Das eine Wort Gottes und das alleinige Fundament
Die erste Chicago-Erklärung von 1978 ist die theologische Grundschrift des protestantischen Fundamentalismus, wie er sich in den USA im 20. Jahrhundert herausbildete. Das Fundament, auf das sich die Erklärung bezieht, ist die Bibel:
„Da die Heilige Schrift Gottes eigenes Wort ist, das von Menschen geschrieben wurde, die der Heilige Geist dazu ausrüstete und dabei überwachte, ist sie in allen Fragen, die sie anspricht, von unfehlbarer göttlicher Autorität: Ihr muss als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was sie bekennt; ihr muss als Gottes Gebot in allem gehorcht werden, was sie fordert; sie muss als Gottes Zusage in allem aufgenommen werden, was sie verheißt.“
Dieses Bibelverständnis lässt sich in Vorläufern auf das 17. Jahrhundert zurückführen, in der heutigen Form auf das 19. Jahrhundert. Die römisch-katholische Kirche, die Orthodoxie und die Mehrheit der reformatorischen Kirchen verstehen die Bibel anders. Für sie offenbart sich Gott in Jesus Christus, und die Bibel ist insofern Gottes Wort, als sie alles, was Menschen zu ihrem Heil wissen müssen, nach Gottes Willen sagt. In den altkirchlichen Bekenntnissen (Apostolikum und Nizänum) kommt die Bibel deshalb nicht vor. Glaube bedeutet dort das Bekenntnis zum dreieinigen Gott und seinem Schöpfungs- und Geschichtshandeln. Nach der Chicago-Erklärung verlangt der Bibeltext jedoch ebenso und im selben Sinn Glauben.
„Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler. Dies gilt nicht weniger für das, was sie über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte literarische Herkunft aussagt, als für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner…“ (A.a.O.)
Nicht nur der Glaube, sondern Wissenschaft, Moral, Politik und Recht haben sich nach der Bibel zu richten, oder sie widersprechen Gottes Willen. Das ist das Programm des Fundamentalismus, das allerdings keineswegs immer konsequent verfolgt wird. Aber auf den ersten, auch den zweiten und dritten, Blick ist die Bibel alles andere als ein Lehr- und Regelbuch. Mythologie, Poesie, Rechtsprechung, Geschichtsschreibung, großartig erzählte Geschichten, Berichte über Leben und Werk Jesu, Briefe der Apostel an die jungen Gemeinden, apokalyptische Visionen aus mehr als 1000 Jahren – all das und noch mehr macht die Bibel aus. An vielen Punkten unterscheiden sich die historisch bedingten Perspektiven und Wahrnehmungen der biblischen Texte erheblich, ohne dass dies die jüdische Priesterschaft bzw. die frühe Kirche gestört hätte. Die Einheit des biblischen Kanons ist anderer Art, nämlich die einer fortschreitenden Selbstoffenbarung Gottes, die von seinen Autoren in unterschiedlich er literarischer Form und aufgrund vielfältiger Erfahrungen bezeugt wird. Der fundamentalistische Bibelglaube ist ein „credo contra evidentia“, ein Glaube an eine Bibel, die es offensichtlich nicht gibt. Er richtet sich zwar gegen den modernen Wissenschaftsglauben, übernimmt aber gleichzeitig dessen Wahrheitsbegriff in sein Bibelverständnis: Die Bibel wird als ein „Ewiges Lehrbuch“ betrachtet, wie es sich der Wissenschaftsglaube als Ergebnis der Wissenschaft erhoffte: ein Text, der rationale Letztantworten auf alle Fragen der Welt und des Lebens hat.
Während die Wissenschaftstheorie heute weiß, dass es ein solches „ewiges Lehrbuch“ nie geben wird, hält der Fundamentalismus daran fest, es mit der Bibel bereits zu besitzen. Die Chicago-Erklärung verteidigt also keinesfalls das traditionelle Bibelverständnis der Christenheit. Sie ist modernistisch, sogar säkularistisch, da ihre Wahrheitstheorie der einer aufklärerischen Rationalität entspricht.
