Voraussetzungen und Einordnungen
Konzepte und Methoden systemischen Denkens erfreuen sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur, aber vor allem im Kontext psychosozialen Handelns zunehmender Beliebtheit. Die im Dezember 2008 (endlich!) erfolgte Anerkennung systemischer Therapie als wissenschaftlich begründetem Therapieverfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie trägt dieser Entwicklung Rechnung.
Gefragt ist, was systemisch ist oder sich zumindest so nennt. Dies gilt neben dem Bereich der Psychotherapie auch für Supervision, Beratung, Coaching, Pädagogik, Organisationsentwicklung, Personalführung etc. Auch in der Weiterbildung „Schulseelsorge“ des RPI Loccums wird der systemische Ansatz gelehrt und gelernt und als ausgesprochen hilfreich für die Arbeit im System Schule erlebt.
Mit zunehmender Beliebtheit und Verbreitung scheinen allerdings gelegentlich die spezifische Kontur und die systemtheoretischen Implikationen zugunsten eines leicht erlernbaren und schnell erfolgversprechenden Methodenpools verloren zu gehen, der anwender- und verbraucherfreundlich Zeit und Kosten schont.
Ohne auf die Problematik und die Konsequenzen begrifflicher, aber auch inhaltlicher Unschärfen („Sind wir nicht alle ein bisschen systemisch?“) und der daraus notwendig folgenden vertieften theoretischen Auseinandersetzung mit den Denkvoraussetzungen und Folgen des systemischen Ansatzes (Systemtheorie, Konstruktivismus, Kybernetik) gerade auch aus theologischer Sicht näher eingehen zu wollen, möchte ich mich in meinen bewusst nicht wissenschaftlich gehaltenen Überlegungen auf zwei wesentliche Bereiche beschränken: auf die systemische Haltung einerseits und auf spezifische Methoden systemischer Therapie und Beratung andererseits.
Die erstaunliche und mich als Theologin und Systemische Supervisorin faszinierende Einsicht: Grundmuster systemischen Denkens und Handelns kann ich in vielen biblischen Texten über Jesus von Nazareth wiederfinden. War Jesus also ein heimlicher Systemiker, der eine bestimmte Art zwischenmenschlicher Kommunikation und Leben fördernder Haltungen schon 2000 Jahre vor der als systemisch bezeichneten Psychotherapierichtung des späten 20. Jahrhunderts praktizierte? Und wenn es zumindest partiell so wäre, welche Belege könnten dafür herangezogen werden?
Die außerbiblischen Zeugnisse über Jesus als historische Person sind nur dünn gesät. Darum bleibt naheliegender Weise nur der Verweis auf das Neue Testament, besonders die Evangelien.
Es ist eine exegetische Grundeinsicht, dass die überlieferten Texte als Glaubenszeugnisse der entstehenden Gemeinde eben gerade keine Tatsachenberichte sind und auch nicht sein wollen. Dennoch spricht nach heutigem Stand der Forschung erstaunlich viel dafür, dass die unterschiedlichen Jesusbilder vor allem der Evangelien das Wesentliche des Handelns und Denkens Jesu von Nazareth und die Inhalte seiner Botschaft wiedergeben dürften. Neudeutsch ausgedrückt: die Alleinstellungsmerkmale des Mannes aus Nazareth sind auch jenseits des zeitlichen Abstands und der interessegeleiteten Intention der Verfasser, Sammler und Redakteure in den biblischen Texten erkennbar. Dem Fragezeichen in der Überschrift dieser Überlegungen folgt darum trotz aller historisch-kritischen Anfragen in Hinsicht auf den Überlieferungsprozess bewusst ein Ausrufungszeichen.
War Jesus also ein heimlicher Systemiker? Es ist ein spannendes Experiment, die biblischen Geschichten und Texte mit einer systemischen Brille auf der Nase zu lesen – sie erschließen sich noch einmal neu und anders.
