Produktive Fremdheit? Zum Potenzial performativer Didaktik in interkultureller und interreligiöser Perspektive

Von Silke Leonhard

 

Vor kurzem habe ich in einer Seminartagung TRIMUM 1 kennengelernt – ein Projekt zum interreligiösen Musizieren mit Stimmen und Klängen aus verschiedenen Religionen und Kulturen. Interkulturell war in diesem Zusammenhang vor allem die Mixtur unterschiedlich gewachsener religiöser Musikstile: Das Singen und Hören der Mischung fremder und vertrauter Klänge aus den drei Religionen Christentum, Judentum und Islam versetzte uns in eine eigenartig angeregte Stimmung und sorgte bei mir für wachsendes Interesse an einem besonderen Modus der Wahrnehmung von Fremdem.

Der Umgang mit Fremdheit – und ihrer Angst davor – spielt eine große Rolle für die Gestalt(ung) unseres Landes und unserer Gesellschaft und Kirche; Xenophobien senken die Schwelle zu radikalen Einstellungen und Überzeugungen. Performative Religionsdidaktik, die nach wie vor breit rezipiert und kritisch diskutiert wird, hat in sehr unterschiedlichen Facetten Zugänge zu Religion geprägt, die Wahrnehmung, Inszenierung und Gestaltung in den Mittelpunkt stellen.2 Die Frage, wie weit das Potenzial performativen Lernens und Lehrens auch in Bezug auf interreligiöse Zusammenhänge und eine pädagogische Kultur der Anerkennung in Schule – und letztlich auch in Bezug auf Öffnungen von Gemeinde – reicht, ist eine der gegenwärtigen Herausforderungen. 3

Inspiriert von der religionsästhetischen Wirkung der Arbeit mit TRIMUM, will ich auf der Grundlage phänomenologischer Gedanken zu Fremdheit auf die benannte Herausforderung mit einigen Gedanken zum Weiterdenken performativer Religionsdidaktik antworten.




Fremdheit und Lernen

Was Fremdheit angeht, habe ich viel von Bernhard Waldenfels gelernt. Seine umfassende Phänomenologie des Fremden bildet den Grundstein für eine responsive Ethik, d.h. eine Ethik, die darauf setzt, dass man auf Fremdes, Unsagbares, Unverfügbares antwortet. Was dies für das berufliche Handeln als Religionslehrkraft bedeutet, darauf habe ich an anderer Stelle hingewiesen. 4 Hier geht es mir vor allem darum, was diese Gedanken zu Fremdheit, einer anregenden Herausforderung des Lebens, als zu begreifendes Potenzial für das Lernen und Lehren von Religion bedeuten kann.
Waldenfels’ philosophische Basis bildet die Intersubjektivität, die für ein Verständnis von Leben, Wahrnehmung und Handeln in der „Ordnung der Dinge“ und im Umgang mit Fremdheit maßgeblich ist. 5 Der Mensch ist ein Grenzwesen; er bewegt sich stets nicht nur zwischen verschiedenen Räumen, Welten, Zonen, sondern letztlich zwischen sich selbst und dem Fremdem. Zu seinem Grenzgängertum gehört ein unaufhebbarer Riss in jeglichem Leben zwischen Fremdheit und Selbstheit. Es gehört also zum Leben, sich selbst und anderen in gewissem Maße fremd und entzogen zu sein. Der Riss, einer Erfahrungsdimension von Unterbrechung ähnlich, macht in diesem Zwischen die Erfahrung einer radikalen Unverfügbarkeit. Diese tastet alle gegebenen Ordnungen an – und hier beginnt die Herausforderung. Denn die Fremdheit lässt sich nicht durch Grenzziehungen von mir selbst sauber abtrennen; sie ist mir ja in gewisser Weise entzogen, und das hat auch mit mir zu tun.

