Jesus und die kanaanäische Frau - Eine Toleranzgeschichte mit Jugendlichen erarbeiten

von Gudrun Junge

 

Umgang mit anderen – Toleranz und Respekt, das ist ein Themenbereich, der von Schülerinnen und Schülern gewünscht wird, die etwas für ihre Klassengemeinschaft tun wollen. Sie möchten üben, wie man fair miteinander umgeht. Dabei möchten sie selbst fair und mit Respekt behandelt werden. Sie möchten tolerant sein und auch selbst Toleranz von anderen erfahren. Die Begriffe Respekt und Toleranz sind in diesem Fall austauschbar, dahinter steht der Wunsch nach gegenseitiger Wertschätzung und nach einem angenehmen Klassenklima.

Die evangelische Schülerinnen- und Schülerarbeit führt in Kooperation von evangelischer Jugendarbeit und Schule dreitägige Seminare zu Themen durch, die von Schülerinnen und Schülern gewünscht werden. Gestaltet werden diese Seminare von ehrenamtlichen Teamerinnen und Teamern aus der Jugendarbeit und von einer beruflichen Kraft. Ein Vormittag auf einem Seminar mit Jugendlichen aller Schulformen ab der 10. Jahrgangsstufe zum Thema Toleranz könnte sich mit Methoden der Theaterpädagogik dem Anliegen der kanaanäischen Frau (Matthäus 15,21-28) nähern und auf diesem Weg die Thematik bearbeiten.

Methoden aus der Theaterpädagogik eignen sich gut, da sie die Möglichkeit bieten, verschiedene Rollen auszuprobieren und beide/konträre Seiten einer Situation/eines Konfliktes zu erleben, und sie so einen Perspektivwechsel auf die eigene, wie auf die jeweilige Situation der anderen Person/Gruppe ermöglichen. Mit einem biblischen Text zu arbeiten, ist eine Herausforderung, da Ablehnung von Seiten der Schülerinnen und Schüler zu erwarten ist, wenn es sich nicht um einen Religionskurs, sondern um eine religiös gemischte Gruppe handelt. Es gilt, das aufzunehmen und einen Konsens über den Umgang mit dem Text herzustellen.

Matthäus 15,21-28 passt sehr gut zum Thema Toleranz, da es sich bei dem Anliegen der kanaanäischen Frau um die Bitte einer Person handelt, die ein anderes Geschlecht, eine andere Nationalität und eine andere Religion hat als die Jünger und Jesus. Die Jugendlichen brauchen nur wenige einführende Informationen, um die besondere Situation der Frau im Gegenüber zu Jesus und seinen Jüngern zu erfassen und als Identifikationsfigur für Ausgrenzungserfahrungen zu erleben. Die Reaktionen der Jünger und Jesus auf das Verhalten der Frau aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, trägt viel bei zur Auseinandersetzung damit, wie wertschätzendes, respektvolles und tolerantes Verhalten aussieht und was nicht dazugehört. Das Spielen, Erleben und Reflektieren dieser fremden Situationen ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, über eigenes Verhalten und Erleben miteinander ins Gespräch zu kommen und eigene Positionen zu formulieren.

 

Bausteine für die theaterpädagogische Arbeit

1. Einstiegs-Impuls mit Anspiel und Lesung

Ein Seminartag beginnt in der Regel im Stuhlkreis mit einer Morgen-/Befindlichkeitsrunde. Daran schließt sich ein Impuls an, der in das Thema des Tages einführt.

Er beginnt mit einem Anspiel: Zwei Teamerinnen, eine Muslima und eine Christin, streiten, welche Religion die richtige und wahre ist. Ein weiterer Teamer kommt dazu, er hört eine Weile zu und mischt sich dann ein. Er hat durch den Streit Vieles erfahren über die beiden Religionen. Es ist gut, voneinander zu wissen, und es scheint ihm, die jeweilige Religion ist die richtige für die betreffende Person. Ein weiterer Teamer erzählt den Text von Fulbert Steffensky, den er neulich gelesen hat (M 2). Der Morgenimpuls endet mit dem Lied: „Aufsteh‘n, aufeinander zugeh’n“ (siehe z.B. Peter Böhlemann u.a. (Hg.), Das Liederbuch. Lieder zwischen Himmel und Erde, Düsseldorf 62011, Nr. 313).