Der Begriff Fundamentalismus geht auf eine Schriftenreihe der „World’s Christian Fundamentals Association“ (Philadelphia) zurück, die von 1910 bis 1915 eine riesige Verbreitung hatte: „The Fundamentals – a Testimony to the Truth“. Schlüsselkriterien für die biblische Wahrheit sind laut einer Erklärung der presbyterianischen Kirchen der USA von 1910 die Irrtumslosigkeit und Autorität der Bibel, die Gottheit Jesu Christi, die Jungfrauengeburt und Wunder, Jesu Tod für die Sünden der Menschen, seine leibliche Auferstehung und seine Wiederkunft. Diese theologischen Kriterien würde man heute eher dem Evangelikalismus insgesamt zuordnen, nicht speziell dem Fundamentalismus. In der Tat wird in den „Fundamentals“ ein innerkirchlicher Streit um das Bibelverständnis ausgetragen; kritisiert werden die liberale Theologie und die historisch-kritische Methode. In Band I, Kapitel 14 behandelt Dyson Hague unter dem Titel „Die dogmatische Bedeutung der ersten Kapitel der Genesis“ die biblischen Schöpfungserzählungen:
„Das Buch Genesis hat keine Autorität, wenn es nicht wahr ist. Wenn es nicht historisch ist, ist es nicht zuverlässig; und wenn es nicht offenbart ist, hat es keine Autorität… Das Buch Genesis kommt nicht direkt von Gott, wenn es eine heterogene Zusammenstellung mythologischen Volksglaubens von unbekannten Autoren ist.“ (Torrey 1910-1915)
Hier ist die Säkularisierung des Wahrheitsbegriffs vollzogen. Denn die Bibel ist entweder historisch wahr und damit gültig, oder „Volksglauben“ und damit ungültig. Eine andere Art Wahrheit ist nicht mehr im Blick.
Die theologische Auseinandersetzung wurde jedoch nicht das Kennzeichen des späteren Fundamentalismus, kennzeichnend wurde die Abwehr von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Der Übergang von der Gesellschaft der Gründerväter bzw. der Unabhängigkeitserklärung ins Industriezeitalter wurde vor allem vom weißen Bürgertum als Bedrohung erlebt und war tatsächlich mit einem sozialen Abstieg des Kleinbürgertums und der Farmer verbunden (Riesebrodt 1990). Die Urbanisierung löste überkommene Familien- und Sozialstrukturen auf und bedrohte deren Werte. Allerdings wird die US-Verfassung vom Fundamentalismus bejaht, sie genießt sogar quasi-religiöse Achtung. Undemokratisch sind protestantische Fundamentalisten nicht, obwohl ihnen das oft unterstellt wird. Die USA sind für sie eher „God’s Own Country“, eine politische Ordnung nach Gottes Willen. Aber diese Ordnung wird, so die Wahrnehmung, durch Liberalismus, Unglauben, Sittenverfall, Bürokratisierung und Übergriffe des Staates bedroht. Dagegen wird die Utopie eines auf die Bibel begründeten Lebens beschworen, der „Ol‘ Time Religion“. Gruppen, die sich zur Irrtumslosigkeit der Bibel bekennen, aber diese Utopie nicht teilen und unpolitisch bzw. politisch offen agieren, sind theologisch betrachtet Fundamentalisten, können aber in der Praxis sehr „unfundamentalistisch“ sein und werden besser als „evangelikal“ bezeichnet. Das gilt zum Beispiel für die Heilsarmee, die ihren Bibelglauben mit einem vorbildlichen ökumenischen und diakonischen Engagement verbindet.
