Luther in der Grundschule?
Das Reformationsjubiläum 2017 ist eingeläutet. Lutherkekse, Luthersocken – und die Debatte darüber, wie das Jubiläum begangen werden sollte, ist im regen Gange. Sitzen wir mit einer Konzentration auf die Person Luthers einer Luther-Glorifizierung auf? Ist unser Lutherbild nur mehr eine Luther-Persiflage? Verdrängen wir die Schattenseiten des Reformators? Oder drohen wir mit unserer Luther-Kritik, mancherorts einem rechten „Luther-Bashing“, zu Nestbeschmutzern der Reformation zu werden?
Luther – alle Wege. Auch in der Grundschule? Welches Potential hat das Thema „Luther“ in der Grundschule?
Luther gehört in die Grundschule!
Um es gleich vorweg zu nehmen: Luther gehört in die Grundschule! Und zwar nicht (nur), weil der Reformator historisch eben doch die Zentralfigur der Reformation ist. Sondern vor allem (auch), weil sich in ihm Zentralpunkte der Reformation verdichten – und zwar Zentralpunkte, die für das persönliche Leben der Schülerinnen und Schüler von größter Aktualität sein können – und sich narrativ spielend einfangen lassen
Zunächst zur Klärung die folgende Frage für das Kopfkino: In welcher Situation befinden sich Schülerinnen und Schüler einer 4. Klasse? Nach meiner Beobachtung befinden sie sich in einer mehrfachen Umbruchsi-tuation. Vier Jahre lang haben sie gemeinsam gelernt, gespielt und manchmal gestritten. Vertrautheit, wenn nicht ein Vertrauensverhältnis ist daraus erwachsen. Im Mit-, Neben- und auch Gegeneinander sind aus den Schulanfängern junge Menschen geworden, die sich, entwicklungspsychologisch betrachtet, in der Regel in der Vorpubertät befinden
Die gemeinsame Vergangenheit ist jedoch nur der erste Aspekt, der die Klassengemeinschaft bestimmt. Gemeinsam blickt die Klasse auch in eine Zukunft. Alle Schülerinnen und Schüler gehen mit der Frage um, was der Übergang in die weiterführenden Schulen ihnen bringen wird: „Welche Schule wird mich aufnehmen? Wie wird es mir dort ergehen?“
Dabei ist den Kindern bewusst, dass am Ende der gemeinsamen Schwellensituation die Trennung ihrer Wege stehen wird. Unterschiedlich sind die Mischungsverhältnisse der Gefühle im Blick auf das nächste Schuljahr: Zuversicht und Aufbruchsstimmung finden sich wie auch die Angst vor dem Neuen und der Wunsch, lieber in der gewohnten Klasse, der bekannten Schule, bei den vertrauten Lehrerinnen zu bleiben. Orientierungslosigkeit und Orientierungswille ringen miteinander. Manch gelegentlicher „cooler“ Gleichmut verbirgt vielleicht Enttäuschung. Die durch die beginnende Pubertät angestoßenen Veränderungen im Selbstbild und in den eigenen Stimmungen verstärken die Unsicherheit der Schülerinnen und Schüler
Gemeinsam ist allen Kindern die Erkenntnis, dass sie bald nach ihrem Leistungsstand getrennt werden. Das Leistungsprinzip hat sich auf diesem Wege in die Kinderwelt hineingedrängt. Das geht den Leistungs-schwächeren näher als den Leistungsstärkeren, bei denen die Neugier, der Wissensdurst, der Ehrgeiz und die Zuversicht, gut mithalten zu können, dominieren. So gilt in mehrfacher Hinsicht: Die Kinder sind fast keine Kinder mehr
Was kann Luther hier leisten?
