Schulseelsorge im Horizont des Jugendalters

von Matthias Günther

 

Das Jugendalter: eine Zeit der Krise?

Friedrich Schweitzer schreibt jüngst (2008): „Lange Zeit war die seelsorgerliche Arbeit mit Jugendlichen kaum anerkannt. In Lehrbüchern der Seelsorge kamen Jugendliche nicht vor, und umgekehrt fehlte in (religions-)pädagogischen Darstellungen zum Jugendalter die Seelsorge. Trotz einiger beachtlicher Pionierleistungen aus früherer Zeit handelt es sich bei der verstärkten Aufmerksamkeit für Seelsorge mit Jugendlichen um eine neue Entwicklung, auch wenn die entsprechende Praxis in unausdrücklicher Form gewiss weiter zurückreicht. In der verstärkten Wahrnehmung von Jugendseelsorge spiegelt sich eine veränderte Sicht von Jugendlichen, die nun stärker als selbständiges Gegenüber wahrgenommen werden oder zumindest wahrgenommen werden sollen.“2

Dabei kann es gar nicht verwundern, dass Seelsorge mit Jugendlichen für lange Zeit vernachlässigt wurde, mussten sich doch erst einmal Religionspädagogik und Jugendforschung treffen. Schweitzer schreibt zwölf Jahre früher (1996): „Betrachtet man schulpädagogische Veröffentlichungen einerseits und Darstellungen aus der Jugendforschung andererseits, könnte man meinen, dass Schüler und Schülerinnen keine Jugendlichen sind oder dass umgekehrt Jugendliche nicht zur Schule gehen.“3

Ein Grund mag darin zu sehen sein, dass die klassische europäische Entwicklungspsychologie der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts (vor allem die Arbeiten Charlotte Bühlers und Eduard Sprangers4) die Sicht des Jugendalters durchgehend zumindest latent be­stimmt hat. Und das nicht, obwohl Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre mit dieser entwicklungspsychologischen Tradition gebrochen wurde, sondern weil der Bruch allzu hart war. Indem mit der Abkehr von der klassischen Entwicklungspsychologie der Verlust der ganzheitlichen Perspektive einherging, war der Weg versperrt, die Grundthese, das Jugendalter führe durch die Krise, einer Überprüfung zu unterziehen, und so wirkte sie weiter als feststehendes Vorverständnis in der Religionspädagogik – und wirkt weiter in Überlegungen zur Schulseelsorge. Zwei Beispiele.

Horst Klaus Berg fragt 19935: „Welche Probleme bewegen die Schüler? Wo brauchen sie Orientierung?“ Sieben Stichworte werden genannt, um die „Situation der jungen Generation“ zu kennzeichnen:

  • Die Kompliziertheit des Lebens löse Angst aus.
  • Die „Rädchenexistenz“ erzeuge ein Gefühl der Ohnmacht.
  • Die Anonymität verursache die oft von starker Unsicher­heit und Verletzlichkeit begleitete Suche nach der eigenen Identität.
  • Die Bedrohungsgesellschaft sei den Kindern und Jugendlichen schärfer und radikaler bewusst als den Erwachsenen.
  • Die Hoffnungslosigkeit und Resignation seien der Boden für die „Null-Bock-Einstellung“ der Jungen.
  • Der Zwang zur Perfektion erzeuge in der Mehrheit ich-schwache, ängstliche, oft kranke Kinder.
  • Das Leben in einer hektischen, lauten, künstlichen Welt sei dafür verantwortlich, dass in vielen Lebensbereichen die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und des Ausdrucks verloren gegangen ist.

Gerhard Büttner bestimmt 2007 „Schülerseelsorge“ „als Begleitung in den Krisen des Jugendalters“ und führt aus: „Auch angesichts spezifischer postmoderner Veränderungen ist dieses Lebensalter nach wie vor bestimmt durch häufig krisenhafte Phasen der Identitätsbildung und der beruflichen Orientierung.“6

Ein genauerer Blick auf die Erkenntnisse der modernen Entwicklungspsychologie insbesondere der achtziger und neunziger Jahre kann der Schulseelsorge mit Jugendlichen eine neue Perspektive eröffnen.

