Eine Begehung
Schmal und zierlich ragt ein heller Turm empor. Er ist von weitem zu sehen. Durch Bäume und Sträucher verdeckt, breitet sich neben dem Turm ein kantiger, grauer Bau aus. Vermutlich besteht er im Wesentlichen aus Beton. Auf der Seite läuft oben unterhalb des Satteldachs ein Fensterband. Es könnte eine Turnhalle sein, stünde nicht der Turm daneben.
Dass es keine Turnhalle ist, wird erst an der Stirnseite mit dem die gesamte Vertikale ausmessenden Fensterdurchbruch klar, mit dem sich die Kirche zur Straße hin präsentiert. Ist dieses große Fenster zur Straße eine Geste der Einladung oder umgekehrt ein Zeichen der Weltverbundenheit? Doch der Blick wird vom Fenster abgewiesen. Ein lateinisches Kreuz aus Beton gibt das Maßwerk ab, in dessen vier Felder kleinteilige Gläser gesetzt sind. Die Fensterscheiben bleiben undurchsichtig; umso deutlicher erscheint das Betonkreuz dem Blick von der Straße her. Diese undurchsichtige Fensterseite mit dem Kreuz zur Straße hin ist betont. Das gegiebelte Dach und der oberste Teil der Seitenwand verspringen oberhalb des Fensters zur Seite hin nicht im rechten Winkel, sondern mit einem großen Bogen. Hier gewinnt der kantige Bau Schwung, Leichtigkeit und Wärme. Sollte dort, beim undurchsichtigen, gekreuzten Fensterdurchbruch das Zentrum der Kirche liegen?
Neugierig wird der Eingang gesucht. Nach längerem Suchen findet er sich, wiederum in reichlich Gebüsch versteckt, auf der Rückseite vom angrenzenden Park. Beim Eintritt wird es dunkel. Ein Entree erwartet den Besucher. Drückend empfindet er die niedrige Decke. Schnell wird er durch den engen, niedrigen Zugang geleitet, bis sich ein nach oben strebender Raum vor ihm öffnet. Der Besucher bleibt stehen; Licht blendet ihn. In konzentrierter Dichte strömt buntes Licht von vorne ein und füllt den Raum aus. Mittig besteht der Raum aus purem Licht, erst an den Rändern materialisiert er sich in dunklen Elementen: in von Betonbindern unterbrochenen Seitenwänden, in längslaufenden Verschalungen an der Decke zwischen den fünfeckigen, nach oben gerichteten Bindern, in ebenfalls längslaufenden Ziegelsteinen am Boden. Die Längsrichtung der dunklen Elemente und die nach vorne enger werdende Stellung der Betonbinder geben eine klare Richtung nach vorn. Der Raum ist ein einziger Weg. Aber der Besucher geht ihn nicht, er steht noch immer hinten am Ende des Eingangs. Das Licht blendet, der Besucher kommt nicht voran. Das einfallende Licht nimmt eben den Weg, den der Raum vorgibt, nur in entgegengesetzter Richtung. Weil das Licht seinen Weg nimmt, kann der Besucher den Weg nicht gehen.
Der Besucher setzt sich auf einen der hinteren Stühle, die zu beiden Seiten des Mittelweges in Reihen bis nach vorne gestellt sind. Ob er nun hinten oder vorne sitzt, der Besucher kommt des Lichtes wegen auf dem vorgegeben Weg nicht weiter. Konzentriert aus dem Schnittpunkt des Betonkreuzes in der frontalen Fensterwand fallen bunte Lichtstrahlen ein. Gegen dieses Eintreten, gegen dieses bunte Strahlenbündel hebt sich das dunkle, mit den Bindern korrespondierende Kreuz ab. Während das Licht einfällt und seinen Weg nimmt, steht das Kreuz fest. Weiter kommst du nicht, sagt es dem Besucher. Das Betonkreuz ist aus Staub und das Ziel deines Weges ist Staub. Weiter als bis zum Kreuz, als zu Schuld und Leid, zu Projektion und Gottverlassenheit führt dein Weg nicht. Fortschritt wäre hier Rückschritt. Am besten bleibst du sitzen und gehst den vorgezeichneten Weg nicht weiter, denkt der Besucher.
In dieser Kirche, die durch und durch Weg ist, ist der Besucher an sein Ende gelangt, lange bevor er einst und irgendwo am Ende sein wird. Ohne Moralpredigt erfahre ich mich hier als Sünder; nicht als licht, sondern als dunkel; als auf seinen Weg gestellt, aber auf ihm nicht vorankommend. Der Besucher ist festgesetzt, ist der Vergeblichkeit seines Daseins überführt. Das Licht steht ihm entgegen. Das Licht ist jenseitig, es kommt von jenseits des Betonkreuzes. Es nimmt den Weg, der jenseits des Kreuzes führt und der für den Menschen nicht gangbar ist. Alles, was der Besucher schafft, und soweit er es je bringen mag, es erreicht dieses Licht nicht. Der im Dunkel sitzende, dunkle Besucher ist durchs Kreuz vom Licht getrennt. Das Licht blendet ihn, die Gottesfülle stößt den Gottverlassenen zurück. Verlassen und geblendet auf seinem Platz am Wege sitzend, murmelt der Besucher: Kyrie eleison. Anders als im Gottesdienst gibt es keine Antwort, kein Responsorium. Einsam bleibt der Besucher sitzen.