Ich werde darum zunächst die Grundannahmen systemischer Therapie skizzieren, um auf diesem Hintergrund einerseits das Selbstverständnis Jesu zu reflektieren, andererseits ausgewählte biblische Texte oder für das Jesusbild der Evangelien typische Sprachformen aus der Perspektive systemischen Denkens und systemischer Methoden exemplarisch zu untersuchen.
Grundannahmen systemischer Therapie
Im systemischen Denken ist die Grundhaltung des Therapeuten gegenüber seinem Klienten durch Kundenorientierung, Wertschätzung und Respekt, Lösungs- und Ressourcenorientierung charakterisiert.
Ausgehend vom konstruktivistischen Wirklichkeitsverständnis, das nicht eine universelle, objektive Wahrheit, sondern unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen voraussetzt („Multiversa“ statt „Universum“), geht es in der systemischen Kommunikation darum, das Gegenüber in seinen Deutungen und Konstruktionen der eigenen Geschichte wahr- und ernst zu nehmen – unter Verzicht auf eigene Vorannahmen und vorschnelle Zuordnungen. Weil jeder Mensch sein eigenes Universum ist, ist das Nicht- oder Nicht-zu-schnelle-Verstehen des Gegenübers der kommunikative Normalfall, der durch intensives Fragen (Interview) nach der Bedeutung von Fakten, Gefühlen, Befindlichkeiten und Zusammenhängen für den anderen schrittweise verändert werden kann.
Die unvoreingenommene, empathische und respektvolle, aber auch neugierig explorierende Fragehaltung versucht die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion des Gegenübers so zu erkunden, wie ein Forscher unbekanntes Terrain erkundet, wohl wissend, dass das als Forscher Gehörte, Gesehene und Wahrgenommene bestenfalls einer mehr oder weniger guten kartografischen Skizze entspricht, aber eben nicht das zu erkundende Terrain selber ist.
Der Andere ist und bleibt Experte seines Lebens und weiß besser als der Beobachter, was er empfindet und auch, was ihm hilfreich und nützlich ist. Er ist deswegen kein Patient, sondern ein Klient oder systemisch formuliert: ein Kunde, da er in Hinsicht auf seine eigenen Lebensfragen eben kundig, also wissend ist und häufig auch schon unterschiedlich wirksame Lösungen ausprobiert hat.
Eine entscheidende gemeinsame Aufgabe des Therapeuten und des Klienten liegt darin, das Anliegen des Gegenübers („Ich leide unter…“) in einen konkreten Auftrag /ein Mandat („Helfen Sie mir dabei …“) zu formatieren – dies dient nicht nur der Transparenz, Stringenz und Effizienz in der Gesprächsführung, sondern auch der Evaluation („Was hat sich in Hinsicht auf den Auftrag jetzt verändert?“). Sogenannte „Skalierungen“ („Wo verorten Sie ihr Thema auf einer Skala von eins bis zehn?“) erlauben der beratenden Person einen Einblick in die Bewertung von Situationen und Ereignissen durch den Kunden.
Die positiv unterstellte Lösungskompetenz des Gegenübers wird durch unterschiedliche Interventionen ernst genommen und aktiviert. Ziel der therapeutischen Kommunikation ist es, dem Gegenüber dabei behilflich zu sein, sich der eigenen Ressourcen zu vergewissern und sie anders oder stärker zu nutzen. Positive Rückmeldungen und explizite Würdigungen (Komplimentieren) heben Gelungenes hervor oder nutzen Fehlschläge als Lernchance möglicher Veränderungen. Die Frage nach positiven Ausnahmen („Gibt es Momente, in denen Sie nicht depressiv sind und was ist dann anders?“) unterstützen den Klienten darin, Problemfixierungen aufzugeben.
Systemisches Arbeiten fokussiert dabei den Kunden im Rahmen des ihn umgebenden Systems (die potentiellen Sichtweisen wichtiger Anderer werden durch sog. zirkuläre Fragen importiert, z.B. „Wie würde dein Bruder diese Situation beschreiben?“). Es geht somit eher um die Erkundung komplexer, systembedingter Strukturen und Zusammenhänge (z.B. innerhalb des familiären Kontextes) als um die Fixierung kausaler Ursache-Wirkungszusammenhänge, um problemorientierte Analyse oder eine „objektive“ Störungsdiagnostik, die das Gegenüber pathologisiert.