Der Umgang und demzufolge auch das Lernen an Fremdheit setzen also bei der Erfahrung des Fremden an; sie bringt uns zurück zu unserer eigenen Erfahrung und geht über in ein Fremdwerden der Erfahrung selbst. Der Stachel, den etwas mir Fremdes bei mir erzeugt, führt zu Situationen, in denen ich gefragt bin, darauf einzugehen, „ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder gar zu verleugnen“. 6
Fremdes ist auch deshalb fremd, weil es unausweichliche Ansprüche an mich selbst gibt, die nicht als absolut zu verklären sind, denen ich erst recht nicht einfach ausweichen und die ich auch nicht verzwecken kann. Aber die Herausforderung besteht darin, Fremdheit mit der Notwendigkeit kreativen Antwortens zusammenzudenken.

Das Fremde überschreitet den Raum des (mir) Möglichen; in ihm kann ich damit auch die gelebte Unmöglichkeit sehen. Als Mensch bin ich nie nur in, bei und mit mir selbst, sondern von vornherein auf den Anderen verwiesen – und darin liegt im Unterschied zur Fremdheit bereits eine Beziehungsebene zwischen Anderem und Eigenen. Von daher sind Fremdheit und Andersheit zu differenzieren: Zur Wahrnehmung von Fremdheit gehört das unterscheidende und wahrnehmende Selbst; die Unterscheidung z. B. von Äpfeln und Birnen bedeutet noch keine Fremdheit. Die Wahrnehmung des Selbst, meiner Selbstheit und Eigenheit jedoch setzt Grenzziehungen voraus, die ein Draußen und ein Drinnen voneinander absondern und damit Ein- bzw. Ausgrenzungen vornehmen. An der Stelle ist wichtig zu sehen: Wie geschieht der Übergang von Fremdheit zu Interesse, wie geschieht Begegnung, Lernen und wie schließlich religiöses Lernen?




Räumliche Fremdheit – Reisen und Erkunden in teilnehmender Beobachtung


Es macht einen Unterschied, ob eine Inszenierung von der Imagination ausgeht: „Stell dir vor, du kommst vom Mond auf die Erde und betrittst einen Kirchenraum“ oder ob die Erstbegegnung mit einem Kirchenraum für eine Erdenbürgerin stattfindet. Es macht auch einen Unterschied, ob die Erdenbürgerin aus den jungen Bundesländern und einer Gegend kommt, in der die (oft „vererbte“) Ablehnung von Religion die Haltung prägt oder ob es noch eine kulturell hohe Affinität gibt zu religiösen, ja geheiligten Formen.

Erstaunlich ist, dass es gerade die Kirchengebäude sind, die auch in den jungen Bundesländern trotz aller Ablehnung von Religion erhalten und gepflegt werden sollen – ein Hinweis darauf, dass auch nicht-religiöse Lebenseinstellung entweder Raum für potenzielle Religion braucht oder aber zumindest religiös geprägte Räume nicht automatisch abstößt.

Die Eindrücke in den jungen Bundesländern zeigen es an unterschiedlichen Stellen: Kirchenräume werden nicht als Gottesdiensträume genutzt, aber sie sind den Menschen wichtig (geworden). Diese Räume erzeugen nicht selbstverständlich mehr die Fremdheit, von der Kirchenpädagogik zu Recht an vielen Orten ausgeht. Fremd ist eher das, was in den Räumen passiert. Touristen stürmen im Sommer in den Städten in Kirchengebäude, weil sie Ruhe finden. Das Erleben gottesdienstlicher Zeremonien und Liturgien lässt manche jedoch zuweilen staunen oder gar den Kopf skeptisch schütteln, weil es z. B. komisch, ja befremdlich ist, sich dem Mann im Gewand entsprechend zu einem unsichtbaren Gegenüber zu verhalten. Was er zu sagen hat, wird noch befremdlicher, wenn und weil es mich als nicht religiös geprägten Menschen vermutlich nicht (be)trifft – wenn ich dem in einer entsprechenden Haltung also gewissermaßen apathisch begegne. Wer jedoch, aus einer anderen Haltung heraus, in gewisser Empathie beobachtet, was es mit den Menschen macht, die sich offensichtlich einem Gottesdienst hingeben, wird merken, dass sie ein Gegenüber haben oder etwas bzw. jemand in sich hineinlassen, mit etwas anderem in Kontakt stehen, was sie verändert. Die Haltung der Teilnehmenden Beobachtung 7 ermöglicht, das fremde Verhalten als Religiosität anzuschauen und in gewisser dosierter Nähe nachzuvollziehen. Womit Ethnologie und Ethnografie arbeiten, ist auch für Schülerinnen und Schüler im Sinne erkundenden, sprich: forschend-lernenden Lernens von Interesse (inter-esse aus dem Lateinischen im Sinne von: dazwischen sein) zwischen Fremdheit und (leiblichem!) Verstehen. In diesem Sinne ist es von hohem Belang, nicht nur den Erklärungen religiöser Räume und Häuser zu folgen, sondern weiterhin, auch in vergleichender liturgiepädagogischer Absicht, Formen, Traditionen und Liturgien wahrzunehmen und nach ihren spürbaren Wirkungslogiken zu fragen. 8 Auf diese Weise – ebenso im Erfahren von Unstimmigkeit, dem Nicht-Passen und dem Nicht-Verstehen – wird auch Urteilsfähigkeit geschult.