Fundamentalismus – ein schwieriger Begriff
Wenn man vom protestantischen Fundamentalismus in den USA spricht, ist die gemeinte Sache einigermaßen klar. Von Religionssoziologen wird der Begriff jedoch benutzt, um eine mögliche Form des Verhältnisses von Religion und Modernität in verschiedenen Religionen zu analysieren (Riesebrodt 2000, Riesebrodt 1990, Hemminger 1991, Meyer 1989). Man spricht von jüdischen, muslimischen, buddhistischen und Hindu-Fundamentalisten, sogar von einem fundamentalistischen Flügel bei den Grünen. Soziologisch und psychologisch gibt es für die Begriffsausweitung (außer für die Grünen) gute Gründe. Auch unter Juden, Hindus, Muslimen usw. gibt es Strömungen, die ihre religiöse Tradition so umformen, dass sie zu einem politischen, rechtlichen und moralischen Regelsystem wird, das der westlichen Säkularität entgegengesetzt wird, sich aber ihr auch anpasst. Allerdings ist es ein Unterschied, ob der „fundamentalistische“ Protest sich gegen die eigene, säkulare Kultur richtet, wie bei den christlichen Konfessionen, oder ob diese Kultur zumindest teilweise (Judentum) von außen einbricht, oder sogar als westlicher Kolonialismus erlebt wird. Von daher ist die Ausweitung der Fundamentalismus-Analyse auf die Weltreligionen nicht unproblematisch; scharf fassen lässt sie sich nur für die christlichen Konfessionen und in Grenzen für das Judentum. Völlig nutzlos ist die Verwendung für frühere Epochen etwa in dem Sinn, dass man von einem fundamentalistischen Christentum im Mittelalter spricht.
Nun spiegelt sich diese wissenschaftliche Diskussion in den Massenmedien nicht wider. Sie verwenden „Fundamentalismus“ als Kampfbegriff gegen jede Religion, die ihre öffentliche Geltung in unserer Gesellschaft nicht widerspruchslos aufzugeben bereit ist. Die Ereignisse des 11. September 2001 verstärkten diesen Trend. Zum Teil wurden die Begriffe Fundamentalismus und Fanatismus dadurch austauschbar. Die religiös indifferente Kultur immunisiert sich von vornherein gegen alle religiösen Wahrheits- und Geltungsansprüche. Die umgekehrte Immunisierung gibt es allerdings auch, wenn man von Fundamentalismus sprechen will, sobald eine Gruppe gewaltbereit und eine Gefahr für die innere Sicherheit ist. Das trifft auf fast alle bibelfundamentalistischen Gemeinden so nicht zu, die deshalb beanspruchen, keine Fundamentalisten zu sein.
Neben dem Bibelfundamentalismus oder „Wort-Fundamentalismus“ gibt es seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einen „Geist-Fundamentalismus“ (Hempelmann 1998), nämlich Pfingstbewegung und charismatische Bewegung. Die sogenannten klassischen Pfingstkirchen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betonen die „besonderen Geistesgaben“ wie Zungenrede, Prophetie, Wundertaten Gottes, Heilungswunder, sowie den Befreiungsdienst, also die Austreibung von Dämonen durch Gebet. Ihr Schriftverständnis sowie die praktische Lebensordnung sind oft, aber nicht durchgehend, die des Fundamentalismus. Allerdings hat das emotionale Glaubenserlebnis hohe Bedeutung, dadurch relativiert sich das Gewicht des Bibelglaubens. In den USA sind die Pfingstkirchen Denominationen mit Millionen Mitgliedern, weltweit handelt es sich um die am schnellsten wachsenden Kirchen überhaupt. In Europa sind sie vergleichsweise marginal; auch wenn man die später entstandenen, charismatischen und neucharismatischen Gemeinschaften hinzu zählt.
Wie viele „Fundamentalisten“ gibt es also in Deutschland? Da die Übergänge innerhalb der evangelikalen Bewegung und der Pfingstbewegung fließend sind, lässt sich diese Frage nur ungefähr beantworten, auch weil nicht jedes Bekenntnis zur Unfehlbarkeit der Schrift mit dem politisch-moralischen Programm des Fundamentalismus einhergeht. Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) versammelt derzeit knapp 300.000 Gemeindeglieder. Nur der kleinere Teil ist als bibelfundamentalistisch zu betrachten, zum Beispiel der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP). Dazu kommen rechtskonservative Protestanten innerhalb der Landeskirchen wie die Bekenntnisbewegung. Mindestens ebenso viele „theologische“ Fundamentalisten wie im VEF, wenn nicht mehr, finden sich in unabhängigen Gemeinden. Die theologisch offeneren Freikirchen schrumpfen fast alle ähnlich wie die großen Kirchen oder stärker, während z.B. der bereits erwähnte BFP wächst, vor allem durch die Integration von Migranten.
