Lernen mit Begeisterung - Ein Plädoyer für eine neue Lernkultur

von Gerald Hüther

 

Der wichtigste Rohstoff unseres Landes ist die Begeisterung der Menschen am Entdecken und Gestalten. Die gute Botschaft lautet: Entdeckerfreude und Gestaltungslust sind nachwachsende Rohstoffe, die alle Kinder immer wieder mit auf die Welt bringen. Die schlechte Botschaft heißt: Dieser kostbare Schatz verkümmert allzu leicht, wenn er nicht genährt wird, und er verschwindet automatisch, wenn man ihn unterdrückt. Aber es gibt auch eine ermutigende Botschaft: Die Begeisterung am Lernen kann wiedererweckt werden. Nicht durch Leistungsdruck und das Schüren von Angst, auch nicht durch Belohnungen oder Bestrafungen, sondern indem man Kinder, Jugendliche und Erwachsene einlädt, ermutigt und inspiriert, sich noch einmal als Entdecker und Gestalter, als Forscher und Tüftler auf den Weg zu machen, am besten gemeinsam mit anderen.

 

Bildung ist mehr als auswendig gelerntes Wissen

Die Zukunft unseres Landes wird von den Kindern gestaltet, die heute heranwachsen. Wollen wir keine Bruchlandung erleiden, müssen wir sie auf die Herausforderungen vorbereiten, die auf sie zukommen, indem wir ihnen das nötige Rüstzeug zur Bewältigung dieser Aufgaben mit auf den Weg geben. Und das Wichtigste, was ihnen helfen wird, diesen Herausforderungen gewachsen zu sein, ist nicht mehr allein ihr Wissen – das kann künftig jederzeit verfügbar gemacht und abgerufen werden –, sondern vielmehr ihre Fähigkeit, sich das vorhandene Wissen nutzbar zu machen, es zu beurteilen, zu verstehen, anzuwenden und dadurch wieder neues Wissen hervorzubringen. Diese Bildung beginnt nicht erst in der Schule, sondern bereits im Kindergarten, in Kinderkrippen und den jeweiligen Herkunftsfamilien. Dabei ist das Ziel dieser Bildung nicht die möglichst perfekte Aneignung des gegenwärtig verfügbaren Wissens, sondern das Wecken der Begeisterung, das die nachwachsende Generation antreibt, selbst wieder neues Wissen und neue Kulturleistungen hervorzubringen.

 

Neue Herausforderungen für Bildungseinrichtungen

In der alten Industriegesellschaft des vorigen Jahrhunderts sollten die Menschen das, was sie in der Schule gelernt hatten, ein ganzes Leben lang anwenden. Deshalb brauchten sie gut eingeprägtes Sachwissen und solide Kenntnisse, auf die sie zeitlebens zurückgreifen konnten. In der Wissens- und Ideengesellschaft des 21. Jahrhunderts hat sich dieser Wissenspool enorm erweitert. Jetzt kommt es immer stärker darauf an, neue Herausforderungen annehmen und unbekannte Probleme lösen zu können. Die Schule wird ihre Schüler daher künftig nicht nur auf die Durchführung von Routinen, sondern in erster Linie auf die Bewältigung von Vielheit und Offenheit vorbereiten müssen. Damit ändert sich aber schlagartig auch die traditionelle Vorstellung von Bildung und Erziehung. Überall dort, wo Bildung stattfindet, geht es nun viel stärker um die Aneignung sogenannter Metakompetenzen, um die Entwicklung von Haltungen und Einstellungen, um die Bereitschaft, sich auf neue Herausforderungen einzulassen, um die Lust am Entdecken und Gestalten, um Engagement, Teamfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft. „Die Zeit ruft nach Persönlichkeiten, aber sie wird solange vergeblich rufen, bis wir die Kinder als Persönlichkeiten leben und lernen lassen, ihnen gestatten, einen eigenen Willen zu haben, ihre eigenen Gedanken zu denken, sich eigene Kenntnisse zu erarbeiten, sich eigene Urteile zu bilden; bis wir, mit einem Wort, aufhören, in den Schulen die Rohstoffe der Persönlichkeit zu ersticken, denen wir dann vergebens im Leben zu begegnen hoffen.“ (Ellen Key, schwedische Reformpädagogin, 1900).