Fremdes (mit)singen? Religiöse Ausdruckgestaltung in beobachtender Teilnahme

Ich komme noch einmal zu meiner Ausgangserfahrung in der Seminartagung zurück, die sich mit multireligiösen Feiern beschäftigt hat. Eine iranische Sängerin singt als Vertreterin des interreligiösen Projektes TRIMUM ein persisches Lied, wir stimmen mit ein. Anschließend singt sie mit uns christliches Liedgut, zum Teil mit Texten der anderen Religionen unterlegt. Dann wieder lernen wir eine Neukomposition eines christlichen Gedichtes nach jüdischem Stil. Es handelt sich um religiöse Musik, die sich sicherlich unter den Gesichtspunkten interreligiöser Ästhetik genauer kennzeichnen ließe. Phänomenal war, dass ich von dem Zusammenspiel christlicher Lieder, jüdischer Klangfärbung und islamischer Kultur gleichermaßen Empfindungen von Fremdheit und Berührung empfand. Wie kommt das? Musik evoziert noch eher ein Antworten, allen voran in leiblicher Hinsicht, als die Begegnung mit anderen Formen oder Werkstücken von Religion, da sie über unterschiedliche Wahrnehmungskanäle erreicht oder selbst produziert wird. Den eigenen Reaktionen als Wirkungen des Fremden am eigenen Leib nachzuspüren, ist ein erster Schritt des Verstehens von Resonanzen, ihren Entstehungszusammenhängen nachzugehen ein notwendiger weiterer. Den Maqam bzw. in ihrer Vielzahl (Maqamat) als besonderen Modus orientalischer Musik zu hören, erzeugt andere Reaktionen; diesen Modus als eine eben solche anderen Wirkungen auslösende Form kennenzulernen, lässt uns fremde Musik als andere Musik begreifen und kann Neugier und Interesse wecken. Musik von Religionen als eine Grundform und Ausdrucks- bzw. Kommunikationsgestalt von Religion und erst recht von unterschiedlichen Religionen zu begreifen, ist längst nicht erschöpft. Musik kann für religionsunterrichtliche Zusammenhänge – auch im fächerverbindenden Unterricht von Religion und Musik – eine Brücke sein, die Fremdheit anerkennt und zugleich so begeht, dass etwas Bekanntes aufscheint. Diese Erkenntnis verkörperte sich für mich in dem Lied, welches im Interreligiösen Liederheft von TRIMUM als eine Ouvertüre anmutet: „Kol ha’olam kulo“ – „Die ganze Welt ist eine schmale Brücke; das Wichtigste ist, sich nicht zu fürchten.“9