Am auffälligsten wächst jedoch die Zahl unabhängiger Gemeinden durch Neugründungen und Abspaltungen, durch Aussiedler aus den GUS-Staaten, und durch viele (allerdings oft kleine) Gemeinden von Migranten und deren Nachkommen. Mit ihnen wächst auch der Fundamentalismus relativ an. Insgesamt dürften mehr als 200.000 und weniger als 500.000 Menschen in Deutschland protestantische Fundamentalisten sein, also rund ein halbes Prozent der Bevölkerung. Rund 200.000 Mitglieder haben zusätzlich die Zeugen Jehovas, die ebenfalls ein fundamentalistisches Bibelverständnis vertreten. Sie erhalten derzeit trotz intensiver Mission lediglich ihren Bestand. Nun liest man häufig das Gegenteil: Den großen Kirchen würden die Mitglieder weglaufen, während die Fundamentalisten und Sekten Erfolg hätten. Pauschal stimmt das nicht, alle Formen des Christlichen verlieren an Bindungskraft. Nur relativ nimmt die Zahl fundamentalistischer Gemeinden auf Kosten anderer Freikirchen und (in Grenzen) der großen Kirchen zu.
„Allein die Schrift“ oder Bibelglaube
Der Übergang von fanatischen zu dialogfähigen Formen des „Bibelglaubens“ ist fließend, ebenso wie die Übergänge innerhalb der in sich vielgestaltigen evangelikalen Bewegung. Auch zwischen Evangelikalen und Pfingstbewegung entstehen immer mehr Gemeinsamkeiten. Beide umfassen geschlossene, fanatische Gemeinschaften ebenso wie theologisch offene, in sich plurale Freikirchen und den landeskirchlichen Pietismus. Deshalb trifft die oft anzutreffende Gleichsetzung von „evangelikal“ und „fundamentalistisch“ nicht zu. Vielmehr ist es kennzeichnend für die „Evangelikalen“, dass sie sich in einem Spannungsfeld zwischen der Chicago-Erklärung auf der einen Seite und der reformatorischen Tradition auf der anderen Seite bewegen. Wir wollen einige Facetten dieser Spannung ins Auge fassen.
Die reformatorische Formel „allein die Schrift“ (sola scriptura) meint keine Unfehlbarkeit im fundamentalistischen Sinn. Sie bedeutet, dass die Bibel oberste Norm (norma normans) in Fragen des Glaubens ist. Die Formel richtete sich gegen die Autorität des Klerus und machte das Lehramt, über die Auslegung der Bibel, allen mündigen Christen zugänglich. Der konservative evangelische Theologe Alfred Köberle schreibt:
„So gewiss Gott in Christo gegenwärtig war, so ist er voll gegenwärtig in der Heiligen Schrift. Aber… die Art und Weise, wie nun Gott gesprochen hat durch Propheten und Apostel und durch den Sohn, geschieht in Knechtsgestalt… auch indem Gott sein Wort hinein gibt in die zeitbedingten Vorstellungsräume der damaligen Zeit… Ja, indem Gott sein Wort sündigen, irrenden Menschen anvertraut, nimmt er es auf sich, dass dieses Wort auch verkürzten Überlieferungen und Deutungen preisgegeben wird.“ (Köberle 1980)
Evangelikale in der reformatorischen Tradition stimmen dem mehr oder weniger zu, Fundamentalisten nicht. Die notwendige Folge ist eine Pluralität der Auslegungen; die Abschaffung einer zentralen Autorität bedeutet den Zwang zur Verständigung. Das mindert die Hochschätzung der Bibel nicht; aber der Auftrag an mündige Christen ist, sie zu lesen – und das tut der Fundamentalismus nicht, jedenfalls nicht so, wie man sonst Literatur liest. Er enträtselt die Bibel oft wie einen Code. Vielfalt darf es ebenfalls nicht geben, der Fundamentalismus verlangt Eindeutigkeit nicht nur des Bekenntnisses, sondern der Moral und der Weltanschauung. Willkür und Streit sind damit vorprogrammiert.
