Theologie des Kirchenraums – Kirchenraum und Theologie

Von Matthias Hülsmann

 

So spricht der HERR:
Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße!
Was ist denn das für ein Haus, das ihr mir bauen könntet? (Jes 66,1)

Um es gleich vorweg zu sagen: Luther war der Überzeugung, dass man auch in einem Kuhstall Gottesdienst feiern könne, denn eine Kirche sei sozusagen nichts anderes als ein Gehäuse, das die Gläubigen bei der Gottesdienstfeier vor Wind und Regen schützt. Luther hebt an diesem Punkt die Unterscheidung zwischen heiligen und profanen Räumen auf.

Kirchenräume gehören für Luther also in gewisser Weise zu den Dingen, die weder geboten noch verboten und nicht heilsentscheidend sind; in Fragen dieser sogenannten Adiaphora sollte man pragmatisch entscheiden.

Aus demselben Grund kann Luther zugleich an besonderen Kirchenräumen festhalten. Er predigt am 5. Oktober 1544 bei der Einweihung der Schlosskirche in Torgau (WA 49,588-615) und betont, dass diese Torgauer Schlosskirche nur ein möglicher Gottesdienstort unter vielen sei. „Nicht, dass man daraus eine besondere Kirche mache, als wäre sie besser als andere Häuser, in denen man Gottes Wort predigt. Man kann und soll wohl überall, an allen Orten und zu jeder Stunde beten. Aber das Gebet ist nirgendwo so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufen einträchtig miteinander betet.“ (WA 49,592f.) Sowohl die Fleischhalle als auch das Wohnzimmer genügen dafür völlig.

Luther befürwortet auch Bilder und Kunstwerke in den Kirchen, weil sie als biblia pauperum das Evangelium denen verkünden, die nicht lesen können. Die evangelisch-reformierte Tradition dagegen lehnt sie wegen des Bilderverbotes strikt ab. Aus diesem Grund unterscheiden sich reformierte Kirchen grundlegend von den Kirchen anderer Konfessionen.

Ein Kirchenraum erschließt sich theologisch, indem man ihn durchschreitet. Gehen wir also in eine typische Kirche hinein.

 

Die Schwelle

Wer eine Kirche betritt, überschreitet eine Schwelle. Das ist kein Zufall. In Zeiten der Barrierefreiheit werden Schwellen zwar in erster Linie als Hindernisse wahrgenommen; das war aber nicht immer so. Schwellen hatten und haben einen guten Sinn, denn sie stellen eine Grenze zwischen Innen und Außen dar. Eine Türschwelle lässt Straßenstaub und Ungeziefer draußen. In Hochwasserzeiten wird die fundamentale Bedeutung von Türschwellen im wahrsten Sinne des Wortes wieder spürbar.

Vergleichbares gilt in symbolischer Weise auch für die Kirchenschwelle. Sie bildet die Grenze zwischen dem Weltlichen und dem Heiligen, zwischen der profanen Welt und dem sakralen Raum. Unser Begriff profan bedeutet wörtlich übersetzt „sich vor dem Heiligen befindend“ – und nicht im Heiligtum.

Dieser Schwelleneindruck wird oft noch dadurch verstärkt, dass der Kirchenbesucher einige Stufen steigen muss, bis er zur Schwelle gelangt. Wer eine Kirchenschwelle überschreitet, wird auf diese Weise daran erinnert, dass er die alltägliche Welt verlässt und eine andere Welt betritt, die nur Auserwählten vorbehalten ist.

 

Die Tür

Dieser Eindruck wird durch die Kirchentür verstärkt. Eine Tür kann Zugang zum Inneren gewähren, wenn sie geöffnet wird. Eine Tür kann aber auch ausschließen. Diese schmerzhafte Erfahrung müssen fünf Brautjungfern machen, die den Bräutigam verpassen und zu spät zur Hochzeitsfeier kommen. Matthäus veranschaulicht in Mt 25,10 eindrücklich den symbolischen, eschatologischen Sinn dieser Tür. Die verriegelte Tür schließt die Außenstehenden vom Heil aus, denn zu den Brautjungfern draußen vor der Tür sagt der Bräutigam: „Ich kenne euch nicht.“

Auf der anderen Seite gilt aber auch: Hinter dieser Tür befindet sich das Heil. Nicht zufällig sagt Jesus in Joh 10,9 von sich selbst: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden.“

 