 

Hirnforschung als Rückenstärkung für Pädagogik

Genau hier, bei der Suche nach Lösungen, wie sich diese Forderungen in unserem gegenwärtigen Bildungssystem umsetzen lassen, bekommen diese Bemühungen plötzlich Schützenhilfe und eine enorme Bestätigung ihres Ansatzes von einer Disziplin, der man das eigentlich kaum zugetraut hätte: der Neurobiologie.

Die Hirnforscher haben in den letzten zehn Jahren eine Vielzahl von Erkenntnissen darüber zutage gefördert, wie das Lernen funktioniert, unter welchen Voraussetzungen Bildungsprozesse gelingen können und unter welchen sie scheitern, unter welchen Bedingungen Kinder ihre Lust am Lernen, am Entdecken und am Gestalten entfalten können und unter welchen sie ihnen vergeht.

Die Grunderkenntnis der modernen Neurobiologie heißt: Kinder, und zwar alle Kinder, kommen mit einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten zur Welt. Nie wieder ist ein Mensch so neugierig, so entdeckerfreudig, so gestaltungslustig und so begeistert darauf, das Leben kennen zu lernen, wie am Anfang seines Lebens. Diese Begeisterungsfähigkeit, diese enorme Lernlust und diese unglaubliche Offenheit der Kinder sind der eigentliche Schatz der frühen Kindheit. Und diesen Schatz müssen wir besser als bisher bewahren und hegen. Es geht also weniger darum, mit Hilfe von Förderprogrammen Kindern immer schneller immer mehr Wissen beizubringen. Was wir brauchen, sind Programme, die verhindern, was viel zu häufig heute noch immer passiert, nämlich dass Kinder irgendwann die Lust am Lernen verlieren.
Das nämlich ist genetisch nicht programmiert. Die genetischen Programme sorgen lediglich dafür, dass im sich entwickelnden menschlichen Gehirn ein enormes Überangebot zunächst an Nervenzellen und nachfolgend an Vernetzungsoptionen bereitgestellt wird. Dadurch wird gewährleistet, dass ein Kind so ziemlich alles lernen kann, worauf es in der jeweiligen Lebenswelt, in die es hineinwächst, ankommt.

Diejenigen Nervenzellverknüpfungen, die es dabei immer wieder benutzt, um sich in dieser Welt zunehmend besser zurechtzufinden, werden stabilisiert. Der Rest wird wieder abgebaut. Am Ende hat jedes Kind ein Gehirn, das nicht nur optimal zu seinem Körper passt, weil es sich anhand der dort generierten Signalmuster bereits vorgeburtlich strukturiert. Da sich dieser Selbststrukturierungsprozess auch nach der Geburt fortsetzt und in den komplexesten Bereichen des menschlichen Gehirns, im präfrontalen Kortex zeitlebens stattfindet, werden im Gehirn alle für einen Menschen im Lauf seiner Entwicklung bedeutsamen Wahrnehmungen, Handlungsmuster und Verhaltensweisen im Gehirn verankert.

Bedeutsam ist dabei allerdings nicht automatisch das in der Schule angebotene Wissen, sondern das, was einem jungen Menschen hilft, sein Leben zu bewältigen, die für ihn wichtigen Herausforderungen zu meistern und Probleme zu lösen.
Das menschliche Gehirn funktioniert deshalb nicht wie ein Muskel, den man durch schulische Lernangebote trainieren könnte. Neues Wissen, neue Fähigkeiten und Fertigkeiten erwirbt ein Mensch nur dann, wenn es ihn emotional berührt, wenn ihm etwas unter die Haut geht, wenn also die emotionalen Zentren in seinem Gehirn aktiviert werden. Nur dann werden an den Enden der weitverzweigten Fortsätze der im Mittelhirn in den emotionalen Zentren lokalisierten Nervenzellen so genannte neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Sie wirken wie Dünger auf die in diesem Zustand emotionaler Beteiligung aktivierten, zur Lösung eines Problems oder zur Klärung einer Fragestellung aktivierten neuronalen Verschaltungen. Sie stimulieren das Auswachsen weiterer Fortsätze und die Bereitstellung weiterer Kontakte und Vernetzungen. Deshalb kann man eigentlich nur dann etwas Neues lernen und eine neue Erfahrung in Form neuer Verschaltungsmuster im Hirn verankern, wenn man sich dafür begeistert oder wenigstens freut, wenn das, was es zu lernen gilt, also auch wirklich bedeutsam für denjenigen ist, der lernt. Zu diesen Selbstbildungs- und Selbstaneignungsprozessen kann man Schüler nicht zwingen, weder mit Belohnungen noch mit Bestrafungen. Dazu kann man sie nur einladen, ermutigen und inspirieren.

