„Ich wär’ so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu viel zu tun […]
Muss nur noch kurz die Welt retten, danach flieg ich zu dir.
Noch 148 Mails checken, wer weiß, was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel.“
(Tim Bendzko 2011)
Leistungs- und Zeitdruck, Stress, Überlastung – nur noch kurz die Welt retten: Tim Bendzko bringt in seinem Lied „Nur noch kurz die Welt retten“ (2011) nicht nur die Hektik und Zeitnot, sondern vor allem auch die Schwierigkeit zum Ausdruck, unterschiedliche Termine, Verpflichtungen und Lebensbereiche miteinander zu vereinbaren. [1]
Dies ist (nicht nur) Jugendlichen aus ihrer Lebenswelt bekannt: Nach dem Schultag folgen Hausaufgaben, möglicherweise Nachhilfe, der Sportverein und/oder die Musikschule, am Wochenende wird für Klassenarbeiten gelernt, der Sportwettkampf steht an und Zeit für die Freunde soll auch noch da sein. Der Alltag vieler Jugendlicher ist oft hektisch und von Zeit- und Leistungsdruck geprägt. Gute Noten haben, den Sportwettkampf gewinnen, viele Freunde haben und beliebt sein. Dabei spielt auch die Nutzung der neuen Medien eine große Rolle: Alle 18 Minuten wird die aktuelle Beschäftigung durch die Nutzung des Smartphones unterbrochen, Jugendliche nutzen ihr Handy im Schnitt drei Stunden am Tag.[2] Dabei belegen neuere Studien, dass die Nutzung des Smartphones und die damit einhergehende ständige Erreichbarkeit und Vernetzung via Facebook, WhatsApp, Telefon und E-Mail u.a. zu Depressionen führen kann und das Stressempfinden erhöht. [3] Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Jugendliche das Gefühl haben, dass das moderne Leben immer komplexer und stressiger wird. [4] Knapp ein Drittel gibt an, sich dauerhaft erschöpft zu fühlen. [5] Burnout ist damit längst kein reines „Erwachsenenproblem“ mehr, [6]sondern betrifft ebenfalls Schülerinnen und Schüler. [7]
Burn-out und Rechtfertigung im evangelischen Religionsunterricht
Trotzdem stellen Erschöpfungsdepressionen und das Burnout-Syndrom weitestgehend Tabu- oder wenigstens Randthemen dar. Der evangelische Religionsunterricht bietet hier die Möglichkeit, die Themen mit der Rechtfertigungslehre zu verbinden und vor dem Hintergrund biblisch-christlicher, lebensweltlicher sowie evangelisch-theologischer Perspektiven zu reflektieren. Der evangelisch-theologische Grundsatz „allein aus Glaube“, „allein aus Gnade“ (sola fide, sola gratia) eröffnet eine entgegengesetzte Perspektive, indem er die unhintergehbare, von Leistung losgelöste Annahme jedes Menschen durch Gott unmissverständlich und ohne Einschränkungen ausdrückt. Zugleich sind Erschöpfung und Überlastung zutiefst menschliche Gefühle, die sich bereits in der Bibel finden. [8]
Elija und die Emmausjünger
Sowohl die Flucht Elijas in die Wüste (1Kön 18) als auch der Weg der Emmausjünger nach Emmaus (Lk 24,13-35) sind bezeichnende alt- und neutestamentliche biblische Erzählungen, die nicht nur von Erschöpfung, sondern auch von der oft einhergehenden Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erzählen. [9] Trotz der Unterschiede beider Erzählungen verbleiben die Protagonisten jedoch nicht in ihrer belasteten Situation. Ihnen ist die Zuwendung und Hilfe Gottes in schwierigen Situationen gemein: „Es ist ein trostreicher Gedanke, dass Elia, als er in eine ernste Krise gerät und nicht mehr weiter weiß, von Seiten des Himmels zunächst etwas zu essen und zu trinken bekommt. Kein mahnender Finger, kein seelsorgerisches Gespräch, sondern er darf schlafen und essen. […] ‚Ich bin auch noch da.‘“ [10] Elija muss die Welt nicht alleine retten, Gott ist bei ihm.