Wissenschaft, Politik und Moral
Aus fundamentalistischer Sicht kann man den christlichen Glauben beweisen, indem man beweist, dass die Bibel wahr ist. Nicht selten wird zum Beispiel akribisch vorgerechnet, dass tausende von „biblischen Prophezeiungen“ bereits erfüllt seien und keine einzige nicht eingetroffen sei. Ein anderer Weg ist, die wissenschaftliche Richtigkeit der Bibel zu beweisen – sei es in der Naturgeschichte, sei es in der Weltgeschichte. Bekannt wurde der Kreationismus als Versuch, die biologische Evolution mit pseudowissenschaftlichen Argumenten anzugreifen. Aber auch der Klimawandel wird neuerdings als angebliches Komplott liberaler, ungläubiger Wissenschaftler kritisiert. Diese Wissenschaftskritik steht wiederum in Spannung zum weltoffeneren Evangelikalismus. Zum Beispiel legt sich die erwähnte VEF weder für noch gegen den Kreationismus fest, ebenso die Evangelische Allianz. Das ist insofern problematisch, als man damit theologisch, ethisch und politisch die Unterscheidung vom Fundamentalismus vermeidet. Die häufige Gleichsetzung von „evangelikal“ und „fundamentalistisch“ ist eine der Folgen. Das wird besonders deutlich an den im Fundamentalismus kursierenden Verfalls- und Verschwörungs-Szenarien. Beispiele sind die Islamfeindlichkeit, der angeblich durch dämonische Mächte um sich greifende Okkultismus, die Freimaurer und Illuminaten usw. Dem entspricht eine apokalyptisch gefärbte Verklärung des Staates Israel, der als endzeitliche Sammlung des Gottesvolks kurz vor der Wiederkunft Jesu gedeutet wird. Dass der Fundamentalismus Feindbilder benötigt, um sich selbst den Besitz aller Wahrheit zu bestätigen, liegt in der Logik seines Selbstverständnisses. Dass sich andere Evangelikale davon nicht abgrenzen, kostet sie viel Glaubwürdigkeit. Das gilt noch mehr für fundamentalistische Macht- und Moralsysteme. Denn viele Evangelikale sind keineswegs autoritätsgläubig und moralisch eng, sie verhalten sich mehr oder weniger individualistisch, wenn es um das Leben nach Gottes Willen geht. Die persönliche Entscheidung für den Glauben und die Beziehung zu Jesus sind für sie wichtig, wie im Pietismus schaffen sie die christliche Identität. Je fundamentalistischer der Evangelikalismus allerdings wird, desto stärker misst man die Gottesbeziehung an moralischen Standards. Dass man den richtigen Glauben hat, erweist sich dann an der sichtbaren, nachweisbaren Heiligung des Lebens. Gottfried Küenzlen (2003, S.49) sagt dazu mit Recht: „Im Kern geht es um den Traum einer religiös begründeten societas perfecta.“ Zu einer reinen Gemeinschaft zu gehören und einer gottgemäßen Lebensordnung zu folgen, begründet die fundamentalistische Identität. Der sittlichen Ordnung im Innern werden Verfall und Sittenlosigkeit außen gegenüber gestellt. Da die eigene Überlegenheit demonstrierbar sein muss, konzentriert man sich auf das Sichtbare, nämlich auf das anständige Verhalten in der Öffentlichkeit, auf Sexualität, auf Ordnung und Sauberkeit, auf das patriarchalische Familienleben usw. Im Extrem kann daraus eine lebensfeindliche Gruppenkultur werden, die nicht nur christliche, sondern menschliche Werte pervertiert. Im Untertitel eines Artikels in der „Süddeutschen“ heißt es: „Eine Frau in Jeans ist des Teufels. Ein Mann hat seine Kinder zu züchtigen.“ Der Artikel berichtet weiter:
