Dekalog versus Werteverfall?
Häufig werden die Zehn Gebote genannt, wenn öffentlich über einen so genannten Werteverfall geklagt wird. Egoismus und Isolation werden unserer Gesellschaft dann als geheime aber sehr präsente Sozialideale angelastet. Dabei bleibt unklar, woran sich die Verfallsdiagnose festmacht. Auch die Frage, ob die Menschen in früheren Zeiten solidarischer miteinander waren, wird nicht gestellt. Gegenläufige Entwicklungen werden ausgeblendet.
Auch aus anderen Gründen scheint die Forderung, die Zehn Gebote als so genannte Geheimwaffe gegen den Verlust von Werten einzusetzen, fraglich, da sie von falschen Maximen ausgeht. Werte gibt es nicht an sich. Sie sind immer auf ein Handlungsziel bezogen und von dort moralisch zu qualifizieren. Werte werden zwischen Menschen auf dem Hintergrund der Erfahrungen von tradierten Werten und des Diskurses über Werte in kommunikativen Prozessen immer wieder neu ausgehandelt. Damit sind sie das Ergebnis kommunikativen Handelns und nicht dessen Voraussetzung.
Blickt man von hier auf die Zehn Gebote als Unterrichtsgegenstand, so werden ihre Intentionen nur dann überzeugend sein, wenn die Schülerinnen und Schüler sie am Ende eines diskursiven Prozesses als gute Grundlage des Miteinanders akzeptieren und Impulse für die eigene Lebensgestaltung daraus ableiten können. Inwieweit die Schülerinnen und Schüler die Postulate der Zehn Gebote im Miteinander berücksichtigen, entzieht sich dem Einfluss des Religionsunterrichts. Denn: Nicht allein die Kenntnis des Dekalogs reicht zur Gestaltung des Miteinanders. Letztlich gilt auch hier: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Doch auch schon Paulus wusste: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Röm 7, 19). Die Frage, woher die Kraft zu nehmen ist, um sich dieses Problems zu erwehren, liegt allem Handeln voraus.1
Biblische Bedeutung
Den Dekalog (griech. „zehn Worte“) findet man im Alten Testament in zweifacher Überlieferung (Ex 20, 1-17 und Dtn 5, 6-21). Er kann als die bekannteste und wichtigste unter den zahlreichen Gebotsreihen der Bibel bezeichnet werden.
Nach der biblischen Überlieferung sind die Zehn Gebote auf der Flucht des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten entstanden: Am Berg Sinai (Horeb) offenbart sich Gott Mose und den Israeliten unter Rauch, Feuer und Beben.2 Mose steigt auf den Berg und erhält dort zwei von Jahwe geschriebene Steintafeln. Mose bleibt 40 Tage und 40 Nächte auf dem Berg und übergibt die Gesetze Jahwes dann dem Volk. Die erste Tafel regelt das Verhältnis des Menschen zu Gott, die zweite Tafel das Verhalten der Menschen untereinander. Historisch ist davon auszugehen, dass die sozialen Lebensregeln der zweiten Tafel zuerst entstanden sind und die Erfahrungen und die Weisheit vieler Generationen spiegeln. So finden sich Einzelgebote bereits vor der Zeit des Mose in Gesetzessammlungen vorderorientalischer Völker wieder. Die Gebote der ersten Tafel ließen sich hingegen auf die Gotteserfahrung am Sinai zurückführen. Beide Steintafeln werden auf den folgenden Wüstenwanderungen in der sog. Bundeslade mitgeführt. Vieles spricht dafür, dass der Kern des Dekalogs tatsächlich auf Mose zurückgeht. Damit würde er auf das 12. oder 13. Jahrhundert v. Chr. zu datieren sein.
