Solidarisch wirtschaften in Zeiten des Wandels

Von Kristina Bayer

 

Die Welt ist aus den Fugen! Ein rasch fortschreitender Klimawandel, zunehmende soziale Ungleichheit in Nord und Süd und anhaltende kriegerische Konflikte sind nur einige Anzeichen des tiefen gesellschaftlichen Umbruchs, in dem sich die Weltgesellschaft derzeit befindet.
Seit über 30 Jahren werden die vielen Krisenerscheinungen des sogenannten wirtschaftlichen Fortschritts ausgiebig diskutiert. Während Institutionen wie der Club of Rome jahrzehntelang als einsame Rufer in der Wüste galten, zeigen neuere Umfragen einen Wertewandel: Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2010 fordern fast 90 Prozent der deutschen Bevölkerung eine andere Wirtschaftsordnung. Für eine Mehrheit scheint damit der Zusammenhang zwischen der Zerstörung des ökologischen und sozialen Gleichgewichts und dem „kapitalgetriebenen Wirtschaften“ deutlich geworden zu sein.1

Das Konzept der Solidarischen Ökonomie steht gegen das konkurrenzorientierte Wachstumsmodell mit seinem Rendite- und Kapitalisierungsprinzip. Realisiert wurde es in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen wie den „Redlichen Pionieren von Rochdale“2, der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien oder als Teil von Regierungspolitik, etwa in Brasilien und in Frankreich. Der überwiegende Anteil solidarischen Wirtschaftens findet aber bis heute im informellen Bereich statt. Er ist weder Teil staatlicher Institutionen noch verfügt er über eine gesellschaftliche Lobby. Neu am Solidarischen Wirtschaften ist, dass es nicht nur ökonomisch messbare Aktivitäten umfasst, sondern gerade auch deren Vermeidung. Dies geschieht durch Kooperation (Tauschen, Leihen, Verschenken, gemeinsam Nutzen), Recycling (Wiederverwenden, Reparieren), „intelligente Askese“3 oder Selbstversorgung.


Die Wurzeln: Genossenschaften und Alternative Ökonomie

Die Kritik am kapitalistischen System ist so alt wie es selbst. Mit Sägemehl und Urin angereicherte Lebensmittel sind kein modernes Phänomen, sondern wurden bereits den Arbeitern während der ersten Phase der Industrialisierung angeboten. Diese versorgten sich daraufhin in selbst gegründeten Konsumgenossenschaften mit hochwertigen Lebensmitteln, bezahlbarem Wohnraum und Bildung.

Franz Oppenheimer als erster Inhaber eines Soziologie-Lehrstuhls in Deutschland befasste sich 1896 erstmals mit dem Phänomen der Siedlungsgenossenschaften. Von Frühsozialisten wie Robert Owen inspirierte Gemeinschaften bildeten die Forschungsgrundlage für sein berühmt gewordenes Transformationsgesetz. Hiernach scheitern Genossenschaften entweder an den Marktgesetzen oder aber, sofern sie diese überstehen und groß werden, an internen Schwierigkeiten, allen voran der persönlichen Bereicherung. „Nur äußerst selten gelangt eine Produktionsgenossenschaft zur Blüte. Wo sie aber zur Blüte gelangt, hört sie auf, eine Produktivgenossenschaft zu sein.“4

Oppenheimers Theorie wurde zwar immer wieder angezweifelt, die Frage des Scheiterns begleitet jedoch die Genossenschaftsbewegung. Eigennutz der Mitglieder, mangelnde Kooperationsfähigkeit, Überwiegen des Konkurrenzdenkens – all diese Schwierigkeiten veranlassten bereits Robert Owen dazu, über eine Schule der Charakterbildung nachzudenken, in der solidarisches Handeln eingeübt werden sollte.

Die Konsumgenossenschaften waren inspiriert von der Grundidee des Kooperatismus. Sein Ziel ist die Veränderung des Wirtschaftssystems durch die Zusammenarbeit von Konsumenten. Zu Beginn des Jahrhunderts wurden sie zum Zentrum einer Massenbewegung, die später in der Idee der Gemeinwirtschaft mündete. Das offensive Eintreten für soziale Gerechtigkeit spiegelt sich bis heute in dem Prinzip der Mitgliederförderung als absolutem Wesensprinzip der Genossenschaft wieder.

Mit dem kapitalistischen System haben sich inzwischen auch die Alternativkonzepte weiterentwickelt.5 In den 1970er-Jahren entdeckte der chilenische Ökonom Luis Razeto Migliaro durch Forschungen zu Selbsthilfekooperativen den Erfolgsfaktor C für das Gelingen solidarwirtschaftlicher Projekte: „Comperañerismo (Freundschaft), Cooperación (Zusammenarbeit), Comunión (Einheit in der Vielfalt), Colecitividad (Kollektivität), Carisma (Charisma), garniert mit der Kategorie des Compartir (Teilen)“.6

Ausgehend von Lateinamerika, verbreitete sich der Begriff der economía solidária international. In Brasilien entstand im Zuge der Wirtschaftskrise Anfang der 1980er-Jahre eine neue solidarökonomische Bewegung. Viele große Industrieunternehmen konnten der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht standhalten und gingen in die Insolvenz. Viele von ihnen wurden in Arbeiterselbstverwaltung weitergeführt. Bekannte Beispiele sind die stillgelegte Kohlemine im Bundesstaat Santa Catarina Cooperminas sowie die Zuckerrohrfabrik Usina Catende im brasilianischen Nordosten, die von mehreren Tausend Beschäftigten in Selbstverwaltung überführt wurde.