Fremdes (mit)feiern? Religiöse Begehungen in beobachtender Teilnahme


Wir sind mit der Seminargruppe zum Iftar, dem abendlichen Mahl zum Fastenbrechen, in eine Moscheegemeinde eingeladen. Ein Kellerraum, keine alte Kirche, keine Architektur der Zentrierung oder Altarfixierung; nun ein Gemeinderaum, der vorher eine Garage gewesen sein könnte oder ein Club. Reich gedeckte Tische mit bunten Wachstuchtischdecken stehen für uns bereit. Aus hoher Gastfreundschaft werden zum Fastenbrechen üppige Speisen für uns Gäste aufgefahren. Die Gerüche sind warm, aber fremd; ich kann die Gewürzdüfte nicht identifizieren. Im Essen schmecke ich Fremdes und verknüpfe es mit den eigenen Geschmacksempfindungen, die nicht ohne die biografischen Prägungen verlaufen. Wer nie Salz aß, wird Salz beim ersten Mal stärker wahrnehmen als aus der Gewohnheit heraus. Hier und da ergeben sich Gespräche auch mit den Gastgebern der Gemeinde, aber es ist sehr schnell klar, dass die Gastgeber alle Hände voll zu tun haben, auch wenn wir das Essen mehr als üppig empfinden, und dass nur begrenzte Gesprächsmöglichkeiten da sind. Beim abendlichen Mahl nehme ich an den Unterhaltungen teil und schaue mir gleichzeitig selbst zu, indem ich auf meine Empfindungen, Einfälle und Fantasien achte.

Der Schritt bis zur Einordnung der Wahrnehmungen in mir bekannte Ordnungen, die der Orientierung dienen, was es sein könnte, wofür es gut sein könnte, ist klein und groß zugleich. Ich schwanke zwischen ein wenig Eintauchen und distanziertem Vergleichen: Wie richten sich Christen ein – „wir“? Wonach riechen christliche Kirchen-Räume? Wie fühlen sich die Gebräuche an? Was gibt es sehend zu entdecken?

Einen fremden kultischen Raum zu betreten, ruft sofort Geruch, Bilder, Klänge und Atmosphären wach. Mitzumachen, in gewisser Freiheit, aber auch der Gebundenheiten der Feiersituationen, bringt sinnliche Formen einer Religion zutage; sie werden von der eigenen leiblichen Wahrnehmung, die selbst manches Fremde in sich trägt, empfangen. Es geht nicht ohne den Übersprung, oder besser gesagt: die Schwelle zwischen Fremdem und Vertrautem. Hier wird deutlich: Die leibliche Wahrnehmung von Differenz schließt eine bleibende relative Fremdheit ein – zur pädagogischen Haltung beim Lernen und Lehren gehört es daher, nicht nur die Möglichkeit von Anders-Sein theoretisch anzuerkennen, sondern Fremdheitsempfindungen in Lernprozessen sich selbst und anderen zuzugestehen.




Performatives Lernen in interreligiösen Zusammenhängen

Performative Religionsdidaktik macht sich zur Aufgabe, den probeweisen Aufenthalt in religiösen Welten zu arrangieren und pädagogisch zu inszenieren. Mehr denn je ist vorab zu entdecken, wie die Haltungen demgegenüber auseinanderklaffen: Ist die Bewohnbarkeit der Welt als religiöser Welt den einen egal, wird sie anderen umso ernster. Wer Religion nicht praktisch, und das heißt immer auch: leiblich kennenlernt, muss gewiss sein, mit Abstraktionen zu tun zu haben. Resonanzen lassen sich leibräumlich – in der Differenz und auf der eigenen Haut sinnlich-leiblich – erspüren. Nicht jede Wahrnehmung setzt gleich Verstehen frei, aber ohne die Wahrnehmung des Fremden in der Selbstwahrnehmung wird Lernen im Interesse von Nachvollzug zum Verständnis kaum möglich. Dass es in einem etwas anderen Modus um einer friedensbildenden Pluralitätsfähigkeit willen auch Probeaufenthalte in weiteren und anderen religiösen Welten braucht, ist unbenommen.

In diesem Sinne sind Performanz und Performativität für interkulturelle und interreligiöse didaktische Zusammenhänge noch einmal genauer zu justieren:

Performanz macht den Charakter der Darstellung von Religion aus, der mit der Mitteilung unabdingbar verzahnt ist. In pädagogischer Hinsicht wird der Darstellungscharakter der Prozesse und konzeptionellen Inhalte deutlich. Funktional gesehen tritt Religion hier als Referenz in Erscheinung. Aus der Perspektive einer Lernenden: Religiöser Performanz an fremden Formen gelebter und gefeierter Religion ansichtig zu werden, bedeutet, dass es authentische Vertreterinnen und Vertreter der Praxen verschiedener Religionen und Kulturen braucht, die Religion in ihrer je eigenen gelebten Form, mit ihren Räumen, Artefakten, Ritualen etc. zeigen. Aus der Perspektive des Unterrichtens: Es käme mir nicht in den Sinn, selbst eine Iftarfeier in ihrem kompletten Verlauf zu inszenieren, da es nicht mein originäres Fest ist, ich dazu nicht autorisiert bin und die Feiern anderer Religionen respektvoll achte. Einleuchtend ist jedoch die Performanz der Festelemente verschiedener Religionen – durchaus auch im vergleichenden Sinn – welche für die ausschnitthafte Begegnung mit anderen Religionen Kontakt herstellen und eindrücklich zeigen, wie Religion dort gelebt wird.

Inszenierungen und auch deren Wirkungslogik zeigen die Funktion der Performativität. Sie betont, dass Lernprozesse und Darstellungsprozesse das, was sie bedeuten, vollziehen und so eine neue Wirklichkeit hervorbringen (Luthers „Tätelwort“). Im weiten Sinne ist Lernen an sich ja bereits performativ, denn wirkliches Lernen verändert Schülerinnen wie Konfirmanden. Performativität als wirklichkeitsschaffende Kraft hängt an der Form der Beteiligung und letztlich in der bildenden Gestaltung von Religion. Die entstandene, in bestimmter Weise interreligiöse, in jedem Fall interkulturelle Musik gemeinsam zu gestalten, schafft etwas Neues und verändert diejenigen, die an diesen Performances teilhaben. Ein entscheidendes Moment der Performativität liegt beim interreligiösen Lernen m.E. daher in der gestalteten Begegnung selbst, denn sie hat mit ihrer Präsenz den höchsten Veränderungscharakter. Damit wird auch die Anerkennung einer gewissen Unverfügbarkeit von Lernen deutlich: Performatives Lernen, Begegnungen setzen immer voraus, dass ich mich bei aller Wahrnehmung von Differenz auch verändern darf.

Beide Funktionen performativen Lernens und Lehren in Unterricht und Konfirmandenarbeit werden im Fokus auf den Umgang mit Fremdheit insbesondere in Gestaltungsformen des Perspektivenwechsels vollzogen und habituell eingeübt, indem sie etwa durch Formen wie Rollentausch, imaginative und leibräumliche Standortveränderungen erprobt und reflektiert werden.

Religion als leibräumliche Gestaltungen anderer wahrzunehmen, bedeutet, mit den Differenz nicht überspielenden Methoden von beobachtender Teilnehme und teilnehmender Beobachtung die Eigenheit zu wahren und zugleich das Fremde im Eigenen deutlicher werden zu lassen.




Interreligiöse Lernkultur – ein Semikolon


Interreligiöses Lernen kommt nicht umhin, eine didaktische Kultur zu pflegen, welche im weiteren Sinne ökumenische Konturen zieht und zugleich darin Differenzwahrnehmung schult. Zu ihr gehört auch die Wahrnehmung von Grenzen und deren Überschreitung, etwa wenn es um Fundamentalismen und ethische Herausforderungen geht. Daher ist Verletzlichkeit ein Teil von Fremdheit, die einen Anspruch für professionelle Ethik an Schulen erhebt. Zu einer performativen Kultur in Schule wie Kirche gehören Foren für Dialog, interreligiösen Austausch, aber auch eine Konfliktbearbeitungskultur – auch schulische Streitschlichter z. B. brauchen religiöse Kompetenzen.

Die Weisen interessierter Teilhabe und teilhabenden Interesses durch die Gewichtungen von Teilnahme und Beobachtung fördern eine Haltung und Zugangsweise zu Religion(en), mit der entdeckt werden und mit der Kontakt zu anderen entstehen kann, ohne das Denken beiseite zu lassen. Performative Praxisvollzüge von probeweisen Perspektivenwechseln erkunden die Positionalität der anderen, ohne die eigene aus den Augen zu verlieren, und verzahnen diese mit dem Nachdenken über die erfolgten Lern- und Denkbewegungen. Das Ineinander von Praxis und Reflexion spielt nicht nur, aber auch gerade in der Wahrnehmung von Fremdheit bekanntermaßen eine entscheidende Rolle – und es hilft dabei, urteilsfähig zu werden.