Doch ändert sich da nicht etwas? Die Augen gewöhnen sich an das Licht, die weit ausstreuenden bunten Strahlen sammeln den Blick zum Schnittpunkt des Kreuzes als der Quelle des jenseitigen Lichtes. Der eckige Bau wird wohlig abgerundet; Wärme umfängt den Besucher. Ist er, der Dunkle, der Geblendete und Blinde vom Licht aufgenommen? Ist ihm das Licht, das er auf seinem Weg nicht erreichen konnte, auf eben diesem seinen Weg erschienen? Ist ihm, dem Sünder, die verfehlte und unerreichbare Gerechtigkeit zugefallen? Ist auf diesem Weg er gemeint? An seinem Wege hatte der blinde Bartimäus gehört: „Sei getrost, steh auf, er ruft dich“ (Mk 10,49).
Der Besucher steht auf und geht getrost seinen Weg – zurück durch den Eingang hinaus über den Park zur Straße. Der Einkehrende ist umgekehrt, der Kirchenbesucher ist gewendet, der seinen Weg Wandernde ist gewandelt. Himmelfahrt heißt diese Kirche. Die Himmelfahrt wandelt das Irdische ins Himmlische, gibt dem festsitzenden Leben strömende Fülle, lässt den Besucher in seine Welt als in den Himmel zurückkehren. All dies geschieht, indem das Licht in die Himmelfahrtskirche einströmt, die Himmelfahrt also umgekehrt wird. Das Licht scheint hier in die Dunkelheit, das Wort ward Fleisch, und der Himmel geht in den Staub der Erde ein. In der Himmelfahrt kommt das Ende zum Anfang.
Das reformatorische Konzept
Die Himmelfahrtskirche ist 1954 bis 1956 vom evangelischen Kirchbaumeister Otto Bartning in Berlin-Gesundbrunnen gebaut worden. Bewusst hält er sich an das reformatorische Konzept des Priestertums aller Gläubigen. Es gibt in dem einheitlichen Raum keinen besonderen Platz für den Amtsträger. Er sitzt und steht mit der Gemeinde in gleicher Richtung vor dem einfallenden Licht. Niemals repräsentiert er Christus. Stellvertreter Christi sein zu wollen, ist nach Martin Luther – bis heute unüberholt – das Zeichen des Antichristen. Würde sich der Pfarrer in dieser Kirche hinter den Altar der Gemeinde gegenüber stellen wollen, so erschiene er ihr unkenntlich schwarz. Das Licht nähme ihn nicht auf, sondern schnitte ihn als Schatten scharf aus. Um die in dieser Kirche architektonisch verhinderte Stellvertreterschaft der Gemeinde gegenüber dennoch durchsetzen zu wollen, müssten Scheinwerfer angebracht werden, die den Pfarrer anstrahlten. Dieses künstliche Licht leuchtete dem einfallenden Licht dann entgegen und zeigte damit architektonisch wiederum den reformatorischen Grundsatz: Wer Christus stellvertritt, ist Antichrist. Das Anti-Licht überführt den unreformatorischen Anspruch des Amtsträgers als des Gegenübers der Gemeinde.
In der reformatorischen Kirche repräsentiert niemand das Heilige. Auch der Prediger sagt hier nicht das Wort Gottes, sondern steht seitlich neben dem einfallenden Licht und kommentiert das Geschehen. Die Gemeinde ist es, die hier sieht und hört, was niemand gezeigt und gesagt hat: Christus, den Himmel auf Erden, die Erde im Himmel. Die Mündigkeit der Gemeinde ist leitendes reformatorisches Formprinzip.
Der Ausschluss des hierarchischen Prinzips, wie es übrigens auch zwischen Dienstleister und Bedürftigen, zwischen Anbieter und Abnehmer herrscht, führt aber im Umkehrschluss nicht zu einer Nivellierung, Demokratisierung oder Säkularisierung. Die Ausrichtung der Kirche bleibt streng frontal. Ein Anderes wird mit dem leuchtenden Fenster vorgestellt, das nicht ins Eigene eingeht, das nicht als Besitz oder Recht domestiziert wird. Die nach reformatorischen Gesichtspunkten gebaute Himmelfahrtskirche wahrt Alterität, gibt dem Anderen Raum. Darum ist das große Fenster auch nicht durchsichtig. Kirche und Straße werden nicht durch Glasscheiben verbunden, sondern vielmehr mit Eifer und Aufwand getrennt. Eine Heterotopie, ein Ort des ganz Anderen, ein anderer Ort als ringsum, wird mit dem reformatorischen Kirchbau in die Stadtlandschaft von Straßen, Häuserblocks und Park eingestellt. Die Örtlichkeit der Menschen in Gesundbrunnen-Viertel wird deutlich unterbrochen, auch wenn der die Kirche versteckende – sicher als „Schöpfung“ ausgegebene – Bewuchs von mangelndem Bewusstsein des Kirchengemeinderates zeugt.