 

Was ist hirngerechte Bildung?

„Hirngerecht“ sind Bildungsangebote für Kinder (wie auch für Jugendliche und Erwachsene) immer dann,

  1. wenn sie „sinnvoll“, d. h. bedeutsam und wichtig für das betreffende Kind sind, sei es auch nur, dass sich jemand über das, was das Kind gelernt hat, aufrichtig freut;
  2. wenn sie als eigene Erfahrung am ganzen Körper, mit allen Sinnen und unter emotionaler Beteiligung erfahren werden, wenn sie also „unter die Haut“ gehen;
  3. wenn die so gewonnenen Einsichten, Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten sich im praktischen Lebensvollzug als nützlich und vorteilhaft, d. h. praktisch anwendbar erweisen, auch und gerade außerhalb von Kindergarten und Schule;
  4. wenn Kinder in ihrer jeweiligen Bildungseinrichtung spüren, dass sie so, wie sie sind, richtig sind, angenommen werden und dazugehören dürfen, und wenn ihnen genügend Raum und Möglichkeiten geboten werden, um zu zeigen, was in ihnen steckt, wenn sie also die Erfahrung machen, dass sie in der Schule (und auch schon im Kindergarten) gemeinsam über sich hinauswachsen können. Das funktioniert freilich nur, wenn ihnen Gelegenheit geboten wird, gemeinsam etwas zu entdecken, zu gestalten oder – am wirksamsten – sich um etwas kümmern zu können, das in ihren Augen bedeutsam ist.

Aber selbst dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wenn das neue Wissen und Können also bedeutsam, anknüpfbar, ganzheitlich, emotional erfahrbar und als praktisch nutzbar erkannt und erlebt werden kann, wird die Frage der Qualität, der Didaktik und Methodik der Wissensvermittlung erst dann interessant, wenn die Kinder auch offen für diese Bildungsangebote sind. Kinder brauchen also nicht nur Aufgaben, an denen sie wachsen können, und Herausforderungen, die sie zu bewältigen lernen, sie brauchen auch Rahmenbedingungen, die es ihnen ermöglichen, sich diesen Aufgaben zu stellen und diese Herausforderungen anzunehmen.

 

Bildung braucht vertrauensvolle Beziehungen

Damit Bildung aus neurowissenschaftlicher Sicht gelingen kann, müssten die Bildungseinrichtungen also zu Orten werden und die Erzieherinnen/Erzieher und Lehrerinnen/ Lehrer Beziehungspersonen sein, die die Kinder gern aufsuchen, wo sie sich sicher und geborgen, unterstützt und wertgeschätzt und natürlich maximal herausgefordert und optimal gefördert fühlen. Entscheidend ist dabei – auch das ist eine wichtige neue Erkenntnis der Hirnforschung – immer die subjektive Bewertung. Das eigene Gefühl des Kindes, nicht die objektiv herrschenden Umstände oder die behördlich geregelten Verhältnisse sind ausschlaggebend dafür, ob ein Kind seine Potentiale entfalten kann oder ob es sie aus Angst unterdrücken muss.

Aber allein dadurch, dass anstelle der bisher vorherrschenden Angst sich mehr Vertrauen in unseren Bildungseinrichtungen ausbreitet, gelingt noch immer keine Bildung. Kinder brauchen auch Vorbilder, denen sie nacheifern und Ziele, für deren Erreichen es sich anzustrengen lohnt. Und sie brauchen irgendwann auch Visionen davon, wie ihr Leben gelingen kann. Was also in unseren Bildungseinrichtungen geweckt werden müsste, ist das, was schon Saint-Exupery so eindringlich eingefordert hat: „Willst Du ein Schiff bauen, rufe nicht die Menschen zusammen, um Pläne zu machen, die Arbeit zu verteilen, Werkzeug zu holen und Holz zu schlagen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem großen, endlosen Meer.“

 

Literaturempfehlungen

  • Hüther, G., Nitsch, C., Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden, München 2008.
  • Hüther, G., Roth, W., von Brück (Hg.), M., Damit das Denken Sinn bekommt, Freiburg 2008.
  • Hüther, G., Michels, I.: Gehirnforschung für Kinder, Felix und Feline entdecken das Gehirn, München 2009.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2011

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