Die Schwelle zwischen der Plausibilität von Religion als Lebenshaltung und der Relevanz religiösen Lernens ist nicht allein durch rationale Vernunft und Überzeugungskraft zu bewältigen. Plausibilität muss argumentativ geschaffen werden, um feindliche Fremdheit abzubauen und zugleich die Anerkennung nicht-religiöser Lebensführung zu gewährleisten. Ein religiöses Lernen im Interesse von lebensrelevanter Pluralitätsfähigkeit kann ich mir nicht als Dialog ohne die performative Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen vorstellen. Die Rolle der Ästhetik inmitten der ethischen Fragen darf nicht unterbelichtet bleiben: Wer nie mit einem Menschen aus einer anderen Kultur gesprochen hat, temporär Räume, Momente oder Lieder mit Menschen anderer Religionen geteilt hat, ist anfälliger für Angst vor dem Fremden und für die Absolutierung von Fremdheit. Performative Begehungen von Fremdheit mit anderen sind dagegen ein hoffnungsvoller Weg zur Entdeckung des Anderen, zur Erfahrung von Andersheit, zu Respekt gegenüber anderen und zu kritischer Anerkennung.

 

Anmerkungen

  1. http://trimum.de.
  2. Vgl. u.a. Klie / Leonhard: Schauplatz Religion; Klie /  Leonhard: Performative Religionsdidaktik; jüngst Mendl: Religion zeigen sowie demnächst Dinger: Religion inszenieren.
  3. Vgl. z. B. Mendl: Religion zeigen, 234.
  4. Vgl. Leonhard: Religionspädagogische Professionalität.
  5. Vgl. ebd.
  6. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 9.
  7. Dazu Scholtz: Teilnehmende Beobachtung. Vgl. auch die Praxishinweise in Unterrichtsmaterialien für forschendes sozi-alwissenschaftliches Lernen des Projekts „Jugendforschungswerkstatt Multikulturelles Wien“.
  8. Vgl. Meyer: Fremdheit als didaktische Aufgabe – mit vielen Anregungen und Verweisen auf Literatur, außerdem Zahlrei-ches von Clauß Peter Sajak.
  9. Melodie: Rabbi Baruch Chait, Text: Rabbi Nachman von Brazlaw. In: TRIMUM – Interreligiöses Liederbuch, 9.

 

Literatur

  • Dinger, Florian: Religion inszenieren. Ansätze und Perspektiven performativer Religionsdidaktik. Tübingen (erscheint Dezember 2018)
  • JuMuW: Praxishinweise in Unterrichtsmaterialien für forschendes sozialwissenschaftliches Lernen des Projekts Jugendforschungswerkstatt Multikulturelles Wien www.sparklingscience.at/_Resources/.../JuMuW_Unterrichtsmaterialien.pdf (Abrufdatum: 27.07.18)
  • Klie, Thomas / Leonhard, Silke: Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik. Leipzig ²2006
  • Klie, Thomas / Leonhard, Silke: Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis. Stuttgart 2008
  • Leonhard, Silke: Religionspädagogische Professionalität. Eine theologisch-empirische Studie im Horizont des Pathischen. Göttingen 2018
  • Mendl, Hans: Religion zeigen – Religion erleben – Religion verstehen. Ein Studienbuch zum Performativen Religionsunterricht. Stuttgart 2016
  • Meyer, Karlo: Fremdheit als didaktische Aufgabe. In: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (2015) www.bibelwissen schaft.de/de/stichwort/100069/ (Abrufdatum: 15.10.2018)
  • Scholtz, Christopher P.: Teilnehmende Beobachtung, in: Dinter, Astrid / Heimbrock, Hans-Günter /  Söderblom, Kerstin (Hg.): Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen. Göttingen 2007, 214-225
  • TRIMUM e.V. http://trimum.de/start/aktuelles/ 14496 (Abrufdatum: 17.07.18)
  • Strübel, Bettina / TRIMUM e.V. (Hg.): Trimum – Interreligiöses Liederbuch. Unter Mitarbeit von TRIMUM-Referententeam, Trimum Chorlabor. Wiesbaden 2017
  • Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main 2006