Skizze eines biblizistischen Umgangs mit der Bibel
Was kennzeichnet einen biblizistischen Umgang mit der Bibel? Betrachten wir dazu einen Auszug aus der „Erklärung der Evangelischen Allianz“ von 1989:
„In allen Fragen des Glaubens, in allen Fragen der Lebensführung steht der Mensch vor einer völlig zuverlässigen Offenbarung Gottes in der Schrift. Und weil sie Gottes zuverlässige Offenbarung ist, gibt es keine Norm, die da, wo die Bibel spricht, für unseren Glauben und unser Leben eine höhere Autorität darstellen könnte, als es die Heilige Schrift ist. Alle anderen Autoritäten – es sei der Zeitgeist, ‚die Wissenschaft‘, Ideologien oder das eigene Denken, Fühlen und Wollen – müssen sich der Autorität der Offenbarung Gottes unterstellen. … Leider ist es hie und da Mode geworden, dass sich der Mensch über Gottes Wort erhebt und meint, es besser zu wissen, und von daher die Bibel kritisiert oder als überholt abtut. Doch gegenüber Gottes Offenbarung ist Kritik nicht angebracht.“
Hier sind folgende Aspekte eines Biblizismus erkennbar:
Jede Form einer historisch-kritischen Rückfrage an die biblischen Texte wird abgelehnt. „Historisch“ meint in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass die biblischen Texte zeitgebundene Zeugnisse von Gottes Wort sind, die mit den Methoden der Geschichtswissenschaft gewinnbringend befragt werden können. „Kritisch“ bedeutet hier, dass die neutestamentliche Wissenschaft – sofern sie sich der historisch-kritischen Methode bedient – die christliche Qualifizierung der biblischen Texte als „Wort Gottes“ ausklammert. Sie untersucht gleichsam nur die „menschliche“ Seite dieser Texte, ohne ein Urteil darüber zu fällen, inwiefern wir hier dem „Wort Gottes“ begegnen (Roose 2009a, S. 10-11). Ein biblizistischer Ansatz fokussiert demgegenüber die „göttliche“ Seite des biblischen Textes; und zwar so stark, dass er ihm eine „menschliche“ Seite abspricht. Die Bibel ist – direkt und ohne Abstriche – „Gottes Wort“. Damit hat der biblische Text höchste Autorität, der sich alle anderen Autoritäten unterwerfen müssen. Daraus ergeben sich im Rahmen eines biblizistischen Ansatzes mehrere Konsequenzen:
Der „Zeitgeist“ eignet sich nicht, um biblische Texte besser zu verstehen. Denn sie repräsentieren eine zeitlose, statische Wahrheit. Biblische Aussagen – z.B. im Bereich der Ethik – lassen sich daher unverändert in unsere Zeit übertragen.
Ergebnisse aus der „Wissenschaft“ werden in dem Maß verworfen, wie sie biblischen Aussagen zu widersprechen scheinen. Z.B. werden Urknall- und Evolutionstheorie abgelehnt, weil sie (angeblich) unvereinbar mit den Schöpfungserzählungen aus 1.Mose 1-2 sind.
Biblische Erzählungen werden weitgehend als Tatsachenberichte gelesen.
Die Bibel enthält keine Irrtümer oder inneren Widersprüche, denn das würde bedeuten, dass Gott sich irrt oder sich selbst widerspricht. Die Einheit des biblischen Kanons wird betont.
Persönliche Überzeugungen und Wünsche der Lesenden sind der Autorität der Bibel unterzuordnen.
Biblizismus und evangelischer Religionsunterricht in der Grundschule
„Die Bindung an das biblische Zeugnis von Jesus Christus schließt nach evangelischem Verständnis ein, dass der Lehrer die Auslegung und Vermittlung der Glaubensinhalte auf wissenschaftlicher Grundlage und in Freiheit des Gewissens vornimmt.“ (EKD 1972, S. 124).