Lösungs- und zukunftsorientierte Fragestellungen (konstruktive Fragen) ermöglichen es dem Klienten, gewohnte Deutungsmuster zu verabschieden („Was würden Sie tun, wenn es anders wäre?“). So können Varianten zum gewohnten, oft leidvollen Verhalten hypothetisch entwickelt und kommunikativ antizipiert werden – mehr Möglichkeiten sind besser als weniger Möglichkeiten!
Die systemische Therapie geht dabei von der optimistischen Voraussetzung aus, dass Menschen in der Regel nicht nur veränderungswillig, sondern auch -fähig sind, sofern sie ihre eigenen Ressourcen nutzen können. Allerdings sind Menschen nicht von außen instruierbar, sondern handeln im Zusammenhang des sie umgebenden Systems (z.B. Familie, Firma, Therapiekontext) selbstverantwortlich und den eigenen Strukturen folgend. Darum gilt: Kein Mensch kann einen anderen verändern. Nur der- und diejenige, der/die sich verändert, verändert sich.
Lösungsangebote und Einfälle des Therapeuten werden dem Gegenüber deshalb zwar als Angebot zur Verfügung gestellt, über ihre Nützlichkeit und Passigkeit entscheidet der Klient als Experte für sein Leben aber selbst (Kriterium: „Mehr von dem, was hilft, weniger von dem, was nicht hilft“). Im Fall der Ablehnung einer therapeutischen Intervention zeigt der Klient darum nicht Widerstand, sondern Kompetenz und Eigenverantwortlichkeit, die als wichtige Ressourcen zur Entwicklung alternativer, subjektiv passenderer Verhaltensweisen genutzt werden.
In Hinsicht auf das Selbstverständnis der beratenden Person ergibt sich daraus, dass die Beziehung zum Klienten nicht hierarchisch, sondern partnerschaftlich ausgerichtet ist. Noch pointierter: Die beratende Person versteht sich als Dienstleister bzw. Dienstleisterin, der oder die unter Zuhilfenahme professioneller Methoden den mit dem Kunden „auf Augenhöhe“ ausgehandelten Auftrag erfüllt. Sie profiliert sich darum nicht durch Herrschafts- und Spezialistenwissen, sondern durch Empathie und Akzeptanz, Neugier auf die Lebenswelt des anderen, Würdigung und Wertschätzung, Allparteilichkeit und Transparenz hinsichtlich eigener Einfälle, Hypothesen und Ideen – auch Humor und spielerische Leichtigkeit können nützlich sein.
Jesus
Vieles von dem, was systemisches Denken und Handeln charakterisiert, kann ich in den neutestamentlichen Geschichten über Jesus wieder finden – bis hin zu seiner Selbstbeschreibung im Jüngergespräch vor der Gefangennahme: „Ich aber bin unter euch wie ein Diener“ (Lk 22,27).
Jesus hat allerdings gerade durch diesen Umgang mit seinen Zeitgenossen Anstoß erregt und sich die Feindschaft der etablierten Kräfte zugezogen, die in der festgelegten Deutung religiöser und moralischer „Wahrheiten“ stecken blieben. „Er isst mit Zöllnern und Sündern“ (Lk 7,34) monieren darum folgerichtig seine Kritiker, „er lästert Gott“ (Mt 26,65), „er ist verrückt“ (Mk 3,22), „ein Freund des Teufels“ (Mk 3,22) und setzt sich – und das auch noch im Namen Gottes! – über bestehende Ordnungen hinweg. Der souveräne Umgang mit festgelegten Regeln und Wirklichkeitskonstruktionen, die „eindeutig“, „objektiv“ und religiös begründet festlegen, was und wer krank und gesund, fromm oder unfromm, gut oder böse, schuldig oder unschuldig, sogar arm oder reich ist, macht Jesus in den Augen seiner Gegner gefährlich, in den Augen seiner Anhänger faszinierend.