Der Ablauf des Vormittags wird vorgestellt und besprochen. Das Programm steht auf einer Flipchart, eine Teamerin erläutert es.

 

2. Positionsübungen zu Toleranz

Es folgt ein Positionsbarometer. Die Schülerinnen und Schüler werden gebeten einzuschätzen, wie tolerant sie sind, und sich auf einer Skala von 1 (wenig) bis 10 (viel) zu positionieren. Einzelne werden nach konkreten Beispielen gefragt, die mit ausschlaggebend für ihre aktuelle Positionierung sind.

Mit Aufwärmübungen wird in die theaterpädagogische Arbeit eingeführt. Die Jugendlichen gehen, hüpfen, schreiten, schleichen, kriechen, springen, … durch den Raum. Sie schulen ihre Aufmerksamkeit mit der Übung: Wo ist „Tina“? Mit geschlossenen Augen zeigen sie auf die Mitschülerin. Übungen wie: „Der Blick der Königin“, „Eisbär und Pinguine“ und „Wer passt zu mir“, können sich anschließen (M 3).

Je nach Gruppengröße ist es nun zweckmäßig, die Gruppe zu teilen. Je zwei Teamerinnen und Teamer arbeiten mit einer Hälfte der Gruppe (ca. zwölf Personen) weiter.

Die wandernde Mauer ist die erste inhaltliche Übung. Die Teilnehmenden bilden auf der einen Seite des Raums nebeneinander stehend eine Mauer, die als möglichst gerade Linie den Raum durchqueren soll. Ihre Geschwindigkeit darf die Mauer dabei frei bestimmen. Auf der anderen Seite des Raums steht eine einzelne Person und wendet der Mauer den Rücken zu. Sie sagt „Stopp!“, sobald sie das Gefühl hat, dass die Mauer nur noch einen Meter von ihr entfernt ist. Jede Person sollte einmal allein stehen. Die Mauer kann unterschiedlich auftreten: leise, zischend, stampfend, summend, rufend, usw. Beide Parts werden reflektiert und auf eigenes Erleben als Gruppe und/oder als Einzelperson bzw. Außenseiter bezogen.

 

3. Einführung des Bibeltextes Mt 15,21-28

Jetzt wird der Text Matthäus 15,21-28 eingeführt. In einem kurzen Vortrag, erhalten die Jugendlichen zentrale Informationen und historische Hintergründe, um mit dem Text weiter arbeiten zu können: Die Perikope berichtet von einer Grenzüberschreitung. Die Einsicht, dass Menschlichkeit nicht an Religion oder Herkunft oder Geschlecht gebunden ist, wird hier in Form einer Erzählung wiedergegeben, wobei Jesus selbst als Identifikationsfigur gewählt ist. Jesus verändert seine Einstellung: erst in der Begegnung mit der hartnäckig bittenden Frau aus Kanaan löst Jesus sich von chauvinistischen Vorstellungen.

Die Erzählung destruiert auf diese Weise radikal gängige Jesusbilder und ist damit besonders geeignet für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern. Zudem bleiben Respekt und Toleranz gegenüber Fremden, Andersgläubigen und Frauen ein hochaktuelles Thema.

Der Text wird anschließend frei erzählt, dann schriftlich verteilt und laut vorgelesen. Es wird die Möglichkeit für Verständnisfragen eingeräumt.

 

4. Biblisches Rollenspiel mit Identifikation, Aktion und Auswertung

Die Schülerinnen und Schüler erhalten je eine DIN A5 Karte und einen Stift und haben die Aufgabe, als eine Figur aus der Erzählung eine Postkarte an eine andere Figur zu schreiben und sich über das Geschehene auszutauschen bzw. darüber zu berichten. Den Jugendlichen wird so eine erste Identifikationsmöglichkeit geboten. Sie können Distanz und Nähe zum Hauptgeschehen zwischen Jesus und der Frau frei wählen und ihre Eindrücke und auch Widerstände formulieren. Die Postkarten werden reihum vorgelesen. Die Verhältnisse der Personen zueinander werden besprochen, und es wird ein besonderer Blick auf die zum Ausdruck gebrachten Gefühle gerichtet.