Die These lautet: Die unterrichtliche Situation in der Grundschule ist ein Prüfstein dafür, ob die Reformation uns heute noch irgendetwas zu sagen hat. Denn was ist der Kern der Reformation? Der Kern ist doch Luthers Erkenntnis, dass der Mensch nichts leisten muss, um von Gott angenommen zu werden, sowie die Luther aus diesem Glauben erwachsende Kraft
Nach der vorhergehenden Skizze liegt die Anschlussfähigkeit dieses Themas für die Schülerinnen und Schüler auf der Hand: Luther zu behandeln, kann bedeuten, ein aktuelles Lebensthema von hoher Relevanz wahr- und ernst zu nehmen, nämlich die Frage des Angenommen-Seins, des Wert-Seins, der Anerkennung jenseits von Leistungsimperativen. Die fortschreitende Erarbeitung der Wege und Erkenntniswege Luthers ermöglicht gerade durch die Verfremdung Identifikation. Martin Luther hat aus seinem Glauben Kraft gewonnen für seine Lebensaufgaben – in Worms und auf der Wartburg. In der Nachfolge Luthers fragen die Schülerinnen und Schüler deshalb: „Was gibt mir Kraft und Halt?“ So kann es gelingen, ihnen den Übertrag der befreienden Erkenntnis Luthers auf ihr eigenes Leben anzubieten: „Ich muss nichts leisten, um von Gott geliebt zu werden! Das zu wissen, gibt mir Kraft! – Es gibt Kraft für alles, was vor mir liegt: der Schulwechsel, die damit verbundenen neuen Aufgaben etc.“ Die Unterrichtssequenz kann so dazu beitragen, eine Tiefendimension im (Glaubens-)Leben der Schülerinnen und Schüler einzuziehen und ihnen eine fundamentale Stärkung für ihren weiteren Lebensweg, auch für Misserfolgserfahrungen, zuzusprechen. Das Konzept der hier vorgestellten Luther-Sequenz lautet also bündig: Statt Musealisierung ins Herz der Reformation!
Kompetenzbezug
Die Unterrichtssequenz steht damit im Dreieck zwischen den drei inhaltsbezogenen Kompetenzen „Nach Gott fragen“, „Nach dem Menschen fragen“ und „Nach Glauben und Kirche fragen“. Die Verknüpfung des kirchengeschichtlich-konfessionskundlichen Themas mit den „Tiefenthemen“ Menschen- und Gottesbild zieht dabei eine Tiefendimension in das Thema „Luther“ ein, die die ausführliche Behandlung des Themas erst rechtfertigt. Das Vorstellen Luthers als Suchenden, auch Irrenden, verhindert zugleich eine Mythisierung und Heldenverehrung Luthers, die seiner Intention, nicht auf sich, sondern neu auf die Schrift zu zeigen, entgegenstehen würde. Die gesamte Einheit zielt neben dem Erwerb von Sachwissen über Luther letztlich daraufhin, eine persönliche religiöse Weiterentwicklung der Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen
Eine kontinuierliche Vertiefung wird im Rahmen der Unterrichtssequenz auch hinsichtlich der Anbahnung der prozessbezogenen Kompetenzen angestrebt. So setzt die Sequenz mit Stunden ein, in denen das „Beschreiben“ im Vordergrund steht. Mit zunehmendem Sachwissen mehren sich Unterrichtsinhalte, in denen das „Verstehen und Deuten“ im Vordergrund steht. Zunehmend nimmt die Reihe dann auch die Kompetenzen „Kommunizieren und Teilhaben“ und in Ansätzen „Gestalten und Handeln“ in den Blick. Im Kern strebt die Einheit in prozessbezogener Hinsicht damit die Förderung von Sprach- und Gestaltungsfähigkeit an.
Wie kann man das erreichen?
Kurz: Nicht in einer Stunde. Die Verfasserin hat eine 14-stündige Unterrichtssequenz zum Thema „Martin Luther – sein Leben und seine reformatorischen Anliegen“ entwickelt. Flankierend dazu erfolgte im Sach-unterricht eine Behandlung des Themas „Mittelalter“
Denn erstens muss vor einer Übertragung gesät sein, was übertragen werden soll. Die erste Voraussetzung sind also Sachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler über Martin Luther und seine Gottesbeziehung
Zweitens benötigen die Schülerinnen und Schüler Vorerfahrungen im Übertrag auf ihr Erleben. Im Rahmen der gesamten Unterrichtssequenz werden sie deshalb immer wieder dazu angeregt. Ein wiederholt eingesetztes Mittel zum Ins-Gespräch-Kommen mit Luther sind dabei Zeitreisen, die im Sitzkreis durchgeführt werden. Sie erlauben den Schülerinnen und Schülern, in Martins Gedanken- und Gefühlswelt einzutauchen, sein Erleben nachzuempfinden und sich zu ihm in Beziehung zu setzen. Dabei schließen die Zeitreisen an das Interesse der Kinder an fremden Welten und anderen Zeiten an. Sie lernen Martin Luther auf diese Weise als einen Menschen kennen, der sich immer wieder im Kontakt zu Gott befindet: in der Angst vor Gott, im Bemühen, ihm zu gefallen, in der Verzweiflung und der Wut usw.