„Das Bürgerliche Gesetzbuch gewährt den kleinen Rahels und Deborahs ein Recht auf gewaltfreie Erziehung: körperliche Bestrafungen sind unzulässig. …der Älteste der Nazarener-Gemeinde… erklärt, warum er das für falsch hält…. Sein ältester Sohn habe inzwischen selbst Kinder, aber der schlage sie nicht. Der andere Sohn wohl. ‚Die fünf Kinder, wie die spuren, das glauben Sie gar nicht! Wenn die jetzt reinkämen und ich setz die da hin – die sagen keinen Ton.‘“ (Rezec 2013)
Dass ein Christ meint, Gott verlange körperliche Züchtigung von Kindern, ist schlimm genug. Dass man die Folgen, nämlich Angst und Einschüchterung, als Ausweis der Heiligung betrachtet, ist noch schlimmer. Das gilt ebenso für die Erniedrigung von Frauen und für den Missbrauch geistlicher Autorität. Es wäre Aufgabe der Evangelikalen und der Pfingstbewegung, diese Missstände in ihren eigenen Reihen zu bekämpfen. Auch daran hängt ihre Glaubwürdigkeit. Allerdings ist die Sehnsucht nach einer gottgewollten, lebenserhaltenden Ordnung nicht an sich unchristlich. Eine solche Ordnung ist Teil des heilsamen Willens Gottes, um Unheilsmächte – auch die unserer Gesellschaft – einzudämmen. Insofern erinnert der Fundamentalismus an eine reformatorische Wahrheit, die manche evangelikale Christen wegen ihres Individualismus, und manche „progressive“ Christen wegen ihrer Tendenz zur Selbstsäkularisierung unterbewerten.
Aber die „societas perfecta“ ist durch eine konsequente Umsetzung angeblich biblischer Regeln nicht erreichbar. Das müssen alle fundamentalistischen Gemeinden immer wieder erfahren, wenn sie Streit und Spaltungen erleben, wenn geistliche Macht dafür missbraucht wird, sich höchst irdisch Geld und Sex zu beschaffen usw. Das Reich Gottes zu bauen, steht nicht in menschlicher Macht, auch nicht als lebenserhaltende Ordnung, und es ist vor dem Ende der Zeit nie in Fülle da, sondern nur in der gebrochenen Gestalt dieser Welt. (Bonhoeffer 1957)
Mit Fundamentalisten reden
Wie kann man mit Fundamentalisten über den Glauben reden? Manchmal überhaupt nicht, weil der Gesprächspartner beim Anderen nur Unglaube, Irrtum und moralischen Verfall sieht. Das gilt besonders für „ungläubige“ Pfarrerinnen und Religionslehrer, die als Bedrohung des Glaubens wahrgenommen werden. Aber selbst daran lässt sich eine seelsorgerliche Einsicht gewinnen: Es geht im Fundamentalismus um die Sicherheit, auf der Seite Gottes zu sein. Aber zum Glauben im eigentlichen Sinn, zum Vertrauen auf Gott, gehört nach Martin Luther die Anfechtung. Wer kann sich sicher sein, von Gott geliebt zu werden? Man kann auf Liebe nur vertrauen – und dieses Vertrauen muss durch das Elend der Welt und die Angst des Lebens angefochten werden können. Sonst ist der Glaube nach Dietrich Bonhoeffer entweder weltfremd, „hinterweltlerisch“ oder weltverfallen, „säkularistisch“. Man stellt sich der Welt nicht so, wie sie ist, oder man meint, mit ihr durch ein religiöses Leben fertig werden zu können.