Die Stille

Kirchentür und Schwelle markieren eine deutliche Grenze. Man kann sie sogar hören. Wer eine Kirche betritt, die Schwelle überschreitet und die Tür hinter sich schließt, dem fällt als Erstes die plötzlich eingetretene Stille auf. Draußen tobt der Verkehrslärm, draußen pulsiert das geschäftige Treiben der Menschen. In der Kirche herrscht himmlische Ruhe und meditative Bewegungslosigkeit. In diesem bewussten Kontrast besteht die grundlegende Theologie der christlichen Gotteshäuser. In einer Kirche wird nicht mit Waren gehandelt und kein Umsatz gemacht, hier spielen Mobilität und Schnelligkeit keine Rolle, hier herrscht nicht der Homo oeconomicus mit seinem Profitdenken. Eine Kirche wirkt sich nicht positiv auf das Wirtschaftswachstum oder auf das Bruttosozialprodukt aus, ganz im Gegenteil: Hier steht ein Gebäude – oft in teuerster Wohnlage – nutzlos herum. Gerade diese Nutzlosigkeit gehört zum theologischen Programm unserer Gotteshäuser. Ein Gotteshaus soll nichts nützen oder erwirtschaften, sondern es soll schlicht das sein, was der Name sagt: ein Haus Gottes. In diesem Sinne ist es zwar nutzlos, aber höchst sinnvoll. So wie der Sonntag einen von Gott geschenkten zeitlichen Freiraum vom täglichen Überlebenskampf darstellt und insofern eine symbolische Vorwegnahme des himmlischen Paradieses, so stellt das Gotteshaus einen Raum bereit, in dem der Mensch sich frei von jeglichem Effizienzdenken als das erfahren darf, was er ganz elementar ist, nämlich ein Geschöpf, das auf Gott angewiesen ist. Er wurde von Gott mit der Schöpfung beschenkt, und das Gotteshaus ist der Raum, in dem sich das Geschöpf dieser Gaben bewusst wird und seinem göttlichen Geber dafür dankt, allein und gemeinsam mit den anderen Beschenkten. Das ist der Grund, weshalb das Gotteshaus auch ein Gottesdienstort ist.

 

Der Turm

Der Sinn eines Gotteshauses ist also in erster Linie, dass der Mensch einen Ort des Gottesgedenkens bereitstellt. Das wird bereits am Kirchturm deutlich. Die theologische Bedeutung des Kirchturms besteht in dem Verweis auf Gott mitten in der Welt. So kann man Kirchtürme gewissermaßen als Zeigefinger zum Himmel interpretieren, denn er lenkt den Blick der Gläubigen weg von der vergänglichen Erde hin auf die ewige Heimat beim allmächtigen Gott. Der Turm symbolisiert diese Macht. Dass Banken und andere Institutionen diesen Machtanspruch in ihren Türmen ausdrücken, ist nicht neu, sondern so alt wie die Menschheit; das zeigt bereits die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel in Gen 11,1-9.

Es fällt auf, dass der Eingang und der Turm oft auf derselben Seite des Kirchengebäudes stehen, nämlich im Westen. Das ist kein Zufall. Der Westen gilt als Ort des Sonnenuntergangs und der Finsternis. Der Kirchturm im Westen soll also vor den finsteren Mächten schützen. Luthers Vers „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“ (EG 362,1) ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn manche Kirchen weisen bis heute einen sogenannten Wehrturm auf. Diese Türme wurden so konstruiert, dass sie bei drohender Kriegsgefahr als Schutzräume für die Dorfbewohner dienen konnten.

 

Die Orientierung

Wer eine Kirche betritt, bewegt sich also in der Regel von Westen nach Osten. Auch diese Symbolik ist theologisch begründet, denn im Osten geht die Sonne auf, das Licht kommt aus dem sogenannten Morgenland, aus dem Orient. Der Gläubige, der nicht weiß, wie es weitergehen soll, findet in der Kirche Orientierung. Deshalb sind Kirchen in der Regel nach Osten ausgerichtet. Dort ist der Altarraum, in den durch zahlreiche Fenster das Licht fällt. In Ostergottesdiensten, die bei Tagesanbruch gefeiert werden, ist dies sinnlich erlebbar. Die Lichtsymbolik verweist auf Christus, der in Joh 8,12 als Licht der Welt bezeichnet wird. Ähnliches gilt für die Kerzen, die Licht und Orientierung spenden, indem sie sich selbst verzehren und opfern; damit symbolisieren sie zugleich die sich selbstlos hingebende Liebe Christi.