Jesus – ein heimlicher Systemiker? Exemplarisch möchte ich diese These an einigen biblischen Geschichten verdeutlichen und dabei das Augenmerk besonders auf die Aspekte richten, die fast als Vorläufer spezifisch systemischer Methoden gelten können.
Systemische Interventionen in biblischen Jesusgeschichten
Zachäus
Der Zöllner Zachäus (Lk 19,1-11) ist bekannterweise aufgrund seines Berufs (Kollaboration mit der Besatzungsmacht in Zollfragen) unbeliebt und isoliert. Er hat von Jesus gehört und ist neugierig geworden. Aufgrund seiner geringen Körpergröße klettert er auf einen Baum, um einen Blick auf den ankommenden Gast werfen zu können, dabei aber selber den Blicken entzogen zu bleiben. Jesus schaut ihn an (anerkennende Wahrnehmung seiner Situation), so wird erzählt, und sagt: „Heute muss ich in dein Haus einkehren.“
Das ist zwar keine explizite Aushandlung von Anliegen und Auftrag, aber Jesus nimmt zur Überraschung der Umstehenden den Kontaktwunsch des Zöllners („und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre“) auf und lässt sich auf seine Bedürfnisse ein. Der klettert von seinem Baum herunter – Perspektivwechsel! – begegnet Jesus auf Augenhöhe und nimmt ihn bei sich zuhause auf. Und (spannend!): Das war es denn eigentlich auch schon. Aufschlussreich ist das Fehlen zu erwartender Interventionen. Im Gespräch mit Zachäus gibt es keine gründliche Analyse der Problemsituation, keine Erforschung ihrer Genese, keine wertenden Kommentare, keine Grundsatzdiskussion über richtiges und falsches Handeln und auch keine Ratschläge zur Änderung der Lebensführung. Kurz gesagt: weder Beichte noch Verhaltenstraining.
Stattdessen isst und trinkt Jesus mit dem Hausherrn – orientalische Gastfreundschaft. Vielleicht schaut er sich auch Haus und Garten an. Vielleicht fragt er Zachäus nach seinem Leben und seinen Erfahrungen und welche Bedeutung er ihnen zuweist. Anders gesagt: Jesus taucht mit Neugier, Offenheit und Empathie in die (ihm eher nicht vertraute) Lebenswelt seines Gegenübers ein, ohne vorschnell zu verstehen und gutzuheißen, aber auch ohne zu urteilen und zu verdammen.
„Ich muss in deinem Haus einkehren“ – für mich ist das geradezu ein Grundsatz gelingender systemischer Kommunikation. Es ist nämlich immer das Haus oder die Lebenswelt meines Gegenübers, in die er mich als Gast einlädt, in der seine Regeln, Vorstellungen und Gewohnheiten gelten. Es ist immer die Entscheidung des Gastgebers, mir manche Tür zu öffnen oder zu verschließen, mir Brot und Wasser oder eben auch Kuchen und Wein anzubieten. Der Besuch, so wird erzählt, hat Auswirkungen gehabt: Bekanntlich ändert Zachäus sein Leben, gibt vierfach zurück, was er sich vorher genommen hat.
Aus systemischer Perspektive ist entscheidend: Er entwickelt eine eigene Idee darüber, wie er künftig leben will und setzt sie in die Tat um. Die Verhaltensänderung wird also nicht durch ein von Jesus angebotenes Lösungskonzept bewirkt, sondern durch dessen vorbehaltlose Annahme, durch Wertschätzung und ein gesundes Vertrauen in die kreativen Möglichkeiten des reichen, aber unglücklichen Mannes.
Jesus und die Ehebrecherin
Noch plastischer wird die auf Annahme und Würdigung basierende Änderung bei der dramatischen Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8,1-11). Diese ist ja dem religiösen Gesetz und der herrschenden Moral nach schuldig geworden und darum eindeutig zu verurteilen, was nach den Maßstäben der Zeit Tod durch Steinigung bedeutet.