Didaktische Schwierigkeiten
Gleichwohl bleibt der angestrebte Übertrag zwischen Martin Luther und den Schülerinnen und Schülern ein Wagnis, und zwar aus verschiedenen Gründen: Erstens ist und bleibt die Welt Martin Luthers trotz aller Vermittlungsversuche für heutige Kinder eine Fremd-Welt. Die praktischen Lebensumstände Martins bewerten sie – mit Pferd, Entführung und Verkleidungsmaskerade – zwar als an sich spannend. Schwieriger ist es für sie, die Gottesverzweiflung Martin Luthers und seine fundamentale Angst vor der Verwerfung durch Gott nachzuvollziehen. Die Tatsache, dass für Martin Luther als mittelalterlichem Menschen die Ausblendung Gottes nicht denk-möglich war, ist schwer vermittelbar. Damit ist es für die Schülerinnen und Schüler jedoch schwer nachvollziehbar, wie befreiend Martins Luthers Erkenntnis war und ist. Dies hängt mit der zweiten Übertragungs-Schwierigkeit zusammen:
Viele heutige Kinder besitzen bereits, ob sie sich persönlich nun in einer Gottesbeziehung begreifen oder nicht, ein Vorwissen davon, dass Gott jeden einzelnen Menschen liebt. Die Verweigerung, sich noch einmal neu auf die Frage nach den eigenen Kraftquellen und Gott einzulassen, ist ein mögliches Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Es ist didaktisch genau zu bedenken, wie sie dazu motiviert werden können, ohne durch eine zu starke Lenkung ihre Offenheit im Nachdenken einzuschränken.
Der Aufbau der Sequenz
Die Unterrichtseinheit folgt in Schlaglichtern dem Lebensweg Martin Luthers. Eingebunden in diesen narra-tiven Faden sind Haltepunkte, an denen die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, über Luthers Menschen- und Gottesbild sowie deren Entwicklungen zu reflektieren
Eingeführt wird das Thema über eine Zeitreise und Bildinterpretation, durch die die Schülerinnen und Schüler an die Lebenswelt Luthers sowie die Hoffnungen und Ängste der Menschen im Spätmittelalter, vor allem an die Gerichts- und Höllenangst, herangeführt werden. Durch die Erarbeitung der Lebensumstände Luthers als Kind und jungem Erwachsenen können die Schülerinnen und Schüler den Reformator als Person in ersten Ansätzen beschreiben
In der dritten Stunde werden die Schülerinnen und Kinder durch die Erzählung des Ereignisses von Stotternheim mit der Frage konfrontiert, weshalb Luther ins Kloster gegangen ist. Sie können darstellen, dass Luther aus Angst ins Kloster eingetreten ist, und einordnen, dass seine Ängste typisch für die Menschen im Mittelalter waren. In der vierten Stunde wird das Gewonnene nochmals problematisiert und vertieft. Anhand eines Briefes Martins an seinen Vater können die Schülerinnen und Schüler belegen, dass Martins Ängste vor Gottes Gericht für ihn von solchem Gewicht waren, dass er sich selbst über den Wunsch seines Vaters hinwegsetzte. Sie können formulieren, dass Martin mit dem Klostereintritt die Hoffnung verband, ein Leben zu führen, das Gott gefällt, um so von seinen Ängsten befreit zu werden
Dem narrativen Faden folgend, können die Schülerinnen und Schüler im Anschluss an die fünfte Stunde das Klosterleben beschreiben und sich in Ansätzen mit der Frage auseinandersetzen, ob Luther stets alle Klosterregeln einhalten und nie Fehler machen kann. Diese Frage vertieft dann eine sechste Stunde. In ihr können die Schülerinnen und Schüler Stellung nehmen zu der Frage, ob der Mensch fehlerlos sein kann
Die anschließende 7. und 8. Stunde beinhaltet ein stagnatives Element. Als Stundenziel können die Schü-lerinnen und Schüler Luther als einen Menschen darstellen, der trotz seiner Ängste und Verzweiflung ein Suchender bleibt. Sie können die Merkmale von Pilgerfahrten, Reliquienverehrung und Ablasshandel be-nennen und jeweils erläutern, dass all dies Versuche waren, Gott zu versöhnen und die eigenen Ängste zu überwinden
Nach diesem langen Vertiefungsprozess thematisiert die 9. Stunde die reformatorische Wende. Die Schü-lerinnen und Schüler können mit Hilfe des Gleichnisses vom verlorenen Sohn die Veränderung in Luthers Menschen- und Gottesbild erklären und den damit verbundenen Stimmungsumschwung erörtern
Die aus der reformatorischen Entdeckung gewonnene Kraft illustrieren die 10. bis 12. Stunde, in denen Luther gegen den Ablass auftritt, in Worms bei seinem Glauben bleibt und schließlich auf der Wartburg die Bibel übersetzt. Die Schülerinnen und Schüler können diesen kirchengeschichtlichen Ablauf wiedergeben und entfalten, dass Luther durch seine Entdeckung gestärkt, befreit und zur Tat angeregt wurde.