Wer sich also in einer Kirche orientiert, wird sich unweigerlich nach Osten zum Licht hinwenden. Tatsächlich erkennt man beim Betreten einer Kirche meist sofort, wo „vorne“ ist. Sitzbänke oder Stühle sind nach dorthin ausgerichtet. Der Weg führt den Besucher vom Dunkel in das Licht.

 

Die Kanzel

Der Blick wird unwillkürlich nach vorne in den Altarraum gelenkt. Dabei rückt die Kanzel ins Blickfeld. In allen Kirchen aller Konfessionen spielt das Wort eine zentrale Rolle. Der christliche Glaube basiert auf dem Wort Gottes, das Jesus Christus zu den Menschen gesprochen hat. Diese Worte wurden in den Evangelien aufgeschrieben. Das Johannesevangelium macht darüber hinaus deutlich, dass Jesus den Menschen nicht nur Gottes Worte weitergesagt hat, sondern dass er selbst Gottes Wort ist: „Im Anfang war das Wort.“ (Joh 1,1) „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.“ (Joh 1,14) Die hohe Wertschätzung des in den Evangelien aufgeschriebenen Wortes Gottes findet in den überaus prachtvoll geschmückten und verzierten Bibeln ihren Ausdruck.

Seit Martin Luther spielt in der evangelisch-lutherischen Tradition die Verkündigung des Evangeliums eine so wichtige Rolle, dass sie mit der Taufe und dem Abendmahl auf eine Stufe gestellt wurden. Nach lutherischem Verständnis sind die beiden Kennzeichen der Kirche – die Kirche hier verstanden im Sinne der Gemeinschaft der Glaubenden – laut Artikel 7 des Augsburger Bekenntnisses von 1530, dass „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (CA 7). In dieser Hinsicht ist deshalb die Kanzel ein Kennzeichen der Kirche – die Kirche hier verstanden im Sinne des Kirchengebäudes. Diese Gleichwertigkeit von Wort und Sakrament kommt in einigen lutherisch geprägten Kirchen durch den sogenannten Kanzelaltar architektonisch zum Ausdruck. Über dem Altar, an dem sich die Gemeinde zur Abendmahlsfeier versammelt, erhebt sich die Kanzel, von der herab der Pastor oder die Pastorin die Predigt hält. An diesem Punkt wird auch deutlich, dass es in der lutherischen Tradition nicht nur um die Verlesung und „Rezitation“ des Evangeliums geht; das geschieht in der Regel wie in anderen Konfessionen auch von einem besonderen Lesepult aus. Die Kanzel ist der Ort der Auslegung des Evangeliums. Hier geht es darum, den Bezug zum Leben des Glaubenden im Alltag der Welt herzustellen und seinen angefochtenen Glauben zu stärken. Dabei sind einige Elemente des Universitätslebens auf den Gottesdienst übertragen worden. Kirchenbänke wurden zum Beispiel erst mit der Reformation notwendig, damit die Gottesdienstgemeinde aufmerksam der Predigt folgen konnte, die in manchen Städten bis zu eine Stunde dauern konnte. In den Kirchen des Ostens sind Bänke und eine vollständige Bestuhlung bis heute die Ausnahme. Luther war Universitätsprofessor in Wittenberg und trug den schwarzen Talar als Amtstracht eines Gelehrten. Diese Tradition hat sich nicht nur bei Rechtsanwälten und Juristen erhalten, sondern auch bei Pastorinnen und Pastoren.

 

Der Taufstein

Das Abendmahl hat seinen festen Ort am Altar und damit im Zentrum der Kirche. Die Taufe dagegen findet am Taufstein statt; sein Standort variiert von Kirche zu Kirche. Das hat geschichtliche und theologische Gründe. Die ersten Christen wurden als erwachsene Taufbewerber in Flüssen getauft, indem sie vollständig untergetaucht wurden. Diese sogenannte Ganztaufe wurde auch beibehalten, als sich zunehmend die Taufe von Säuglingen durchsetzte. Große Steine wurden ausgehöhlt und verziert; bei der Taufe wurde das Neugeborene dreimal vollständig im Wasser untergetaucht, so wie es in einigen Ostkirchen heute noch Brauch ist. Hier wird das Ertränken des alten Adam drastisch veranschaulicht, der – wie Paulus in Röm 6 schreibt – in den Tod Christi getauft wird und mit ihm stirbt.

Im Laufe der Jahrhunderte wandten sich viele Kirchen von der Ganztaufe ab. Das dreimalige Untertauchen im Wasser schmolz zu einer symbolischen Handlung zusammen, bei der dem Täufling ein wenig Wasser über den Kopf gegossen wurde. Die großen Taufsteine verloren ihre Funktion, stattdessen wurden mancherorts kostbare Taufschalen angefertigt, die in die Taufsteine eingepasst wurden.