Aber Jesus verweigert das Urteil, das andere von ihm erwarten: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“, sagt er zu den Pharisäern und Schriftgelehrten, eine ebenso tiefsinnige wie auch leicht ironische Aufforderung. Es ehrt diese aus christlicher Perspektive vielgescholtenen Männer, dass sie die zum Steinwurf schon erhobenen Hände wieder herunternehmen und sich zurückziehen, einer nach dem anderen, sprachlos und heilsam verstört durch eine konstruktive Frage, die sie zum Perspektivwechsel anregt und auch ihnen alternative Handlungsoptionen ermöglicht. Zur Frau aber sagt Jesus: „Ich verurteile dich nicht!“ Er begegnet ihr mit Anteilnahme, Würdigung, Wertschätzung, auch wenn sie aus ihrer Geschichte heraus anders gehandelt hat als die gesellschaftliche Norm und vielleicht auch Jesu eigene Idee von gelingendem Leben es erfordert.
Auch hier sehe ich eine Parallele: Systemische Kundenorientierung versucht das Gegenüber in seinem Kontext wahr- und ernst zu nehmen und trennt die Tat vom Täter (Externalisierung). Auf dem Hintergrund dieser gelebten und erfahrenen Annahme kann und soll es dann aber auch um Veränderung, theologisch formuliert um metanoia, Umkehr, gehen, damit Leben auch mit Beschädigungen und Brüchen wieder versöhntes und lebenswertes Leben wird. „Geh und sündige hinfort nicht mehr“, sagt Jesus. Auch das ist keine konkrete Anweisung, kein Rezept, keine verordnete Maßnahme, sondern eine Perspektivöffnung, in der das Zutrauen sichtbar wird, dass ein anderes Leben möglich ist – wie auch immer der oder die andere das für sich gestalten wird.
Der Blinde von Jericho
Interessanterweise setzt Jesus übrigens auch sonst bei dem an, was sein Gegenüber will: „Was willst du, was ich für dich tun soll? “ fragt er den Blinden, der am Tor zur Altstadt Jerichos sitzt und sich mehr schlecht als recht durch Betteln am Leben erhält (Mk 10, 46-52).
Diese Frage könnte in jeder systemischen Ausbildung als Standardintervention gelehrt werden. Denn was der Klient will, ist entscheidend, muss zu Beginn herausgearbeitet und durch eine Verabredung für beide Seiten deutlich gekennzeichnet werden. Geht es in dieser Situation am Stadttor um Heilung, um Soforthilfe, um ein seelsorgerliches Gespräch, ein Almosen oder um etwas ganz anderes? Anliegen und Auftrag müssen geklärt werden: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ – „Dass ich wieder sehen kann!“
Der Blindgeborene
Faszinierend auch, wie durch das reframing neue Sichtweisen ermöglicht werden: Ein anderer Mensch, so wird erzählt, ist schon blind geboren (Joh 9,1-8). Das gängige Erklärungsmuster der Antike fragt nach der Schuld: „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ wollen folgerichtig die Jünger von Jesus wissen. Aber Jesus sprengt die gängigen Deutungsmuster: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern“ sagt er, „sondern es sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden“. Systemisch ausgedrückt wird hier das Problem (= Blindheit) nicht im Ursache-Wirkungszusammenhang interpretiert und erklärt, sondern unter Herausarbeitung eines positiven Aspekts in einen neuen Rahmen (= reframing) gestellt : Das Blindsein hat einen (in diesem Fall: höheren religiösen) Nutzen, ebenso wie auch persönliches Scheitern, Krankheitserfahrungen oder belastende Konflikte positive Teilaspekte haben können, die durch das reframing sichtbar gemacht werden.
Und dann wird der Blinde berührt, verarztet und losgeschickt zum Teich Siloah, weil Heilung und Veränderung da beginnt, wo man selber etwas für das Heilwerden tut und den ersten konkreten Schritt macht. Jesus begleitet ihn nicht, sein Auftrag ist erfüllt. Was noch bleibt, obliegt dem Gegenüber.
„Don’t work harder than the client” könnte man aus systemischer Sicht kommentieren – lass die Verantwortung für das, was dein Gegenüber ändern möchte, konsequent bei ihm oder ihr. Er wird es auf seine Weise lösen.