Auch die Emmausjünger erfahren diese Zuwendung auf ihrem Weg nach Emmaus, indem Jesus sie „inkognito“ auf ihrem Weg begleitet. In ihrer tiefsten Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Glaubenskrise nach der Kreuzigung Jesu in Jerusalem begegnet er ihnen als Fremder, wird schließlich unerwartet zum „Gastgeber des Abendmahls“ [11] und lässt die Jünger neue Hoffnung und Kraft schöpfen. Mit der Aussage „Brannte nicht unser Herz?“ (Lk 24,32) bringt es ein Jünger auf den Punkt: Sie brennen wieder, das Ausgebranntsein des Weges ist wie ausgelöscht.
Diese jeweils unerwarteten Wandlungen der Handlung, die Unterstützung und Hilfestellung Gottes, stellt die besondere Eignung beider Geschichten im Kontext der Themen „Burnout und Rechtfertigung“ im evangelischen Religionsunterricht dar, indem sie den evangelisch-theologischen Grundsatz der Rechtfertigung in besonderem Maße verdeutlichen: Gott ist nicht nur dann bei den Menschen, wenn sie etwas leisten – er nimmt sie um ihretwillen an. Denn „es ist nicht der Mensch, der sich bemühen muss, um zu Gott zu kommen. Gott ist schon zu den Menschen gekommen. Darauf kann sich der Mensch verlassen.“ [12]
Unterrichtsideen und praktische Vorüberlegungen
Die hier dargestellten Unterrichtsideen für die Sekundarstufe 1 (7.-10. Klasse) stellen exemplarische Möglichkeiten des Umgangs mit den Perikopen „Elija am Horeb“ (1Kön 19) und dem Weg der Jünger nach Emmaus (Lk 24, 13-35) im Kontext von Burnout und Rechtfertigung [13] dar. Dabei liegt der Fokus auf der erfahrungsbezogenen Verknüpfung der Gefühlswelt mit dem Wandel ins Positive – Gottes Zuwendung in ernsten Krisen. Die Materialien können durch die Arbeit mit Bildern und Texten Anstöße geben, die Perspektive zu wechseln und sich mit eigenen Überlastungssituationen und möglichen Lösungen auseinanderzusetzen. Sie regen zu kreativen, individuellen Zugängen und Interpretationen an und laden zu vertiefenden, erfahrungsbezogenen Auseinandersetzungen ein.
Neben den im Folgenden dargestellten Zugängen bietet sich auch eine Auseinandersetzung mit dem Liedtext Tim Bendzkos als Einstieg in und zur Sensibilisierung für die grundlegende Thematik an, indem u.a. die eigene Lebensgestaltung – auch hinsichtlich des Gebrauchs neuer Medien und deren Einfluss auf den eigenen Alltag – bewusst gemacht und kritisch reflektiert werden können.
Elija
In der Elijaerzählung wird die Erschöpfung und Depression (Elias-Müdigkeit [14] ) von Elija ganz explizit erzählt: Nachdem Elija Großes vollbracht hat (1Kön 18), ist er am Ende. Er macht sich auf den Weg in die Wüste, kauert sich unter einen Ginsterbusch, vergräbt sein Gesicht in seinen Händen und möchte sterben (1Kön 19,4) – es ist ihm einfach alles zu viel. Dieses Gefühl des „Ich kann nicht mehr!“ / „Es ist mir zu viel!“ kennen auch Schülerinnen und Schüler aus ihrem Leben. Das Bild „Elija“ von Sieger Köder zeigt genau die beschriebene Situation und zeichnet sich vor allem durch die besondere Farbsymbolik aus: Während der Himmel über Elija in strahlendem Blau wiedergegeben wird und der Ginsterbusch gelb blüht, wird Elija in eher dunklen Erdtönen dargestellt, die sich kaum von dem Sand der Wüste abheben. Für eine gemeinsame Bildbetrachtung kann der Dreischritt „Ich sehe …“/ „Ich vermute …“/ „Ich frage …“ hilfreich sein, der neben einer klaren Struktur dazu anregt, das Bild unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu betrachten.