Einige christliche Kirchen haben an der Erwachsenentaufe festgehalten. Das wird konkret dadurch sichtbar, dass zum Beispiel bei den Baptisten zum Gottesdienstraum ein Wasserbecken gehört, in dem die erwachsenen Täuflinge untergetaucht werden.

Es gab auch Zeiten, in denen die Taufe nicht in der Kirche, sondern im privaten Rahmen stattfand. Manche Familien besaßen eine eigene Taufschale, in der von Generation zu Generation das Neugeborene im Rahmen einer gottesdienstlichen Familienfeier getauft wurde.

Dies erklärt, warum es zwar in jeder Kirche einen Taufstein gibt, sein Standort aber nicht in allen Kirchen einheitlich ist.

 

Der Altar

Das ist beim Altar anders. Er bildet die Sinnmitte der Kirche. Alle Blicke werden auf ihn gelenkt, alle Wege sind auf ihn ausgerichtet. Was die Kirche im Allgemeinen, das ist der Altar im Besonderen, nämlich ein Ort der Gottesbegegnung. Hier spricht der Pastor im Gottesdienst das Gebet; hier kniet das Brautpaar und empfängt Gottes Segen; hier versammelt sich die Abendmahlsgemeinde, um sich mit dem Leib und Blut des Gottessohnes zu vereinigen. Hier vollzieht der katholische Priester das Messopfer, denn laut der bis heute geltenden katholischen Lehre wird in der Feier der Eucharistie Christus unblutig erneut geopfert.

Die Reformatoren lehnten diese katholische Opfertheologie strikt ab; einzig die Form des Dankopfers ließen sie gelten. Dieser Dank der christlichen Gemeinde für die von Gott empfangenen Gaben wird im Erntedankgottesdienst besonders anschaulich, wenn der Altar mit Erntegaben geschmückt wird. In manchen Kirchen werden aus demselben Grunde die gefüllten Kollektenbeutel auf den Altar gelegt.

Darüber hinaus kann der Altar als „Tisch des Herrn“ gedeutet werden. Die um den Altar versammelte Abendmahlsgemeinde erinnert an das letzte Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern feierte. Es ist also kein Zufall, dass der Altar als Zentrum der Kirche auf vielfältige Weise betont wird. Das Kruzifix auf dem Altar weist auf den gekreuzigten Jesus Christus als das Zentrum des christlichen Glaubens. Dass er im wahrsten Sinne des Wortes den Grund der christlichen Kirche bildet, wird in manchen Kirchen auch architektonisch durch den Grundriss ausgedrückt, der ein Kreuz bildet und damit veranschaulicht, was mit den Worten des Paulus in 1 Kor 3,11 gemeint ist: „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Die aufgeschlagene Bibel auf dem Altar verweist auf das Wort Gottes, das seinen Ursprung nicht im Einfallsreichtum der Menschen hat, sondern das von Gott kommt und von den Menschen gehört und weitergesagt wird.

Die Leuchter auf dem Altar verweisen auf Christus als das Licht der Welt.

Manche Altäre sind darüber hinaus mit einem Flügelaltar ausgestattet. Sie stellen biblische Szenen und Personen aus dem Alten und Neuen Testament dar.

Die um den Altar versammelte Abendmahlsgemeinde ist auf diese Weise umgeben und eingebettet in die „Wolke der Zeugen“ (Hebr 12,1), die vor ihr gelebt und an Christus geglaubt hat. Oft sind weitere Darstellungen von Jüngern und Heiligen, Evangelisten und Märtyrern im Altarraum an den Wänden oder in den Kirchenfenstern zu finden. Sie machen deutlich: Der heute Glaubende ist nicht nur Teil der sichtbaren Gemeinschaft, die sich hier in der Kirche vor dem Altar versammelt; er ist darüber hinaus eingebettet und umgeben von all den Müttern und Vätern im Glauben, die vor ihm gewesen sind. Diese unsichtbare Gemeinschaft beschreibt Dietrich Bonhoeffer in seinem Lied „Von guten Mächten“: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.“ (EG 65,6) Die aktuelle Gottesdienstgemeinde bleibt also nicht „unter sich“, sondern sie singt ihr Gotteslob gemeinsam mit denen, die ihnen im Glauben bereits vorausgegangen sind.

So ist jedes Kirchengebäude und jede Gottesdienstfeier zugleich eine Erinnerung an Hebr 13,14: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“