja mal 'rausholen, dann werden 'Se uns glauben" ruft Thomas daraufhin in den Raum. Mirko fällt ihm fast ins Wort "Du hast se wohl nicht alle, wenn der sieht, dass einer von uns ein Messer oder so was mithat, muss er es uns wegnehmen - stand doch auf diesem Wisch, den wir hier am Anfang des Schuljahres unterschreiben mussten. Waffen mitbringen is' nich' und wer sich nicht dran hält, fliegt ... haben wir ja bei Birol gesehen."
Ich erkläre den Schülern, dass wir ja hier auch eine andere Verabredung treffen könnten und schlage vor, dass ich hinausgehe und die Schüler dann ihre Waffen auf einem Tisch zusammenlegen. Wenn ich dann wieder in die Klasse käme, wüsste ich nicht, von wem die betreffenden Waffen seien und könnte, auch wenn ich das wollte, keine große Sache daraus machen. Allerdings könnten wir dann überprüfen, ob das Fernsehen recht habe oder ob die Schüler bloß "'rumgesponnen" hätten. Am Ende der Stunde würde ich dann wieder hinausgehen und jeder könnte seine Waffe wieder mitnehmen.
Die Schüler sind mit diesem Vorschlag sofort einverstanden. Ich vermute, dass sie sich ein wenig dadurch getroffen fühlen, dass ich vorgebe, ihnen bezüglich ihrer Bewaffnung nicht zu glauben. Es wird noch kurz besprochen, wie lange ich draußen warten solle, und dann werde ich hinausgeschickt. Nach etwa fünf Minuten werde ich von Thomas, dem Klassensprecher, wieder hereingeholt. "Fallen 'Se jetzt aber nicht in Ohnmacht" sagt er und fügt hinzu, "wir haben ja gesagt, dass hier mehr als zwei Messer in der Klasse sind".
In der Tat - auf dem Lehrerpult liegen sehr ordentlich nebeneinander vier Messer und ein Nunchaku. Zwar hatte ich mit einem ähnlichen Ergebnis gerechnet, doch zeige ich mich sehr erstaunt und überrascht. Nun ergibt sich eine längere Diskussion über den Sinn des Sich-Bewaffnens. Die meisten Schüler beteuern, dass sie sich nur zu Verteidigungszwecken eine Waffe zugelegt hätten und malen Situationen, in denen sich ihr Motiv bestätigt, in allen möglichen Varianten aus. Ich bemühe mich, mich in diesem Gesprächsgang möglichst zurückzuhalten und den Schülern sehr viel Zeit für ihre Geschichten zu lassen. Die meisten Geschichten haben, wahrscheinlich, weil sie schon sehr oft erzählt wurden, einen gewissen Legendencharakter angenommen. Obwohl vieles von den Schülern eher verklärt dargestellt wird, ist es mir wichtig, ihnen ihre Geschichten zu lassen. Ich beschränke mich auf gelegentliches Nachfragen. Am Ende der Stunde bedanke ich mich bei der Klasse und sage, dass ich heute sehr viel von ihnen gelernt und sie mir sehr weitergeholfen hätten. Ich erzähle den Schülern dann von einem Kurs für Lehrerinnen und Lehrer zum Thema 'Gewalt in der Schule', den ich in der nächsten Wochen durchführen würde und dass ich durch die Klasse viele wichtige neue Anregungen erhalten hätte. Die Schüler fühlen sich durch diese Äußerung bestätigt und signalisieren mir ihre entsprechend positive Stimmungslage durch ein paar Sprüche: "Seh'n 'Se, zwar dumm geboren, doch bei uns noch was dazugelernt". Die Stimmung am Ende der Stunde ist derart gut, dass ich es wage, die Schüler zu fragen, ob sie mir ihre Waffen für den Lehrerfortbildungskurs, sozusagen als Anschauungsmaterial, leihen. Ich würde dann im Gegenzug für die Klasse ein Bodybuildingturnier organisieren (Die Klasse hat dieses schon mehrmals angesprochen, da sie weiß, dass ich Turniere dieser Art in den vergangenen Jahren für BVJ-Klassen organisiert habe). Hier hätten die Schüler dann eine gute Möglichkeit zu zeigen, was sie 'drauf haben'. Die Klasse signalisiert lautstark ihre Zustimmung, und das Verleihen der Waffen scheint nun nur noch eine Formsache zu sein. Ich habe das Gefühl, dass sich die Klasse ein wenig für meine Lehrerfortbildung mitverantwortlich fühlt. Wir verabreden, dass ich die Waffen in vierzehn Tagen wieder mitbringe.