Dieser Satz ist Teil einer Stellungnahme, in der die Evangelische Kirche Deutschlands 1971 erläutert, was sie unter den „Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ nach Art 7,3 GG versteht. Mit diesem Satz distanziert sich die EKD deutlich von einem biblizistischen Zugang: Wissenschaftlichkeit im Umgang mit der Bibel und die Freiheit des Gewissens gegenüber der Bibel werden nicht nur anerkannt, sondern eingefordert. Glaubensinhalte bedürfen der Auslegung, also eines hermeneutischen Zugangs. Deshalb setzen sich Lehramtsstudierende für das Fach Evangelische Religion an den Universitäten (u.a.) mit historisch-kritischer Exegese auseinander. Sie können dabei lernen, dass es sich bei biblischen Erzählungen nicht um historische Protokolle handelt, sondern um zeitlich bedingte Glaubenszeugnisse unterschiedlicher Menschen. Sie können lernen, dass die Frage, inwiefern wir biblische Aussagen für heutige (ethische) Probleme fruchtbar machen können, besonderer hermeneutischer Reflexion bedarf (Kirchhoff 2003, S. 25-32)1. Sie können lernen, dass das Lesen und Verstehen biblischer Texte kein Prozess der Unterwerfung ist, sondern ein aktives Sich-Auseinander-Setzen, das zu einer Deutung führen kann, die neben anderen Deutungen desselben Textes zu stehen kommt und als solche zu vertreten ist.
Auf der normativen Ebene ist das Verhältnis von Biblizismus bzw. Fundamentalismus und evangelischem Religionsunterricht also klar im Sinne einer Abgrenzung definiert. Schaut man in die Praxis, dann stellt sich die Frage differenzierter dar. Horst Klaus Berg spricht gerade in der Grundschule von einem „unreflektiert normativen Gebrauch der Bibel“ und führt dazu aus: „Von unreflektiert-normativem Gebrauch der Bibel spreche ich, wenn sie den heutigen Adressaten als selbstverständliche, unbefragte Autorität vorgestellt wird und diese keine Möglichkeit haben, sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen.“ (Berg 1993, S. 32) Diese Art des Gebrauchs hat mit einem biblizistischen Zugang gemein, dass die Bibel als unbefragte Autorität präsentiert wird. Während diese Prämisse bei einem biblizistischen Ansatz jedoch explizit formuliert wird, bleibt sie im Religionsunterricht der Grundschule oft unreflektiert. Damit bleiben aber auch die Konsequenzen, die sich aus diesem Zugang zur Bibel ergeben, unreflektiert. Das heißt: Ein implizit „biblizistischer“ Umgang mit biblischen Texten begegnet – gerade in der Grundschule – häufiger als vermutet, und zwar nicht deshalb, weil sich die Lehrkräfte bewusst zu einer biblizistischen Position bekennen, sondern weil sie ihre Art der Präsentation biblischer Texte an diesem Punkt nicht immer ausreichend reflektieren.
Berg benennt als ein Merkmal eines unreflektiert-normativen Gebrauchs biblischer Texte die Art, wie Geschichten erzählt werden: „Hier wird die Überlieferung meist so wiedergegeben, als wenn es sich um Tatsachenberichte handelte.“ (Berg 1993, S. 32) Damit benennt Berg einen Aspekt, der auch kennzeichnend für einen biblizistischen Zugang ist (s.o.). Betrachten wir dazu ein Beispiel aus einer dritten Grundschulklasse, die das Thema „Mose“ behandelt.2
Die Lehrkraft erzählt davon, wie Mose mit ansieht, dass ein ägyptischer Aufseher einen Israeliten erschlägt. Sie berichtet dann von der Reaktion des Mose:
L: Er [Mose] hat was ganz Blödes gemacht. Er ist nämlich (unverständlich) so sauer gewesen und dann hat er sich umgeguckt und dann hat er gesehen, er ist ganz alleine mit dem Aufseher. Und dann hat er etwas gemacht, was man eigentlich gar nicht tun darf, er hat den Aufseher nämlich getötet. … Und dann hat er den Aufseher, weil er Angst gekriegt hat, in Sand eingebuddelt und ist abgehauen. Mehrere Kinder: War das wirklich so? L: Das war in echt so. Er hat den Aufseher, der den Israeliten getötet hat, selber getötet und hat ihn eingebuddelt und ist weggelaufen. |
Die Lehrkraft bekräftigt auf Nachfrage die Faktizität eines historischen Berichts. Sie sagt z.B. nicht: „Die Geschichte erzählt es uns so.“ Die Lehrkraft erzählt dann weiter und kommt schließlich zu dem Punkt, an dem Gott aus dem brennenden Dornbusch zu Mose spricht. Mose wirft den Hirtenstab zu Boden und es wird eine Schlange daraus. Die Lehrkraft schließt mit dem Auftrag Gottes an Mose, zum Pharao zu gehen, damit das Leiden aufhöre.