 

Das Jugendalter in der Perspektive der modernen Entwicklungspsychologie

Ein wesentliches Ziel der großangelegten Untersuchung des Zürcher Psychologen Helmut Fend (1979 bis 1983 an der Universität Konstanz; befragt wurden Zwölf- bis 16-Jährige)7 war es, die Grundthese der klassischen Entwicklungspsychologie, das Jugendalter – vor allem die Frühadoleszenz – sei die Phase eines krisenhaften Geschehens, zu überprüfen.8 Im Folgenden sollen die verschiedenen Aspekte der klassischen Sicht des Jugendalters und die entsprechenden Ergebnisse Fends gegenübergestellt werden.9 Folgende Aspekte sind von Fend untersucht worden:

  • Die Frühadoleszenz sei eine Phase der Destabilisierung, der Selbstzweifel, der Lebensunzufriedenheit, des negativen Lebensgefühls und der Selbstabwertung (80).
  • Die Frühadoleszenz repräsentiere eine Phase der gesundheitlichen Belastung (ebd.).
  • In der Frühadoleszenz erhöhe sich die Selbstaufmerksamkeit, die Beobachtung richte sich auf das eigene Innenleben (ebd.).
  • Mit der Destabilisierung gehe ein Leistungs- und Haltungsverfall einher (ebd.).
  • Die Frühadoleszenz sei eine Phase der Abwendung von den Erwachsenen, eine Phase der Distanzierung von Eltern und Lehrern (ebd.).
  • In Bezug auf die Gleichaltrigen ergebe sich eine Doppelbewegung: Zum einen nehme die Hinwendung zu den Freunden als Gesprächspartnern oder als Vertrauenspersonen zu, zum anderen aber steige die Isolierungstendenz, der Jugendliche sei jetzt gerne allein, die alte Klassensolidarität schwinde und die Anzahl der Freunde gehe zurück (80f.).
  • Die Destabilisierung drücke sich in einem Wechsel zwischen Aktivität und Passivität aus (81).
  • Nach der ersten Phase der Destabilisierung setzten Aufbauprozesse der Persönlichkeit ein,
  • die sich insbesondere in einer intensiveren Hinwendung zu kulturellen Angeboten und politischen Problemen, zu Überlegungen über Möglichkeiten des Lebens in dieser Welt äußern (ebd.).
  • Der Konstanzer Längsschnitt (fünf Messzeitpunkte, n = 851 Versuchspersonen) ergab nun die folgenden Ergebnisse:




Destabilisierung?
Zur Dimension Selbstzweifel ist das Ergebnis eindeutig: Merkbare Destabilisierungen kann Fend nicht feststellen, im Gegenteil nimmt die Selbstakzeptanz der Zwölf- bis 16-Jährigen in einigen Items zu (die Prozentsätze der Zustimmung zu der Feststellung „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre anders“ sinken merkbar [83]). So ist weiterhin ein verunsichertes Körperselbstbild nicht nachzuweisen. Gleiches ergibt sich im Blick auf die Annahme deutlich steigender emotionaler Labilität in Form reduzierter Emotionskontrolle (83f.). In der Leistungsangst sind alterspezifische Änderungen kaum zu beobachten, vielmehr zeigt sich eine Stabilisierung der Handlungsregulation (die Prozentsätze der Zustimmung zu der Feststellung „Ich habe mir schon oft etwas vorgenommen und es nicht erreicht“ gehen bis zum 15. Lebensjahr deutlich zurück [84]). Fend kommt daher zu dem Schluss, dass „[d]ie Altersentwicklung […] eher in Richtung einer größeren Stabilisierung [verläuft]“ (86).10


Gesundheitliche Belastungen?
Fends Untersuchung bestätigt die genannte Hypothese. Die Verschlechterung des im zwölften Lebensjahr sehr positiven Gesundheitsgefühls bis zum 15. Lebensjahr ist auffällig (die Zustimmung zu der Feststellung „Ich fühle mich gesundheitlich sehr wohl“ sinkt von etwa 55 auf etwa 33 Prozent [87]). Sie fällt bei Mädchen wahrscheinlich deshalb wesentlich deutlicher aus, so Fend, weil Mädchen eher dazu neigen, Belastungen somatisierend und nach innen gerichtet zu verarbeiten (88f.). Insgesamt verschlechtert sich das Gefühl des Wohlbefindens, und die Erschöpfungsanfälligkeit in und nach der Schule steigt.