Bodybuilding als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit
In den letzten Jahren habe ich mit BVJ-Schülern immer wieder ausgesprochen gute Erfahrungen mit Bodybuildingturnieren gemacht. Ziel der Turniere war es, den Schülern faire Mittel für die symbolische Arbeit des kulturellen Ausdrucks und der kulturellen Identitätsfindung bereitzustellen. Es ging in erster Linie dabei um ein symbolisches Durcharbeiten und kreatives Erproben von Alltagsbedeutungen, die auf das bezogen sind, was die Männer im BVJ in naher Zukunft u.a. in unserer Gesellschaft wesentlich ausmachen wird. Die Initiierung eines solchen Ensembles symbolischer Mittel und Verbindungen strahlt für die Schüler sowohl sozial nach außen als auch somatisch nach innen. Damit haben die Schüler die Möglichkeit, den Körper (und mit ihm ein bestimmtes Selbstgefühl) zu reflektieren, zu regulieren und zu entwickeln.
dass eine solche Arbeit nicht für mich allein im Religionsunterricht zu leisten ist, liegt auf der Hand. So spreche ich mit dem Sportlehrer der Klasse, der daraufhin ein dreimonatiges Krafttraining für die Klasse anbietet. Am Ende der drei Monate soll das Turnier stehen. Der Gewinner soll zwei Freikarten für ein Rockkonzert erhalten.
4. Akt: Schönen Feierabend wünscht BVJ II
Als ich zwei Wochen später die Klasse wieder betrete, werde ich mit lautstarkem Gegröle empfangen. "Na, wie ist Ihr Unterricht gelaufen, konnten 'Se denen was beibringen, oder waren die genauso blöd wie wir." Ich berichte ausführlich von dem Lehrerfortbildungskurs und sage den Schülern, dass es gut war, dass ich so viel von ihnen zum Thema erfahren habe und dass der Kurs ohne dieses Wissen nicht so gut gelaufen wäre. Weiterhin erzähle ich, dass das "Anschauungsmaterial" besonders gut gewirkt habe, vor allem deshalb, weil viele Lehrer so etwas nicht vermutet hätten. Die Schüler fühlen sich sichtbar geehrt und klopfen ein paar entsprechende Sprüche.
Das Thema der aktuellen Stunde ergibt sich dann organisch aus dem vorlaufenden Gespräch. Im wesentlichen diskutiere ich mit den Schülern die Erfahrungen, die sie in den letzten zwei Wochen ohne ihre Waffen gemacht haben. Dabei stellt sich heraus, dass kein Schüler in dieser Zeit in eine Situation gekommen ist, die ein Sich-Wehren mit einer Waffe notwendig gemacht hätte. Ich bemühe mich, diese Erkenntnis immer wieder zu verstärken. Gegen Ende der Stunde sprechen wir über das Krafttraining, das in der letzten Woche erstmalig im Sportunterricht stattfand. Thomas stöhnt: "Hinterher brauchte ich fast 'ne ganze Dose Deo, so habe ich geschwitzt." Die anderen Schüler bestätigen das das Training in besonderer Weise schweißtreibend war, aber es habe auch eine Menge gebracht. Raphael kommt zu mir, zieht den Ärmel seines Sweatshirts hoch und sagt: "Hier, da staunen 'se was?" Ich werfe ein, dass die Schüler bei einem so intensiven Training bestimmt in drei Monaten eine Spitzenfigur hätten und ich mich schon auf das Turnier freue. Am Ende der Stunde packe ich die Waffen aufs Pult und sage, dass ich eine Bitte habe. Da ich in den nächsten drei Monaten noch verschiedentlich zum Thema "Gewalt in der Schule" referieren werde und die Waffen mir so gut dabei geholfen hätten, wäre es schön, wenn ich sie noch behalten könnte. Daher mache ich den Vorschlag, dass ich hinausgehe und nur die Schüler ihre Waffe holen, die meinen, dass sie körperlich nicht genug drauf hätten und sie daher für diese Zeit benötigen. Die Schüler akzeptieren den Vorschlag und ich verlasse den Raum. Nach ca. zwei Minuten werde ich von Salah hereingeholt: "Sie werden sich noch wundern, wenn Sie uns beim Turnier erleben." Die Waffen liegen allesamt noch auf dem Tisch. Ich bedanke mich und sage, dass ich bei den hier anwesenden Männern auch nicht erwartet habe, dass einer eine Waffe bräuchte. Mehrere Schüler heben daraufhin die Arme und zeigen auf ihre Muskeln. Thomas sagt: "Hier (dabei zeigt er auf seinen muskulösen Arm) nicht hier (dabei zeigt er auf den Kopf)". Beim Abschied wünsche ich den Schülern alles Gute fürs morgige Training. Als ich am Ende des Schultages nach Hause fahren will steht mein Auto nicht so, wie ich es am Morgen geparkt habe, sondern quer in der Parklücke. An der Windschutzscheibe klebt ein Zettel: "Schönen Feierabend wünscht BVJ II".