Das Petrusbekenntnis
Auch die Kommunikation zwischen Jesus und seinen Jüngern in der Perikope Mk 8,27-30 ähnelt einer klassischen systemischen Intervention: Durch zirkuläres Fragen wird der vermutete Standpunkt Dritter einbezogen und erweitert so den eigenen Deutungs- oder auch Handlungsrahmen. Es gibt immer mehr als eine Möglichkeit eine Situation oder ein Verhalten anzuschauen und zu bewerten, Perspektivwechsel verändert angeblich starre Rahmenbedingungen: „Was sagen die Leute, wer ich sei?“ fragt Jesus seine Jünger zunächst. Und dann: „Ihr aber, was sagt ihr, dass ich sei?“ Die konjunktivische Frageform eröffnet einen weiten Raum der Möglichkeiten: Johannes der Täufer, Elia, einer der Propheten oder „der Christus“? Jesus selbst behält übrigens seine Sicht der Dinge an dieser Stelle für sich – eine theologisch spannende Fehlstelle.
Gattungsgeschichtliche Aspekte
Dass Jesus seine Botschaft vom Gottesreich häufig in Gleichnissen und Metaphern verdeutlicht hat, die seinen Hörern keine fertigen Wahrheiten, sondern offene Deutungsräume anbieten, hat in der systemischen Therapie ebenfalls eine Parallele: metaphorisch bildreiche Sprache eröffnet auch im therapeutischen Rahmen ungewohnte Blicke auf Vertrautes und Neues und bringt so festgefahrene Strukturen wieder in Bewegung: Wer ist denn der wirklich verlorene Sohn? Die unausgesprochene Frage aus Lukas 15 verstört das Weltbild der zuhörenden Pharisäer und frommen Gesetzeslehrer und eröffnet andererseits einen Hoffnungshorizont für die, die von anderen oder sich selbst als Verlorene definiert werden.
Mit der systemischen Brille auf der Nase erschließen sich viele Evangelientexte noch einmal anders: Seligpreisungen können als Zuschreibung positiver Möglichkeiten verstanden werden, die die Wirklichkeit verändern, weil sie zeigen, was sein könnte und sein wird (Aufbruch in das Land der Möglichkeiten), Gleichnisse oder Beispielgeschichten wie die vom reichen Kornbauer als paradoxe Intervention, die den Hörer heilsam verstört und ihn zu einem anderen Leben einlädt, Wundererzählungen als Einladung zur Ressourcenorientierung … Da gibt es noch manchen Schatz zu finden und zu bergen.
Schlussbemerkung
„Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ stellt Humberto Maturana, einer der geistigen Väter systemischen Denkens fest und meint damit: Niemand hat einen unabhängigen „objektiven“ Zugriff auf „die Dinge an sich“, sondern nur seine subjektive, selbstkonstruierte Weltsicht. Oder mit Worten Heinz von Foersters ausgedrückt: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“.
Diese konstruktivistische Einsicht gilt natürlich auch für den vorliegenden Versuch, mir vertraut und liebgewordene systemische Denkmuster und Interventionen mit biblischen Inhalten und Sprachformen in Beziehung zu setzen. Als Theologin und Systemikerin lese und deute ich die biblischen Texte natürlicherweise so, dass es meiner Vorstellung eines harmonischen Zusammenspiels von systemischem und theologischem Denken am besten entspricht. Selektive Wahrnehmung und Auslassung einerseits, Vergrößerung und Akzentuierung bestimmter Aspekte andererseits sind nicht nur nicht auszuschließen, sondern mir bewusst: Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung – genau das aber birgt ja eine riesige Chance, Neues zu entdecken.
Andere Bobachter werden fast zwangsläufig zu anderen Ergebnissen kommen. Das ist gut so und auch systemisch in dem Sinne, dass es – hoffentlich! – der Erweiterung von Möglichkeiten und Zugängen dient, Lust darauf macht, Bekanntes und Vertrautes aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen und als kompetenter Kunde selber zu entscheiden, ob die Denkanstöße und Ideen hilfreich, nützlich oder vielleicht nur befremdlich und überflüssig sind.