Innenwendung?
Fend kommt zu dem Ergebnis, dass die Tendenz zur Selbstbeobachtung bei Mädchen mit zunehmendem Alter ansteigt, bei Jungen bis zum 15. Lebens­jahr annähernd konstant bleibt. Ein vermehrtes Tagebuchschreiben, das früher als Indikator für die gesteigerte Innenwendung angesehen wurde, lässt sich nicht nachweisen (90).


Leistungseinbruch?
Weder lässt sich ein gravierender schulstufenbezogener Rückgang der Notendurchschnitte, noch eine gravierende Häufung von Klassenwiederholungen feststellen (92f.). Auch die Zeitinvestitionen zeigen keine wesentlichen Veränderungen vom zwölften zum 16. Lebensjahr, doch aufgrund steigender Anforderungen, die ein Mehr an Zeit verlangen, bedeuten die konstanten Zeitinvestitionen eine sinkende Anstrengungsbereitschaft. Disziplinprobleme steigen bei Jungen deutlicher, ein Zeichen dafür, dass sie Belastungen stärker externalisieren (95).


Distanzierung von der Welt der Erwachsenen?
Obgleich die Wahrnehmung eines positiven Eltern-Kind-Verhältnisses zurückgeht, ist dennoch kein deutlicher Anstieg von Dissens- und Konfliktpunkten zu bemerken (97f.). Ebenso wenig sinkt die Gesprächsintensität; allerdings wandeln sich die Gesprächsinhalte: werden Eltern bei persönlichen Problemen zunehmend weniger als Vertrauenspersonen angesprochen, so kommt ihnen bei Orientierungsfragen zur Wirklichkeit höchste Bedeutung zu (99). Fend kommt nicht zu dem Schluss, „[…] dass sich das Eltern-Kind-Verhältnis heute beim Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz besonders krisenhaft und konfliktreich gestaltet“ (100). Doch es unterliegt dem Wandel. Die emotionale Distanz zu den Eltern wird größer, ebenso zu den Lehrenden in der Schule. Das Verhältnis wird wahrgenommen als „[…] weniger von persönlicher Zuwendung und persönlicher Aufsicht getragen, sondern mehr von einer eher distanzierten, leistungs- und notenbezogenen, kühlen und Selbständigkeit unterstellenden Kontrolle […]“ (102).

Kennzeichnend ist insgesamt die Reorganisation des Beziehungsmusters zu anderen. „Die wichtigste Änderung besteht wohl darin, dass sich die Kinder von der gegebenen Liebe der Eltern zur aufgebenden der gleichaltrigen Partner fortentwickeln müssen. Dadurch taucht am Horizont die bittere Möglichkeit auf, Ablehnung zu erfahren. Sich dieser neuen Liebe zu vergewissern, wird nun zu einem Brennpunkt der Aufmerksamkeit“ (103).


Isolierungstendenz?
Das Erwartungsmuster von einer steigenden Vereinsamung in der Frühadoleszenz wird nicht bestätigt. Nur etwa zehn Prozent der Befragten, so Fends Ergebnis, meinen, dass sie keinen wirklichen Freund haben (104). Entsprechend steigen mit zunehmendem Alter das Gefühl, sozial integriert zu sein, und das soziale Selbstvertrauen (105f.). Der Klassenzusammenhang zeigt eine uneinheitliche Entwicklung; ein hohes Solidaritätspotential ist in der 6. Klassenstufe, dann wieder in der 10. Klassenstufe zu beobachten (108f.). Vom 15. zum 16. Lebensjahr nimmt die Bedeutung von Schulleistungen als Statuskriterium merkbar zugunsten von gruppensolidarischem Verhalten ab, wobei Mädchen Schulleistungen eine noch einmal deutlich geringere Bedeutung zumessen. Fend fasst das Ergebnis zusammen: „Insgesamt ergibt sich für den Bereich der sozialen Beziehungen unter Altersgleichen nicht das Bild einer sehr problemgeladenen Altersphase und sehr problemgeladenen Entwicklungsstufe“ (109).