Der Höhepunkt der Einheit
Nachdem die Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Sequenz in kürzeren Phasen bereits eine erste Übertragung vornehmen, können sie in der 13. Stunde einen Übertrag der gesamten Einheit leisten. Angeregt dazu werden sie durch eine Zeitreise, in der sie dem alten Martin zuhören, der in Schlaglichtern auf sein Leben blickt. Dabei dienen die Lebensstationen vor allem als Vehikel zur Erinnerung an Luthers Gottes- und Menschenbild sowie an seine Gefühle vor und nach seiner, wie er betont, aus der Bibel gewonnenen reformatorischen Entdeckung
Im direkten Anschluss an die Zeitreise können die Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Psalmen-sprüchen eine wertende Auswahl treffen: „Warum und in welcher Situation könnte ihm einer dieser Sprüche gefallen haben?“
Von hier aus ist der Transfer erleichtert: „Martin fühlt sich von Gott geliebt! Diese Sprüche hier waren seine Kraftwurzeln. All das, was ihr genannt habt, das waren die Früchte, die daraus erwachsen sind.“ In einer gestalterischen Einzelarbeit können die Schülerinnen und Schüler im Anschluss eigene „Kraftwurzeln“ aus-suchen, formulieren, gestalten und darüber nachdenken, für welche eigenen Lebensaufgaben (Früchte) diese ihnen Kraft spenden mögen. Im Stundenverlauf bekleben sie dabei einen Baum mit ihren „Kraftwurzeln“ und behängen ihn mit ihren erhofften „Früchten“
In einer letzten, anschließenden Stunde können die Schülerinnen und Schüler ihre Bücher, die sie im Verlauf der Einheit verfasst und gestaltet haben, fertigstellen, indem sie ein Deckblatt mit der Martin-Luther-Rose sowie einem je eigenen Wappen gestalten.
Hat das wirklich Relevanz?
Ausgangspunkt des Denkens Luthers – und Initial der Reformation – war, dass der Reformator, obwohl er „alles gethan [habe], was ich kunde“ [1], „imer gedacht [habe]: O wenn wiltu ein mal from werden und gnug thun, das du einen gnedigen Gott kriegest?“ [2] Mit seiner (Wieder-)Entdeckung der gerecht machenden Gnade Gottes löste Luther den Bedingungszusammenhang zwischen Heilserlangung und Lebensvollzug auf. Die Vorstellung eines Richter-Gottes wurde durch das Bild eines – durch Christus – zugewandten Gottes abgelöst
Ist das nicht fern unserer Lebenswelt und noch ferner der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler? Glaubenssätze, die nicht mehr erklärbar und emotional nachvollziehbar sind, haben keine Bedeutung für den Menschen und wirken damit auch nicht mehr lebensspendend.
Deshalb gilt es, das „sola gratia“ neu zu versprachlichen: Die Versöhnung geht von Gott aus. Er bringt den Menschen in seine Person-Mitte [3], nicht etwa, weil dieser „Anerkennung verdient hat. Gottes Liebe und Annahme ist keine Reaktion auf das Liebenswerte und Annehmbare am Menschen. Sie geht viel tiefer. Sie meint den Menschen als Ganzen, auch in seiner Gebrochenheit und Selbstbezogenheit.“
Rechtfertigung im Glauben als das Zur-Ruhe-Kommen, das In-seiner-Person-Mitte-Sein, das Gegründet-sein-in-Gott, das wertvolle, zwecklose Sein: Diese Versprachlichung des alten Zusammenhangs ist heute durchaus anschlussfähig, auch für die Schülerinnen und Schüler einer 4. Klasse, die die Suche nach Identität umtreibt.
Anmerkungen
- WA 37, 661, Z. 21f.
- A.a.O., Z. 23f.
- Vgl. dazu etwa: Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode. Aus dem Dän. übers. von Emanuel Hirsch. 4. Aufl. Gütersloh 1992 (Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke. Hg. v. Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Abt. 24/25) (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern, 620).
- Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). 4. Aufl. Gütersloh, 2015, 66.