L: Das hat Mose sich also nicht ausgedacht, sondern woher hat Mose diesen Auftrag bekommen? Wer kann das noch einmal sagen? Stimme aus der Klasse (ruft rein): Gott. L: Wer hat Mose diesen Auftrag gegeben? Frank. Frank: Gott. L: Und wenn man von Gott einen Auftrag bekommt, dann … kann man den ablehnen? Stimmen aus der Klasse: Nein! Nein! L: So! Du kriegst jetzt noch ein zweites Blatt, dort hast du … Marie. Marie: Ich hab noch eine Frage. L: Ja. Marie: Ehm also, aber heute passiert das doch gar nicht mehr, dass Gott mit einem spricht? L: Nein. Mit den meisten Menschen nicht. Aber vielleicht gibt es doch den ein oder anderen, mit dem Gott schon mal gesprochen hat. |
Die Lehrkraft macht bezüglich der Deutung der Vision und Audition des Mose eine Alternative auf: ausgedacht oder von Gott. Sie konnotiert die erste Alternative eindeutig als „falsch“ und insistiert darauf, dass Gott Mose den Auftrag gegeben habe. „Das war schon etwas Besonderes.“ lautet ihr Fazit. Die Alternative „ausgedacht oder von Gott“ verweist Gott und damit die Erzählung vom brennenden Dornbusch in den Bereich des Faktischen – im Unterschied zum Fiktiven, Ausgedachten, „Scheinbaren“. Das Faktische erhält hier zusätzlich die Zuschreibung des Besonderen.
Marie macht demgegenüber in ihrem Einwand einen Gegensatz zwischen damals und heute auf: Heute spricht Gott nicht mehr mit Menschen, damals offenbar schon. Vielleicht reicht der Zweifel aber auch weiter: Wenn es stimmt, dass Gott heute nicht mehr mit Menschen spricht, wie glaubhaft ist es da, dass er es damals getan hat? Mit ihrer Frage zweifelt Marie indirekt die Faktizität der Erzählung an. Die Lehrkraft korrigiert in ihrer Antwort den Gegensatz von damals und heute und betont, dass Gott damals wie heute nur mit ganz wenigen Menschen spricht. Damit knüpft sie an ihre abschließende Aussage an, nach der es etwas ganz Besonderes war, dass Gott Mose einen Auftrag erteilt hat. Indirekt ist damit auch gesagt, dass Menschen damals wie heute nicht damit „rechnen“ können, dass Gott mit ihnen spricht. Bei dieser Art der Gottesrede handelt es sich also grundsätzlich um ein Phänomen, das sich der eigenen empirischen Überprüfung weitgehend entzieht. Auf diese Weise „immunisiert“ die Lehrkraft die Erzählung gegen Zweifel an ihrer historischen Glaubwürdigkeit.
Insgesamt fällt auf, dass die Lehrkraft auf zweifelnde Nachfragen der Kinder so reagiert, dass sie die historische (!) Glaubwürdigkeit der Erzählung verteidigt. Genau das meint Berg mit seinem Vorwurf eines unreflektiert-normativen Gebrauchs der Bibel.
Anregungen für die Praxis
Wie könnte nun ein – im Sinne Bergs – reflektierterer Umgang mit biblischen Erzählungen aussehen? Wie können Lehrkräfte Möglichkeiten der kritischen Auseinandersetzung eröffnen? Ich skizziere dazu zwei Gedanken.
Die Erzählgestalt des Textes stark machen
Oberthür weist in seiner Einleitung zum Buch Exodus aus der „Bibel für Kinder und alle im Haus“ einerseits auf einen „historischen Kern“ des biblischen Textes hin3 und betont andererseits die Wirkmächtigkeit der Erzählung über viele Generationen hinweg:
„Wir wissen aber, dass dies vor mehr als 1200 Jahren vor Christus geschehen ist und dass es eine ungeheuer starke Erfahrung für das noch kleine Volk Israel war, die deshalb immer weitererzählt wurde. Genauso ist diese Erfahrung für Christen die Grundlage des Glaubens: Gott ist nicht allein Schöpfer von Welt und Mensch, sondern auch Befreier besonders der Menschen, die schwach, unterdrückt und zu kurz gekommen sind.“ (Oberthür 52007, S. 82)
Von diesem Zugriff her rückt der biblische Text als relevante Erzählung in den Blick: Warum erzählen Menschen die Geschichte so und nicht anders? Warum erzählen sie sie immer weiter? Von hier aus lässt sich die Szene am brennenden Dornbusch noch einmal ganz anders beleuchten, etwa anhand folgender Fragen: Wie wirkt Feuer? Wie fühlt es sich an? Wie stellt ihr euch Worte vor, die aus einem brennenden Dornbusch kommen etc.