Passivität?
Der Konstanzer Längsschnitt bestätigt die genannten Hypothesen nicht. Das Tagträumen nimmt zu, das Fernsehen nicht. Vielmehr bleiben Gruppenmitgliedschaften konstant, Gruppenverantwortungen innerhalb oder außerhalb des häuslichen Wirkungskreises erleben mit dem 14. Lebensjahr einen Höhepunkt. Fend führt letzteres auf die intensivere kirchliche Aktivität protestantischer Jugendlicher vor der Konfirmation zurück (112). „Insgesamt“, so Fend, „belegen unsere Daten keine ins Auge springende Gefahr zu passivem Verhalten. Kontinuität von der Kindheit in die Adoleszenz charakterisiert hier die Szene“ (114).


Enkulturierungsprozesse
Das Wissen um demokratische Strukturen und die Analysekompetenz, so Fends Ergebnis, steigen mit zunehmendem Alter an (115), weiterhin das politische Interesse. Dabei zeigt sich: „Jungen sind interessierter als Mädchen“ (117). Allerdings ist „[d]er Prozess des Erwachsens eines politischen Bewusstseins […] von einer größeren emotionalen Distanz gegenüber den politischen Verhältnissen begleitet“ (116). Das moralische Urteilsniveau steigt an – zunächst deutlicher bei Mädchen (117). In der Kultur­entwicklung haben Mädchen einen deutlichen Vorsprung, dennoch lässt sich der erwartete Anstieg insgesamt nicht belegen: „Die kulturellen Interessen scheinen in dieser Lebensphase eher zu stagnieren“ (118).


Fazit
Fend fasst das Ergebnis des Längsschnittes folgendermaßen zusammen:
„Insgesamt bietet sich uns nicht das Bild einer Lebensphase, die von einer Zunahme selbstzerstörerischer, grüblerischer, leidvoller und nach innen gewendeter Problemwahrnehmungen gekennzeichnet ist. Es offenbart sich eher eine pragmatisch orientierte, selbstbewusste und sozial extravertierte Jugendkohorte am Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz. Sie ist skeptisch und informiert, an anderen Menschen interessiert, hat zu den Eltern überwiegend ein kommunikationsintensives und konfliktoffenes Verhältnis, öffnet sich den hedonistischen Möglichkeiten der gegenwärtigen historischen Epoche und sucht Sicherheit in intensiven sozialen Gesellungen mit Gleichaltrigen. Ohne im persönlichen Wohlbefinden stark betroffen zu sein, sieht sie die Zukunft eher skeptisch und die auf sie zukommenden Probleme nüchtern. Die Lebensziele dieser Altersphase verlagern sich auf den sicheren Abschluss der Schule und auf stabile Freundschaften mit Personen des eigenen und des anderen Geschlechts“ (119).

Der Übergang von der Kindheit ins Jugendalter lasse sowohl Wandel als auch Kontinuität erkennen. Die am deutlichsten feststellbare Kontinuität betreffe die Ich-Stärke und das Kontrollbewusstsein der Jugendlichen. „Es erfolgt hier nicht nur kein Einbruch, sondern auf den meisten Aspekten sogar eine Stärkung eines positiven Verhältnisses zu sich selbst“ (120). Dem Wandel unterliege zum einen das Person-Umweltverhältnis: „Was vorher überhaupt nicht im Blickfeld war, wird jetzt wahrgenommen und beurteilt; die Interessen und Bewertungen haben sich verändert; […] besonders die sozialen Beziehungsverhältnisse: Eltern bleiben zwar wichtig, die emotionale Beziehung zu ihnen ist weiterhin sehr wesentlich; sie regulieren aber das Verhalten nicht mehr so ausschließlich und Altersgleiche werden zu wichtigen ergänzenden emotionalen und interpretativen Bezugsinstanzen“ (122).