Körperbewusstsein
Die Religionsstunden der folgenden Wochen sind geprägt von einer Vielzahl Situationsschilderungen, in denen die Schüler Provokationen und Konflikten waffenlos gegenüber standen. Die meisten haben ein nahezu ungestümes Bedürfnis den anderen und mir mitzuteilen, wie es ihnen in der Disco, im Jugendtreff, auf der Straße, in der Schule usw. ohne Waffen ergangen ist. Die Erlebnisberichte nehmen einen breiten Raum ein, und wir entwickeln gemeinsam Lösungsstrategien für bestimmte Situationen und spielen sie im Rollenspiel durch. Dabei habe ich das Gefühl, dass die Schüler sich der Stärke bewusst werden, Konflikte nicht zwangsläufig mit Gewalt lösen zu müssen. Begünstigend wirkt sich dabei das Bodybuilding-Training aus, das den Schülern Sicherheit im Bewusstsein der Stärke ihres Körpers gibt und ihnen das Gefühl nimmt, selbige immer wieder in Gewaltsituationen neu unter Beweis stellen zu müssen.
Nach 3 Monaten findet als Höhepunkt des jährlichen Schulfestes das Bodybuilding-Turnier der Klasse BVJ II statt. In der Jury sitzen der Schulleiter, zwei Sportkollegen und zwei SV-Vertreter. Durch eine für die Schüler relativ gewichtige Besetzung der Jury gewinnt das Turnier weitere Bedeutsamkeit. Während des Turniers erhalten alle Darbietungen viel Beifall und es wird auch deutlich, dass die Schüler in den vergangenen Wochen im Sportunterricht hart gearbeitet haben. Am Ende gewinnt Mirko das Turnier. Er erhält wie verabredet zwei Freikarten für ein Rockkonzert im Niedersachsenstadion in Hannover. Alle Schüler, die am Turnier teilgenommen haben, erhalten im Anschluss an die Siegerehrung vom Schulleiter eine Urkunde.
Konsequenzen für die Arbeit mit benachteiligen Schülern
Abschließend ist anzumerken, dass trotz der vielen oder gerade wegen der vielen Zufälligkeiten die beschriebene Arbeit am Thema "Waffen" besonders erfolgreich wurde. Die sich daraus ergebenden Hinweise auf zukünftige Projekte lassen sich vielleicht wie folgt zusammenfassen: Will man sich effektiv den Problemen der Schüler im BVJ annehmen, ist es unerlässlich, Distanz abzubauen und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Auf diese Weise gelingt es, sich den Besonderheiten und der gänzlich anderen Kultur der Jugendlichen zu nähern. Aus dieser Nähe bestimmen sich die Themen, was auch bedeuten kann, dass ein erst kürzlich vorbereitetes Thema in der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit den Schülern nicht bearbeitet wird, weil am gestrigen Tag für einen oder mehrere Schüler wesentliches passiert ist, das auf Aufarbeitung dringt und bei Nichtberücksichtigung die ganze Klasse blockiert. Es geht in einem so angedeuteten Unterricht darum, die Probleme der Schüler ernster zu nehmen als die Probleme, die sie damit der Schule bereiten. Letztendlich bedeutet das, die Schüler ein kleines Stück auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen Orientierungs- und Handlungssicherheit zu vermitteln. Gelingt dieses, wird Schule zu einem Lebens- und Erfahrungsraum, der den Schülern Möglichkeiten zum Lernen und zum Sich-Bewähren bereitstellt.
Bleibt nachzutragen, dass Mirko am Ende des Schulfestes zu mir kommt und sagt: "Ich wollte ihnen im Namen der Klasse sagen, das 'se die Messer und so behalten können. Sie können ja einen dafür bei unserer Abschlussfete ausgeben." Dieses habe ich getan.
Literatur:
- Dressler, Bernhard: Extremismus und Schule - wenn Belehrung nichts gegen Erfahrung ausrichtet. In: Loccumer Pelikan, 1/93, S. 6-16
- Hentig, Hartmut von: Die Schule neu denken. München 1993
- Krafeld, Franz Josef; Möller, Kurt; Müller, Andrea: Jugendarbeit in rechten Szenen. Bremen 1993
- Möller, Kurt: Jugend - Gewalt - Rechtsextremismus. Von der Empörung zum Handeln. In: Posselt, Ralf-Erik; Schumacher, Klaus: Projekthandbuch: Gewalt und Rassismus. Mühlheim/Ruhr 1993
- Peter, Dietmar: Störungen als Chance. Loccum m1994
- Scherr, Albert: Gewalt als Problem - Pädagogik als Lösung. In: Pädagogik, 46. Jahrgang, 3/1994, S. 25-28
- Schubarth, Wilfried: Berichte von der Gewaltfront. In: Pädagogik, 46. Jahrgang, 3/1994, S. 21-23
- Sielert, Uwe: Jungenarbeit. Weinheim, München 1989
- Willis, Paul: Jugend-Stile. Zur Ästhetik einer gemeinsamen Kultur. Hamburg, Berlin 1991