„Welt steht gegen Kirche, Weltlichkeit gegen Religion. Was kann hier anderes gelten, als dass Religion und Kirche in diese Auseinandersetzung, in diesen Kampf gezwungen werden? Dazu muss Glaube sich verfestigen zu religiöser Sitte und zu Moral, Kirche zum Aktionsorgan für religiös-sittlichen Neubau... Wir sollen Gottes Sache vertreten. Wir müssen uns eine starke Festung bauen, in der wir mit Gott gesichert leben können.“ (A.a.O., 6-7)
Bonhoeffer spricht hier nicht vom Fundamentalismus, so gut seine Beschreibung auf ihn zutrifft, sondern von einer grundsätzlichen Gefährdung des Glaubens. Das gilt ebenso für die gegenteilige Versuchung der Weltflucht:
„Man springt immer dort, wo das Leben peinlich und zudringlich zu werden beginnt, mit kühnem Abstoß in die Luft und schwingt sich erleichtert und unbekümmert in so genannte ewige Gefilde. Man überspringt die Gegenwart, man verachtet die Erde, man ist besser als sie, man hat ja neben den zeitlichen Niederlagen noch ewige Siege, die so leicht errungen werden.“ (A.a.O., 5)
Öffentliche Wunderheilungen, Dämonenkämpfe usw. verlagern das Elend der Erde in einen jenseitigen Bereich und machen es dort scheinbar besiegbar. Beide Versuchungen, Weltverfallenheit und Weltflucht, sind menschlich und naheliegend; es gibt sie in liberaler und progressiver Form ebenso wie in fundamentalistischer. Die Kirche als „Aktionsorgan für religiös-sittlichen Neubau“ – kommt uns Evangelischen das nicht bekannt vor? Das gilt ebenso für eine protestantische Erlebnisorientierung, die oft nicht weniger weltflüchtig ist als Wunderwünsche und Dämonenaustreibungen. Es gibt keinen Grund, sich als landeskirchlicher Christ über die Probleme des Fundamentalismus erhaben zu dünken. Der Weg des Gottvertrauens, einer Geborgenheit in Gott, die auf Sicherheiten verzichten kann, ist weder naheliegend noch leicht zu gehen. Fundamentalisten und Nicht-Fundamentalisten sitzen dabei in einem Boot, sie sind auf Gottes Geist angewiesen. Der Geist macht gleichermaßen fähig zur guten Tat und dazu, das Ergebnis in Gottes Hand zu lassen. Der Grund für diese tatkräftige Gelassenheit ist, wie Bonhoeffer sagt, dass „das Reich Gottes geglaubt wird“. Die Hoffnung auf das Reich Gottes, das uns geschenkt wird, überbietet die Sehnsucht nach Sicherheit. Vielleicht gelingt es, darüber miteinander zu reden.
Anmerkungen
- Der Internationale Rat für biblische Irrtumslosigkeit (International Council on BiblicalInerrancy, 1978-1986) formulierte seine Position in drei Texten, die als Abgrenzung sowohl von der „liberalen“ Theologie als auch vom extremen Fundamentalismus verstanden wurden. Deutsch siehe Thomas Schirrmacher 1993; das Zitat stammt aus dem Vorwort.
- In die Vorgeschichte gehört unter anderem der Einfluss des Darbysmus (Plymouth Brethren, Brüderbewegung), der in Deutschland eine geringere Rolle spielte als in der angelsächsischen Welt. Daneben ist das Stichwort „Präsuppositionalismus“ zu erwähnen, eine einflussreiche Strömung der reformierten Theologie. Beide Stichworte können hier nicht weiter verfolgt werden.
- Interessanterweise spricht man eher selten von einem katholischen oder orthodoxen Fundamentalismus, obwohl die Analyse auf diese Konfessionen sinnvoll anzuwenden wäre.
Literatur
- Bonhoeffer, Dietrich: Dein Reich komme, hrsg. v. Eberhard Bethge, Hamburg 1957.
- Hemminger, Hansjörg (Hg.): Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991.
- Hempelmann, Reinhard: Licht und Schatten des Erweckungschristentums – Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit, Stuttgart 1998.
- Köberle, Adolf: Karl Heims Schriftverständnis, Evangelium und Wissenschaft 1 1980, S. 3-4.
- Küenzlen, Gottfried: Die Wiederkehr der Religion – Lage und Schicksal in der säkularen Moderne, München 2003, S. 49.
- Meyer, Thomas: Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne, Reinbek bei Hamburg 1989.
- Rezec, Oliver: Im Namen des Vaters und des Vaters, SZ am Wochenende, 18.5. 2013, S. 70-71.
- Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen – Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000.
- Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung – amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich, Tübingen 1990.
- Schirrmacher, Thomas: Fundamentalismus – wenn Religion zur Gewalt wird, Holzgerlingen 2010.
- Schirrmacher, Thomas (Hg.): Bibeltreue in der Offensive – die drei Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung, Bonn 1993.
- Torrey, Reuben Archer (Hg.),: The Fundamentals – a Testimony to the Truth, 1910 bis 1915, heute online bzw. als vierbändiges Buch verfügbar.