Die Unterbrechung der städtischen Örtlichkeit ist die äußere Spiegelung des Innern der Kirche. Es ist der Weg, den der Mensch geht und doch nicht weiterkommt. Es ist der Weg, auf den Licht allein von der anderen Seite her fällt. Es ist der Weg, der nur in der Umkehr und in der Wandlung gangbar wird. Es ist der Weg Christi, die Himmelfahrt. Himmelfahrt ist per definitionem keine Möglichkeit des Irdischen, und darum muss die Himmelfahrtskirche den Stadtraum unterbrechen und ausgrenzen. Stadt und Kirche kommen so in Konkurrenz um die Himmelfahrt. Rechtfertigung allein durch Gnade ist in dieser Kirche begehbar gebaut – und der übrigen Geschäftigkeit entgegen gestellt.
Dass eben solche Begehung von Rechtfertigung auch außerhalb des Gottesdienstes stattfindet, realisiert ein weiteres Prinzip der Reformation: Rechtfertigung allein durch Glauben, also nicht durch kirchliche Betriebsamkeit und Betreuung. Wo der Besucher in diese Kirche geht, findet Gottesdienst statt. Der Besucher geht nicht zum Gottesdienst in die Kirche, sondern er begeht die Kirche als Gottesdienst. Das aufmerksame Begehen der Himmelfahrtskirche legt die Heilige Schrift aus, weil sie auf diese hin gebaut ist. Sola scriptura ist das dritte positive Formprinzip der Reformation, das in der Himmelfahrtskirche architektonische Realisation gefunden hat.
Vom Beispiel der Himmelfahrtkirche ausgehend könnten nun allgemeine Überlegungen zum reformatorischen Kirchbau der Moderne angestellt werden. Mit dem reformatorischen solus Christus löst der evangelische Kirchbau das seit 1891 im Wiesbadener Programm propagierte und oft realisierte Kirchbauprogramm eines Festsaals der Gemeinde ab. [1]
Der Festsaal lässt programmatisch keinen Raum für das Andere. Die Gemeinde füllt den Raum aus. Das Wiesbadener Programm stellt Gotteshaus und Gemeindeversammlung gegenüber und verbindet diese Differenz mit dem Unterschied von katholisch und protestantisch. Dabei laufen jedoch zwei Differenzierungen durcheinander. Zuerst werden sachgemäß Alterität und Funktion, Kirche als Freiraum oder Kirche als Raum menschlicher Selbstdarstellung gegenübergestellt. Dies geht jedoch mit der Unterscheidung von katholisch und evangelisch nicht auf. Diese zweite Unterscheidung, katholisch und protestantisch, verbleibt vielmehr als unterschiedliche, hierachisch-vormoderne oder demokratisch-moderne Weise menschlicher Selbstdarstellung auf der Seite der Funktion. Alterität wird aber weder hierarchisch repräsentiert noch demokratisch eingeholt. Das Gotteshaus ist der freie Raum des Anderen und nicht der vom Eigenen des Selbst ausgefüllte Raum.
Nach der klassischen Moderne der Architektur, zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, wird das Gemeinde-Kirchen-Bauprogramm aus dem 19. Jahrhundert in modifizierter Form dann wiederaufgenommen. Auf dem Kirchbautag 1969 in Darmstadt [2] wird die Funktionalität, theologisch als Nachfolge und als Vorgriff auf das Reich Gottes gefasst, zum leitenden Bauprinzip erhoben. In der Folge entstehen die Gemeindezentren, die dann in den folgenden Jahrzehnten bezeichnenderweise entweder nachträglich durch An- und Umbauten, durch wuchtige Prinzipalstücke, sogar durch Orgeln sakralisiert oder aber gänzlich aufgeben, verkauft oder abgerissen worden sind. Der Besucher sucht in der Kirche das Andere seiner selbst und nicht die Spiegelung und Vergemeinschaftung des Eigenen.
Reformatorischer Kirchbau in der Moderne ist nach reformatorischer Lehre der Rechtfertigung streng religiös und keineswegs funktional. Die Form folgt hier nicht der Funktion, sondern geht über die Funktion hinaus. Reformation setzt der Kirche, dem Gottesdienst und Kirchenbau mit dem solus Christus uneinholbar eine Form voraus. Der moderne reformatorische Kirchbau ist darum nicht Behälter für Predigten, sondern predigt selber.
Anmerkungen
- „Die Kirche soll im Allgemeinen das Gepräge eines Versammlungshauses der feiernden Gemeinde, nicht dasjenige eines Gotteshauses im katholischen Sinne an sich tragen.“ Wiesbadener Programm von 1891; Text bei Carl Clemen, Quellenbuch zur praktischen Theologie I, Gießen 1910, 190.
- Rainer Bürgel, Andreas Nohr: Spuren hinterlassen … 25 Kirchbautage seit 1946, Hamburg 2005.