Der Zugang über das beschriebene Bild setzt vor der eigentlichen Textarbeit an den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler an. Die Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Grenzerfahrungen und dem Gefühl der Überforderung sensibilisiert für die Situation Elijas und knüpft an der Lebenswirklichkeit der Lernenden an. Indem der abschließende Schwerpunkt auf dem Austausch von Möglichkeiten der Hilfe liegt, wird der Bogen zu positiven Erfahrungen gespannt, welche in den Kleingruppen gesammelt und in Form einer Cloud dargestellt werden. Dabei dürfen die Lernenden z.B. wichtigere Wörter größer, unwichtigere kleiner schreiben oder den Worten passende Farben geben, um die einzelnen Schlagworte zu gewichten. Hier kann auch farbsymbolisch gearbeitet werden. Die entstandenen Clouds können abschließend in der Klasse ausgestellt, präsentiert und verglichen werden.
Alternativ oder ergänzend zu der Arbeit mit dem Bild bietet sich eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden Textausschnitt 1Kön 19 an (M 2). Die Schülerinnen und Schüler werden gebeten, den gelesenen Text zunächst allein in für sie sinnvolle Abschnitte zu gliedern. Durch das darauffolgende Verfassen kurzer WhatsApp-Nachrichten setzen sich die Lernenden vertiefend mit den Textstellen auseinander und übernehmen darüber hinaus die Perspektive Elijas. Die Möglichkeit der zusätzlichen Verwendung sogenannter Emojis [15] ermöglicht – neben der kurzen Textnachricht – den Einbezug von Elijas Emotionen. Nach einem kurzen Austausch werden die Lernenden dazu angeregt, eine letzte Nachricht von Elija unter dem Fokus der positiven Wandlung zu senden, welcher durch den Nachrichtenanfang im Vordergrund steht, so dass die Wandlung zum Guten durch Gottes Zuwendung im Mittelpunkt steht.
Emmausjünger
Genau diese Erfahrung machen auch die Emmausjünger. Die Auseinandersetzung mit der Erzählung „Der Weg nach Emmaus“ (Lk 24,13-35) (M 3) mithilfe eines Västerås-Gesprächs regt zu einer individuellen Auseinandersetzung mit dem Text an. Die Schülerinnen und Schüler markieren dabei mithilfe vorgegebener Symbole Stellen im Text, die ihnen besonders gut gefallen (Herz), die ihnen unklar sind (Fragezeichen), die sie widersprüchlich finden (Doppelpfeil) und an denen sie eine besondere Erkenntnis haben (Ausrufezeichen). Durch den darauffolgenden Austausch in einer Kleingruppe werden Parallelen und Unterschiede sichtbar.
Die genauere Betrachtung des Satzes „Brannte nicht unser Herz?“ (Lk 24, 32) lenkt den Fokus auf die Gefühlswandlung der Jünger. Hier kann – insbesondere aufgrund der metaphorischen Sprache – eine Zwischensicherung im Plenum sinnvoll sein.
Anschließend entwerfen die Lernenden gemeinsam ein Texttheater zum vorliegenden Text. Dabei dürfen Wörter und ganze Sätze weggestrichen und/oder wiederholt werden; jedoch darf nichts ergänzt werden. Durch das Kürzen, unterschiedliche Intonationen (laut, leise, als Chor, …), Wiederholungen etc. setzen sich die Lernenden sehr intensiv mit dem Text auseinander und nehmen eine eigene Interpretation vor. Die Texttheater werden abschließend im Plenum präsentiert und verglichen, so dass unterschiedliche Schwerpunkte und Lesearten sichtbar werden. Darüber hinaus bietet sich im Anschluss an die Präsentationen die Möglichkeit einer vertiefenden Diskussion.