Aber auch für viele abgehängte Regionen in Europa bildet die Solidarische Ökonomie die einzige Überlebens- und Entwicklungsmöglichkeit. Bekanntestes Beispiel ist die baskische Kooperative Mondragon, inzwischen das siebtgrößte Unternehmen Spaniens und weltweit erfolgreichstes genossenschaftliche Unternehmen.7

Heute steht der Begriff Solidarische Ökonomie für eine Vielzahl an Strömungen. In Deutschland entwickelte sich in den 1960er-Jahren die Alternative Ökonomie als Protest-Ökonomie.8 Lehrlinge, Heimkinder und kritische Akademiker suchten Wege der Existenzsicherung jenseits von Arbeits- und Profitzwang. Mit dem Motto „Arbeiten ohne Chef“ begann die Enthierarchisierung der betrieblichen Beziehungen. Hoch innovative Kollektivbetriebe eroberten gesellschaftliche Nischen wie Erneuerbare Energiegewinnung, Bildung, Erziehung und Handwerk. Das Leben in Großgruppen versprach einen Ausweg aus kleinbürgerlichen, engen Lebensverhältnissen und dem Zwang zu entfremdeter Arbeit. Viel Wissen wird bis heute in diesen Gemeinschaften generiert – nicht nur über ökologisches Bauen, traditionelle Handwerkstechniken, Selbstversorgung und ökologischen Landbau, sondern auch über den zwischenmenschlichen Teil der Solidarität: über Kommunikation, Konfliktbewältigung und Wachstumsmöglichkeiten des Einzelnen in der Gemeinschaft. Die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens steht unter dem Vorzeichen, einen zeitgemäßen Weg zwischen Individualität und Gemeinschaft zu finden.9


Trends und Aktuelle Entwicklungen

Längst ist dieses Wissen kein Nischenwissen mehr. Im Zuge gestiegener Wettbewerbsanforderungen einer globalisierten Netzwerkökonomie bewegt gerade das Thema Kooperation Unternehmen und Öffentlichkeit mehr als jemals zuvor.10Ein Merkmal der stark durch die digitalen Medien geprägten Netzwerkgesellschaft ist das wachsende Bedürfnis nach Mitsprache und Mitbestimmung. Weltweit erfasst der Wunsch nach Offenheit und Transparenz, nach Partizipation immer mehr die politische Öffentlichkeit. Der Soziologe Claus Leggewie spricht davon, dass angesichts des großflächigen Versagens von Markt und Staat, in angemessener Weise für die Grundbedürfnisse der Menschen zu sorgen, Bürgerinnen und Bürger „nolens volens“ immer mehr Verantwortung übernehmen. Dies gilt insbesondere für wichtige Politikfelder wie die Energiewende.11 Seit 2007 sind ca. 900 neue Energiegenossenschaften in Deutschland entstanden – ein Vorzeigebeispiel ökonomischer Partizipation.12 Konzepte in zentralen Bereichen wie Mehrgenerationenwohnen, Daseinsvorsorge (Dorfläden, Ärztegenossenschaften, Stadtverwaltungen) befinden sich stark auf dem Vormarsch. Projekte der Solidarischen Ökonomie ermöglichen über den reinen Diskurs hinaus breite ökonomische Teilhabe und damit gestaltendes „Unternehmertum“ im besten Sinne. Kapital wird nicht mit dem Ziel der Profitmaximierung eingesetzt, sondern zur Erfüllung der Grundbedürfnisse der beteiligten Menschen. Ökonomie erfüllt so ihren eigentlichen Zweck, nämlich Vorsorge für das ganze Haus (griech. „oikos“) zu sein.


Ausblick

Zu Recht bescheinigt das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung „Die große Transformation“13 den Akteuren der Solidarischen Ökonomie die Rolle von „change agents“. In Bezug auf die großen Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels erarbeiten diese Lösungen, die vorbildhaft in die gesamte Gesellschaft hinein wirken können. Hiermit wird gesellschaftliche Orientierung und letztlich Zukunft geschaffen. Wichtig werden zukünftig die Instrumente der Vervielfältigung von praktischem wie theoretischem Wissen. Dieses steht noch in sehr wenig systematisierter Form zur Verfügung.

