Was ist eigentlich mit dem Begriff „Willensfreiheit“ gemeint? Etwa, dass wir über unsere Motive und Intentionen frei entscheiden können und bestimmen können, was wir wollen? Bereits im 18. Jahrhundert wurde dieser Begriff der „Willensfreiheit“ als das erkannt, was er ist: ein „hölzernes Eisen“. Ein Willensakt bedarf eines Motives. Aber von welchem Motiv sollte die Entscheidung darüber, was für mich ein Motiv ist, geleitet sein? Wir kämen hier in einen unendlichen Regress. Die Richtung des Wollens kann nicht wieder durch einen Willensakt bestimmt sein. Es kann kein „Wollen-wollen“ geben und daher bedarf es einer dem Wollen vorausgehenden Haltung, um den Willen zu motivieren. Was für uns ein Motiv wird, bestimmen unsere Bedürfnisse, Sehnsüchte und Gefühle – nennt man sie nun mit Gerhard Roth „Meta-Motive“ oder mit Robert Spaemann das „fundamentale Aussein-auf“. Diese „Meta-Motive“ bzw. das „fundamentale Aussein-auf“ verdanken sich nicht unserem Wollen, sondern bestimmen, was wir wollen. Damit ist keineswegs die Rede von Freiheit verabschiedet. Freiheit ist zu verstehen im Sinne der Handlungsfreiheit (tun können, was man will), nicht im Sinne der Willensfreiheit (wollen können, was man will).
Von einem Bestimmtsein des Menschen spricht auch Martin Luther, dem Bestimmtsein des Menschen in der Sünde und im Glauben. Für Luther ist die Willensfreiheit kein eigenständiges Thema, sondern ergibt sich aus der Rechtfertigungslehre und der Frage, in welcher Weise der Mensch an seinem Heil mitwirken kann. Für Luther ist entscheidend, dass die Zuwendung zum Heil, der Glaube, in keiner Weise Werk des Menschen, sondern allein Gottes Werk ist. Hier unterscheidet sich Luther von seinem Gegner Erasmus von Rotterdam: Bei Erasmus kommt dem freien Willen des Menschen eine gewisse Bedeutung bei der Zuwendung zum Heil zu.
Für Luther wäre mit diesem Zugeständnis an Erasmus die Heilsgewissheit gefährdet. Wäre das Heil nicht ganz und allein in Gottes Hand, hätte ich auch nur im Geringsten mitzureden und mitzuwirken, dann schliche sich eine Ungewissheit ein, die die Heilsgewissheit und damit alles zerstören würde. Luther stellt klar: Es ist Gott allein, der das Heil wirkt – und gerade weil es Gott allein ist, braucht der Mensch nicht in einer ängstlichen Nabelschau in Ungewissheit zu verharren. Man könnte im Blick auf diese Aussagen die Frage nach der Willensfreiheit genauso gut in der Sündenlehre verorten: Weil der Mensch ganz und gar Sünder ist, kann er von sich aus nichts tun. Im Hintergrund steht die Auffassung von der Sünde als einer Macht, die unsere Entscheidungen bestimmt und gefangen hält.
Etwas ist merkwürdig: In jüngster Zeit taucht immer wieder die Forderung auf, gerade Christen müssten das Theorem der Willensfreiheit verteidigen. So ist beispielsweise in dem evangelikalen Nachrichtenmagazin IdeaSpectrum (36/2008, S. 15) zu lesen, dass die Bestreitung des Theorems der Willensfreiheit zu einer „Abschaffung der Sünde“ führt. Werde die Willensfreiheit bestritten, so besitze dies weitreichende Konsequenzen: „das Reden von der Sünde“ werde „sinnlos“ und „der programmierte Mensch brauchte keine Erlösung mehr“. Luther urteilt genau entgegengesetzt: Für Luther ist die Sünde offensichtlich nicht etwas, dessen wir uns durch eine freie Entscheidung entledigen könnten, sondern eine Macht, die unsere Entscheidungen bestimmt und gefangen hält. Luther weiß von keinem integren Teil des Menschen, der sich gegen die Sünde behaupten könnte. Gerade weil der Mensch ganz und gar von der Macht der Sünde bestimmt ist, kann auch jeder Versuch, sich von der Sünde zu befreien, nur Teil der Sünde selbst sein. Daher urteilt Luther auch hinsichtlich der Erlösung genau entgegengesetzt: Gerade weil der Wille des Menschen versklavt ist, bedarf er der Erlösung. So hält Luther gegen Erasmus gerade deshalb an der Alleinwirksamkeit Gottes fest, weil er den Menschen in einer Macht gefangen sieht, die seinen Willen unentrinnbar bestimmt und die nur von außen zerbrochen werden kann. Befreiung kann es nicht als Selbstbefreiung geben, sondern nur als „ander Wort“ (Martin Luther)