Der Holzschnitt „Gang nach Emmaus“ von Karl Schmidt-Rottluff aus dem Jahr 1918 (M 4) zeigt die beiden Jünger, die mit gesenkten Häuptern neben Jesus gehen, ein Jünger mit deutlich gekrümmtem Körper, gestützt durch einen Stock. Ihre Körperhaltung und Mimik drücken ihre zerbrochenen Hoffnungen und ihre Niedergeschlagenheit in eindrücklicher Weise aus – sie lassen im wahrsten Sinne des Wortes die Köpfe hängen. Dieses Gefühl kennen auch Schülerinnen und Schüler aus ihrer Lebenswirklichkeit. Aber die Jünger gehen nicht alleine: Jesus geht in aufrechter Körperhaltung und mit freundlicher, offener Mimik in ihrer Mitte und begleitet sie auf ihrem Weg. Die ausgewählte Szene stellt das Gefühl des „Ausgebrannt-seins“ der Jünger in den Mittelpunkt, die Jesus noch nicht erkannt haben. Das Ausfüllen der Sprechblasen verleiht sowohl den Jüngern in ihrer Krise als auch Jesus eine Sprache. Auch hier ist eine Bildbetrachtung im Vorfeld oder im Anschluss an das Füllen der Sprechblasen möglich und sinnvoll.
Sodann regt das Schreiben eines Interviews in Partnerarbeit eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Erzählung, den Erfahrungen sowie dem Gefühlswandel der Jünger an: Hoffnungs- und Sinnlosigkeit verwandeln sich durch das Erscheinen Jesu in neue Hoffnung, die Jünger fassen neuen Mut – ihr Herz brennt wieder für ihre Überzeugung. Sie machen die Erfahrung, dass Jesus sie nicht verlassen hat und sich ihnen auch dann zuwendet, wenn sie zweifeln und ausgebrannt sind: Sola fide, sola gratia.
Anmerkungen
- Auszug aus dem Lied „Nur noch kurz die Welt retten“ von Tim Bendzko. Der gesamte Songtext ist online abrufbar unter: http://www.songtexte.com/songtext/tim-bendzko/nur-noch-kurz-die-welt-retten-6be972a2.html.
- Vgl. Markowetz 2015.
- Vgl. Spitzer 2016
- Vgl. Deutschlandradio 2015.
- Vgl. Deutsche Presseagentur 2015
- Vgl. in diesem Heft Lück/Effert 2016.
- Vgl. Lück/vom Stein 2013.
- Vgl. dazu in diesem Heft Lück/Effert 2016
- Vgl. dazu in diesem Heft Effert/Lück 2016.
- Butting/Minnaard/Liechti-Möri 2004, 24.
- Lück/vom Stein 2013, 7.
- Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.) 2015, 28.
- Für umfassendere praktische Umsetzungsmöglichkeiten empfiehlt sich: Lück/vom Stein 2013.
- Siehe dazu in diesem Heft Effert/Lück 2016.
- Emojis sind Symbole und Piktogramme, u. a. Gesichter, die verwendet werden können, um Emotionen auszudrücken und/oder den Inhalt visuell zu unterstreichen.
Literatur
- Butting, Klara/Minnaard, Gerard/Liechti-Möri, Jürg (Hg.): Talita kum: Mädchen, steh auf! Wittingen 2004
- Deutsche Presseargentur: Burnout bei Kindern. Schüler sind immer häufiger überlastet, in: Wirtschaftswoche 12.03.2015, abrufbar unter: www.wiwo.de/erfolg/trends/burnout-bei-kin dern-schueler-sind-immer-haeufiger-ueberlastet/11494220.html
- Deutschlandradio: Burnout von Kindern. Der Psychiater Michael Schulte-Markwort im Gespräch mit Liane von Billerbeck, 2015, abrufbar unter www.deutschlandradiokultur.de/burn out-bei-kindern-die-symptome-der-erschoepfung-sind.1008.de.html?dram:article_id=313018
- Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart 2006
- Lück, Christhard / vom Stein, Gunther: Brannte nicht unser Herz? Burnout und Rechtfertigung, :in Religion 08/2013
- Markowetz, Alexander: Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist, München 2015
- Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, 4. Aufl., Gütersloh 2015
- Spitzer, Manfred: Smart Sheriff gegen Smombies, in: Zeitschrift Nervenheilkunde 3/2016, 95-102