Ein Teamer notiert auf Moderationskarten, wer an wen geschrieben hat. Die Gruppe ordnet das chronologisch im Sinne des Erzählablaufes. Das ist die Grundlage für das nachfolgende Spiel.

Nach einer Pause hat die Gruppe die Aufgabe, das auf den Postkarten Geschriebene dramaturgisch umzusetzen. Dazu braucht es einen Erzähler / eine Erzählerin oder eine Hauptfigur aus der Geschichte, z.B. die kanaanäische Frau. Sie monologisiert aus ihrer Rolle heraus, was sich in den Zwischenzeiten, die durch die Texte der Schülerinnen und Schüler nicht erfasst sind, ereignet hat. Die Arbeit mit Erzähler/in ist leichter. Wählt man eine Hauptperson, kommt es darauf an, dass diese Rolle sehr gut besetzt ist.

Wichtig ist, das die Geschichte frei erzählt und nicht abgelesen wird. Zudem muss die Chronologie der Ursprungserzählung und damit des Spiels gewahrt bleiben.

Die Gruppe arbeitet ansonsten gemeinsam, einzelne Szenen werden geprobt, es können mehrfach dieselben Personen auftreten. Dann werden die Szenen aneinandergehängt und das gesamte Stück entsteht und wird gespielt. Sollte die Gruppe nicht gerne spielen, besteht auch die Möglichkeit, die einzelnen Szenen in Standbilder umzusetzen und Szene für Szene ein Gesamtbild entstehen zu lassen.

An die letzte Szene bzw. an das letzte Standbild schließen sich Auswertungsfragen und ein auswertendes Plenumsgespräch an. Die Spielleitung bittet um ein Rollenfeedback: Wie ist es mir in meiner Rolle ergangen? Was habe ich erlebt? Es empfiehlt sich, nach und nach alle Rollen und Szenen durchzugehen. Im Plenumsgespräch werden das Erlebte und die ggf. gewonnenen Einsichten übertragen. Mögliche Impulsfragen sind: Was bedeutet das gerade Erlebte für heute, für die eigene Situation, für die Klasse, Schule, Stadt und Gesellschaft? Was bedeutet es für das eigene Verhalten? Welche Konsequenzen sind möglicher Weise daraus zu ziehen? Welche Aufgaben ergeben sich?

Ein Rückgriff auf die geschriebenen Postkarten ist hier vielleicht angebracht. Die Schülerinnen und Schüler benennen, was ihnen daran wichtig erscheint. Schlüsselworte, Symbole oder Bilder können benannt werden, die die eigene Meinung, den Standpunkt, die Position, die Theologie beschreiben und die Bestandteile des jeweiligen Verständnisses von Toleranz sind. Eine Bündelung ist angebracht mit Thesen: Wie also verstehe ich Toleranz am Ende dieses Vormittags und wo ist Toleranz in meinem Leben verortet?

Zum Abschluss hat die Gruppe die Aufgabe, eine erlebnispädagogische Übung gemeinsam zu lösen. Dabei ist eine Person z.B. blind, eine versteht kein Deutsch, eine sitzt im Rollstuhl, eine hat sich den Arm gebrochen. Als Übung stellt sich die Gruppe in einen Kreis und fasst sich an den Händen, eine oder zwei Seilschlingen, müssen im Kreis weitergegeben werden, ohne, dass sich die Hände von einander lösen.

Zum Ende des Vormittags kommen beide Gruppen wieder zusammen, tauschen sich kurz über das Erlebte aus und beenden die Einheit mit einer gemeinsamen Feedbackrunde.

 

M 1:  Mt 15,21-28 (Gute Nachricht)

21 Jesus verließ die Gegend und zog sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück.
22 Eine kanaanitische Frau, die dort wohnte, kam zu ihm und rief: »Herr, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Meine Tochter wird von einem bösen Geist sehr geplagt.«
23 Aber Jesus gab ihr keine Antwort. Schließlich drängten ihn die Jünger: »Sieh zu, dass du sie los wirst; sie schreit ja hinter uns her!«
24 Aber Jesus sagte: »Ich bin nur zum Volk Israel, dieser Herde von verlorenen Schafen, gesandt worden.«
25 Da warf die Frau sich vor Jesus nieder und sagte: »Hilf mir doch, Herr!«
26 Er antwortete: »Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.«
27 »Gewiss, Herr«, sagte sie; »aber die Hunde bekommen doch wenigstens die Brocken, die vom Tisch ihrer Herren herunterfallen.«
28 Da sagte Jesus zu ihr: »Du hast ein großes Vertrauen, Frau! Was du willst, soll geschehen.« Im selben Augenblick wurde ihre Tochter gesund.