Zum anderen wandele sich das Verhältnis der Person zu sich selber: „[…] sie muss ihr Selbstverständnis neu organisieren. Sie kann sich nicht mehr kindlich ‚geben‘ ohne ausgelacht zu werden und sie kann sich nicht mehr selbst als Kind verstehen. Im Prozess der Innenwendung und der Selbstreflexion baut sie ein neues Selbstbild, ein neues Selbstideal auf und beginnt die eigene Entwicklung mehr und mehr in die eigene Hand zu nehmen“ (ebd.).

Der Konstanzer Längsschnitt zeigt somit, dass die Grundthese der klassischen Entwicklungspsychologie nicht länger als gültig angesehen werden kann.

Die Ergebnisse Fends sind 1993 durch eine Studie der Marburger und Hallenser Erziehungswissenschaftler Peter Büchner, Burkhard Fuhs und Heinz-Hermann Krüger11 sowie durch eine Replikationsstudie in Holland12 bestätigt worden. Ihre zur Selbstwahrnehmung von Kindern und Jugendlichen (Zehn- bis 15-Jährige: n = 2663; insgesamt n = 3950) durchgeführte Befragung lässt ebenso keine entscheidenden Wahrnehmungsveränderungen in Richtung eines geringeren Selbstwertgefühls erkennen. Auch diese Studie kommt zu dem Schluss, dass die Frühadoleszenz nicht als eine Krisenperiode angesehen werden kann.

Das Ergebnis zur Identitätsentwicklung kann problemlos auch auf die Entwicklung religiöser Vorstellungen übertragen werden. Mit Friedrich Schweitzer gesagt: „Die gesamte religiöse Entwicklung ist eng mit der Identitätsbildung im Jugendalter verbunden. Die Ablehnung eines kindlichen, nun häufig als kindisch wahrgenommenen Glaubens entspricht dem Streben nach einer selbständigen Identität als Jugendlicher oder als (junger) Erwachsener, der kein Kind mehr sein kann oder will.“13 M.a.W.: Auch die religiöse Entwicklung wird von den Jugendlichen aktiv gestaltet.

 

Schulseelsorge mit pragmatisch orientierten, selbstbewussten, sozial extravertierten Jugendlichen

Für die Schulseelsorge mit Jugendlichen eröffnet sich eine neue Perspektive. Sie kann und sollte Jugendliche in der Seelsorge als Partner in einem Kooperationsprozess verstehen. Pragmatisch orientierte, selbstbewusste und sozial extravertierte Jugendliche haben Mut, anstehende Aufgaben zu lösen und verfügen über entsprechende Grundkompetenzen. Ermutigung und Stärkung der Kompetenzen kann und sollte wesentliche Aufgabe der Schulseelsorge sein. Im Einzelnen: Schulseelsorge mit Jugendlichen sollte darauf abzielen

  • der Entmutigung der Jugendlichen vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken, d.h. die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler zu ermutigen – und dies im erfahrbaren Vertrauen auf Gottes Fürsorge, die ihnen gilt. Die Ermutigung kann sich konkretisieren, indem die Schülerinnen und Schüler als Personen, in ihrem Sosein, entsprechend in allen ihren Äußerungen, ernst genommen, erkannt und geachtet werden, so dass sie, ohne Angst um den eigenen Wert haben zu müssen und daher ohne auf Werterhaltungsstrategien zurückgreifen zu müssen, eigene Beiträge leisten können.
  • ihre Deutungskompetenz zu stärken. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern sollte den Möglichkeiten nachgespürt werden, wie sich die Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit nachhaltig erweitern kann. Die Stärkung der Deutungskompetenz kann sich konkretisieren, indem den Schülerinnen und Schülern in der Begegnung mit der biblischen Überlieferung, insbesondere mit den biblisch beschriebenen Menschen „auf Augenhöhe“ zu einer um die religiöse Perspektive erweiterten Wahrnehmung ihrer je eigenen gegenwärtigen Wirklichkeit, zu einem Mehr an Deutungsangeboten verholfen wird (vgl. meinen Beitrag „Petrus begegnen – Annäherungen an den Verleugner“ in diesem Heft). Ist das Mehr nicht nur erlernbar, sondern als solches auch erfahrbar, eröffnet es die Möglichkeit zu gelingender Kooperation – anders: die Fürsorge Gottes weist in die Gemeinschaft.
  • ihre Kooperationsfähigkeit zu stärken. Wenn Schülerinnen und Schüler das Erlebnis des „Auch-Könnens“ machen sollen, muss der Versuch immer genauso hoch bewertet werden wie der Erfolg. Das Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler die Erfahrungen von gelingender Kommunikation, Partizipation und Kontribution bis hin zu gelingender Kooperation machen und diese Erfahrungen in der Schulklasse, im Schulleben und über das Schulleben hinaus umzusetzen versuchen.