Eine zentrale Rolle wird zukünftig hierbei den Regionen zukommen. Solidarisches Wirtschaften ist wesentlich auf nahe Bezüge angewiesen. Vertrauen und persönliche Beziehungen bilden die Grundlage von Kooperation. Hiermit rückt in einer globalisierten Welt das Geschehen vor Ort wieder ins Zentrum.14 Auch Forschung und Beratung dürfen dies wieder in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rücken und hierüber praktische, lebensdienliche Erkenntnisse gewinnen.15

Wo Menschen gemeinschaftlich selbst entscheiden, wie viel und was sie konsumieren wollen, wird der verschwenderische Kreislauf von immer mehr und immer sinnloseren Produkten durchbrochen. Darüber hinaus werden erst durch die konsequente Beteiligung der Betroffenen wirklich lebensdienliche Produkte und Projekte entstehen. Was, wenn nicht Planer und Gutachter seniorengerechte Wohnungen planen, sondern die betroffenen Seniorinnen und Senioren selbst?

Solidarisches Wirtschaften hat das Potenzial, auch die letzten Bastionen autoritären, paternalistischen Denkens zu stürmen und endlich den Menschen selbst in den Mittelpunkt des Wirtschaftssystems zu stellen. Offenes und transparentes Miteinander und Kommunikation auf Augenhöhe sind starke Waffen gegen Totalitarismus und scheinbar alternativlose Herrschaft des Kapitals. Sie können die Grundlage einer vorausschauenden Umsteuerung werden, deren wichtigste Haltung heute die Solidarität ist. Denn: „Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.“16


Literatur

  • Bayer, Kristina und Dagmar Embshoff (Hg.): Der Anfang ist gemacht! Kultur der Kooperation, Neu-Ulm 2015
  • Bayer, Kristina: Beratung als Basis erfolgreicher Partizipation. Partizipative Energiesysteme in Nordhessen. Eine Fallstudie, Kassel 2016
  • Bender, Harald, Norbert Bernholt und Bernd Winkelmann: Kapitalismus und dann? Systemwandel und Perspektiven gesellschaftlicher Transformation, München 2012
  • Giegold, Sven / Embshoff, Dagmar: Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, Hamburg 2008
  • Linz, Manfred / Bertelmus, Peter / Hennicke, Peter; Jungkeit, Renat / Sachs, Wolfgang / Scherhorn, Gerhard: Von nichts zu viel. Suffizienz gehört zur Zukunftsfähigkeit. Wuppertal Papers, 125. Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie, Wuppertal 2002
  • Maron, Helene / Maron, Bernhard: Genossenschaftliche Unterstützungsstrukturen für eine sozialräumlich orientierte Energiewirtschaft. Machbarkeitsstudie, Klaus-Novy-Institut e. V. Köln 2012 (Eigenverlag)
  • Müller-Plantenberg, Clarita / Stenzel, Alexandra / Bayer, Kristina: Atlas der Solidarischen Ökonomie in Nordhessen. Strategie für eine nachhaltige Zukunft, Kassel 2008
  • Oppenheimer, Franz: Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Berlin 1896
  • Schwendter, Rolf (Hg.): Die Mühen der Berge. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie – Teil 1, München 1986a
  • Schwendter, Rolf, (Hg.),Die Mühen der Ebenen. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie – Teil 2, München 1986b
  • Voß, Elisabeth: Wegweiser Solidarische Ökonomie. Anders Wirtschaften ist möglich, Neu-Ulm 2010
  • Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten, Berlin 2011

 

Weiterführende Internetquellen

www.contraste.de
www.solidarische-oekonomie.de
www.solikon.de
 

Anmerkungen 

  1. Vgl. Bender et al. 2012, 14.
  2. Vgl. http://genossenschaftsgeschichte.info/redliche-pioniere-von-rochdale-113 (Abruf 20.10.2017).
  3. Linz et al. 2002, zit. in Bayer 2016, 65.
  4. Oppenheimer 1896, 45.
  5. Vgl. Giegold / Embshoff 2008, 12.
  6. Voß 2010, 13 Anm. 5.
  7. Zu MCC gehören 103 Genossenschaften mit 120 Tochterunternehmen, die 14 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaften. Impulszentrum Zukunftsfähiges Wirtschaften www.imzuwi.org/index.php/taten/zukunfts labore/zukunftslabore2/125-die-genossenschaften-von-mondragon
  8. Exemplarisch die Werke von Rolf Schwendter (1986a; 1986b), die sehr deutlich das „Innenleben“ der Alternativen Ökonomie beschreiben.
  9. Vgl. Bayer/ Embshoff 2015.
  10. Ebd.
  11. www.badische-zeitung.de (Abruf 20.10.2017)
  12. Nähere Untersuchungen zu Energiegenossenschaften vgl. Maron / Maron 2012.
  13. WGBU 2011.
  14. Vgl. Müller-Plantenberg et al. 2008.
  15. Ebd. und Bayer 2016.
  16. Europa neu denken. Eine Diskussion zwischen Jürgen Habermas, Sigmar Gabriel und Emmanuel Macron am 16. März 2017. In: www.blaetter.de Blätter Verlagsgesellschaft, April 2017 (Abruf 20.10.2017).