 

M 2:  Lesung für einen Morgenimpuls

Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind. (…) Aus dieser Gewissheit heraus müssten wir streiten können; denn die Auseinandersetzung und der Streit der Geschwister gehört zur Toleranz. Toleranz heißt nicht die geglückte Selbstauflösung in ein blasses Allgemeines. Wir sollen nicht in eine nicht mehr unterscheidbare Allgemeinheit von Gesinnungs- Lebens- und Glaubensweisen verschwimmen, sondern jedem soll zu seiner Eigentümlichkeit verholfen werden. Toleranz heißt nicht nur, dass ich geduldet bin mit meiner Wahrheit, sondern dass ich nicht im Stich gelassen werde von der Wahrheit der anderen. Ich bin Fragment, ich weiß etwas aber nicht alles. Das heißt, dass ich die Korrektur und Ergänzung durch die fremde Wahrheit brauche, wie die anderen die Korrektur durch meine Wahrheit brauchen. Toleranz ist dialogisch, sie sucht den anderen mit der anderen Wahrheit auf, sie lernt und lehrt, sie streitet. Die Wahrheit entsteht im Gespräch der Geschwister. (…) Wir sind wahrheitsfähig und wir sind irrtumsfähig; die anderen sind wahrheitsfähig und sie sind irrtumsfähig. Das muss man wissen, um miteinander reden und streiten zu können.

Aus: Fulbert Steffenski: Karfreitag, in: Riskier was, Mensch! Sieben Wochen ohne Vorsicht, Fastenkalender 2013.

 

M 3: Theaterpädagogische Aufwärmübungen

Der Blick der Königin/des Königs

Der König/die Königin wandelt durch den Raum, gefolgt von den Bediensteten. Ist er/sie freundlich, suchen alle seine/ihre Nähe und drängen ins Blickfeld. Die Laune des Königs/der Königin kann sich aber plötzlich verändern. Ist er/sie er grimmig und übellaunig, dann versuchen alle, aus dem Blickfeld zu verschwinden. Hat irgendwann eine/r der Bediensteten genug, ruft er/sie laut „Revolution“ und ist nun selber König/in und setzt das Spiel fort.

Dieses Spiel erfordert sehr viel freie Fläche.

 

Eisbär und Pinguine

Ein Eisbär jagt Pinguine. Der Eisbär macht große, ausladende Bewegungen (rennt aber nicht dabei). Die Pinguine machen kleine Bewegungen, Fersen zusammen; diese sind sicher, wenn sie mindestens zu zweit sind. Sie dürfen aber jeweils nicht zu lange in einer Gruppe bleiben. Ist ein Pinguin gefangen, verwandelt er sich in einen Eisbären.

Variante: Es gibt jeweils nur einen Eisbären.

 

Wer passt zu mir?

Alle stehen um die Raummitte / Bühne herum. Ein Spieler A geht in die Mitte, macht eine Pose und sagt dazu, wen oder was er darstellt. Zum Beispiel hebt er die Arme über den Kopf und sagt: „Ich bin ein Baum.“ Ein zweiter Spieler kommt dazu, ergänzt das Bild und sagt ebenfalls, wer oder was er ist, z.B. ein Apfel. Eine dritte Spielerin kommt hinzu und ergänzt ebenfalls, z.B. ich bin eine Krone. Wenn nun das Bild fertig gestellt ist, tritt Spieler A ab und nimmt den Spieler mit, von dem er findet, er passt am besten zu ihm. Der andere Spieler bleibt auf der Bühne und wiederholt seinen Satz (ohne seine Pose zu ändern). Damit liefert er ein Angebot für ein neues Bild.

Wichtig dabei: schnelle Übergänge, keine Pausen. Die Bilder müssen „fließen“.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2013

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