Die Vielfalt des Kanons stark machen
Während biblizistische Zugänge zur Bibel deren Einheit betonen, bietet es sich didaktisch an, die Vielfalt des Kanons zu thematisieren (vgl. Roose 2009b, S. 41-42) – und zwar auch schon in der Grundschule. Denn die Vielfalt des Kanons kann als „check on authoritarianism“ gedeutet werden, als „part of an insistence on there being legitimately different Christian perceptions of the truth“ (Barton 2003, S. 26). In den höheren Grundschulklassen bietet sich das insbesondere bei den Weihnachts- und Schöpfungserzählungen an. Warum erzählt Matthäus so und Lukas anders? Warum haben beide Evangelisten – im Unterschied zu Markus – überhaupt das Bedürfnis, von Jesu Geburt zu erzählen? Warum erzählen Menschen einmal so von der Schöpfung und dann noch einmal anders? Was ist in dieser Erzählung wichtig, was in dieser? Wie würde ich vom Anfang der Welt erzählen? So bekommen biblische Texte die Chance, als zeitlich bedingte Glaubenszeugnisse und nicht als mehr oder weniger unplausible Tatsachenberichte wahrgenommen zu werden.
Anmerkungen:
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Vgl. zu dieser komplexen Frage Kirchhoff 2003.
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Diese Unterrichtsstunde ist ausführlicher analysiert in Roose 2013. Die Stunde wurde im Oktober 2012 an einer Lüneburger Grundschule aufgezeichnet. Die Namen sind geändert.
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Die alttestamentliche Wissenschaft wird an diesem Punkt zunehmend skeptischer. Zur historischen Rekonstruktion der Landnahme gibt es unterschiedliche Modelle, die sich von der biblischen Darstellung entfernen und den Exodus einer kleinen Gruppe zuordnen (Mommer 2009, S. 41-44). Der „historische Mose“ verschwindet zunehmend im „historisch Ungewissen“ (Gertz 2008, Punkt 4).
Literatur
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Barton, John: Unity and Diversity in the Biblical Canon, in: Barton, John/Wolter, Michael (Hg.): Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons, Beihefte zur Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 118, Berlin/ New York 2003, S. 11-26.
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Berg, Horst Klaus: Grundriss der Bibeldidaktik. Konzepte – Modelle – Methoden, München 1993.
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Erklärung der Evangelischen Allianz e.V., abgedruckt in: Büttner, Gerhard u.a.: SpurenLesen 3. Religionsbuch für die 9./10. Klasse, Stuttgart/Braunschweig 2010, S. 249.
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EKD-Kirchenamt (Hg.): Die evangelische Kirche und die Bildungsplanung, Gütersloh 1972, S. 119-127.
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Gertz, Jan Christian: Art. Mose, WiBiLex, 2008.
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Kirchhoff, Renate: Ethik in der Bibel – Bibel in der Ethik: Über die Verwendung biblischer Texte im ethischen Kontext, in: Zeitschrift für Neues Testament 11/2003, S. 25-32.
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Mommer, Peter: Module der Theologie. Altes Testament, Gütersloh 2009.
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Oberthür, Rainer: Die Bibel für Kinder und alle im Haus, München, 5. Auflage 2007.
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Roose, Hanna: Module der Theologie. Neues Testament, Gütersloh 2009 (2009a).
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Roose, Hanna: Den biblischen Kanon produktiv zur Geltung bringen, in: Büttner, Gerhard/ Elsenbast, Volker/ Roose, Hanna (Hg.): Zwischen Kanon und Lehrplan, Schriften aus dem Comenius-Institut, Bd. 20, Münster 2009, S. 38-52 (2009b).
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Roose, Hanna: Wer kommt (nicht) ins Paradies? Anregungen zur Einübung eines nicht-fundamentalistischen Umgangs mit biblischen Texten, in: Entwurf 1/2010, S. 24-29.
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Roose, Hanna: „War das wirklich so?“ Mose im Religionsunterricht der Grundschule: Zwischen Tatsachenbericht und fiktiver Erzählung, in: Büttner, Gerhard/ Schwarz, Elisabeth (Hg.): Theologie für Kinder, Jahrbuch für Kindertheologie 2013 (im Erscheinen).