Eine kontinuierlich ermutigende Schulseelsorge, die Jugendliche nicht als Menschen in der Krise, sondern als Menschen im Wandel versteht, wird – dies als These zum Schluss – die punktuelle Seelsorge mit ihnen in ihren Krisensituationen immer wieder gelingen lassen.

 

Anmerkungen


  1. Vgl. zum Folgenden auch Günther, Matthias: Seelsorge mit jungen Menschen, Göttingen 2009, S. 101–133.
  2. Schweitzer, Friedrich: Seelsorge mit Schülerinnen und Schülern im Jugendalter, in: R. Koerrenz / M. Wermke (Hg.), Schulseelsorge – Ein Handbuch, Göttingen 2008, S. 99.
  3. Ders.: Die Suche nach eigenem Glauben. Einführung in die Religionspädagogik des Jugendalters, Gütersloh 1996, S. 144.
  4. Vgl. Bühler, Charlotte: Das Seelenleben des Jugendlichen (1922), Göttingen, 6. Aufl. 1967; dies., Kindheit und Jugend. Genese des Bewusstseins (1929), Göttingen, 4. Aufl. 1967; Spranger, Eduard: Psychologie des Jugendalters (1924), Heidelberg, 29. Aufl. 1979.
  5. Berg, Horst Klaus: Grundriß der Bibeldidaktik. Konzepte, Modelle, Methoden, München/Stuttgart 1993, S. 20–24.
  6. Büttner, Gerhard: Die seelsorgerliche Dimension des Religionsunterrichts, in: W. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig, 2. Aufl. 2009, (S. 508–521) S. 514.
  7. Fend, Helmut: Vom Kind zum Jugendlichen. Der Übergang und seine Risiken, Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne I, Berlin/Stuttgart/Toronto 1990, Nachdruck: ebd. 1992.
  8. Bis Ende der siebziger Jahre sind wenige Einzeluntersuchungen einer Überprüfung derüberkommenen Anschauungen gewidmet worden, die jedoch bereits zeigen, dass die Frühadoleszenz eher von Stabilität und kontinuierlichen Entwicklungssträngen gekennzeichnet ist (vgl. Oerter, Rolf/Dreher, Eva, in: R. Oerter/L. Montada [Hg.], Entwicklungspsychologie, München 1982, Weinheim 41998, S. 310–395).
  9. Vgl. Fend, a.a.O., 80–124. Nachweise werden im Folgenden im Text gegeben. 10 Die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind nicht erheblich, zeigen jedoch, dass Mädchen in beiden Dimensionen weniger stabil als Jungen sind.
  10. Büchner, Peter/Fuhs, Burkhard/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Vom Teddybär zum ersten Kuß. Wege aus der Kindheit in Ost- und Westdeutschland, Studien zur Jugendforschung 16, Opladen 1996.
  11. Vgl. Büchner, Peter: Vom Kind zum Jugendlichen. Anmerkungen zum Übergangsprozess von der Kindheit in die Jugendphase aus der Sicht der Kindheitsforschung, in: PTh 88, 1999, S. 350–362.
  12. Schweitzer, in: Koerrenz/Wermke (Hg.), a.a.O., 103; vgl. ders., Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh, 6. Aufl. 2007.