Alle Forderungen des Dekalogs leiten sich aus dem Bund mit Jahwe ab. „Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht habe. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“ (Ex 19, 4-5). Tritt der Mensch in den Bund mit Gott ein, wird das Halten der Gebote dankbare Resonanz auf das Befreiungsgeschehen und nicht heteronom auferlegtes Gotteskommando. Hier wird nachvollziehbar, inwieweit der Dekalog eine religiöse Beziehungsstruktur voraussetzt: Jahwes Selbstverpflichtung gegenüber seinem Volk und jedem einzelnen in ihm – „Ich bin der Herr, dein Gott“ (Ex 20,2a) – entspricht die freie Selbstverpflichtung des Menschen gegenüber Gott. Somit ist diese Verbundenheit und Verbindlichkeit seitens der Menschen im Prinzip Dankbarkeit. Unter diesem Stichwort behandelte schon Martin Luther die zehn Gebote in seinem Katechismus.
Bis heute stellt der Dekalog ein Kernstück des jüdischen Glaubens als religiöse Erinnerungskultur dar. Von Jesus wird der Dekalog in seiner Bedeutung bestätigt und durch das Liebesgebot zusammengefasst.3 Somit besteht der Anspruch des Dekalogs auch für den christlichen Glauben.
Die Zehn Gebote im Unterricht der Sek I / II
Die Bedeutung der Zehn Gebote als Thema des Religionsunterrichts ist unstrittig. So sind sie Thema in verschiedenen Jahrgangsstufen. Mit Blick auf die letzten Klassen der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II sollte es darum gehen, die bisher gewonnenen Sichtweisen zur Bedeutung und zu den Intentionen einzelner Gebote zu überprüfen und neue Aspekte zu erschließen. Eine möglichst differenzierte Auseinandersetzung sollte das Ziel des Lernangebots sein.
Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass den Schülerinnen und Schülern der Dekalog bzw. einzelne Gebote aus vorangegangenen Jahrgängen bekannt sein dürften. Allerdings ist das Thema insgesamt nicht besonders attraktiv, denn allein die Formulierung „Du sollst …“ steht dem entwicklungsbedingten Bestreben der Jugendlichen nach einem „Du darfst…“ massiv entgegen. So wird das Thema von den Schülerinnen und Schülern häufig abgewertet und bereits gefasste Meinungen zu einzelnen Geboten stereotyp wiedergegeben. Auf dieser Grundlage lässt sich das oben formulierte Ziel auf herkömmliche Weise im Unterricht kaum erreichen.
Um die negative Einstellung der Jugendlichen zu durchbrechen, stützt sich die folgende Unterrichtsidee auf das Gedankenspiel eines Experiments und die Methode der Bisoziation4. Damit sollen gewohnte Denkroutinen aufgebrochen und der Erschließungshorizont erweitert werden. Methodisch werden hierzu Begriffe, Bilder oder Vorstellungen zweier Bereiche, zwischen denen augenscheinlich kein Berührungspunkt besteht, miteinander verknüpft. Ziel ist es, durch das Zusammenbringen zweier unterschiedlicher „Denk-Dimensionen“, die Weiterentwicklung eines ersten Diskussionsganges zu erreichen. Möglich wird dieses dadurch, dass sich einer ersten thematischen Auseinandersetzung eine zweifache Assoziationsphase anschließt. Hierbei werden Gedanken und Ideen zu einem Thema gesammelt, das möglichst wenige Bezüge zum eigentlichen Thema des Unterrichts hat.5 Im abschließenden Durchgang wird versucht, die Ausgangsdiskussion mit den Assoziationen zu verknüpfen und durch neue Aspekte zum Thema zu einer differenzierteren Betrachtung zu gelangen.
Ein Experiment zu den Zehn Geboten – Konkretion
Einleitend wird den Schülerinnen und Schülern erläutert, dass es sich bei dem folgenden Unterricht um ein Experiment handelt. Im Rahmen des Experiments soll versucht werden, zwei durch nichts miteinander verbundene Unterrichtsgegenstände in Beziehung zu setzen. Wichtig ist der Hinweis, das der Ausgang und das Ergebnis des Unterrichts offen ist und sehr stark von den Ideen und Gedanken der Schülerinnen und Schüler abhängt. Voraussetzung ist, dass sich alle Schülerinnen und Schüler auf das Experiment einlassen.
Zu Beginn des Experiments wird den Schülern der erste Unterrichtsgegenstand vorgestellt. Dabei soll es sich um ein von den Schülern zu wählendes Gebot aus dem Kanon der zehn Gebote handeln. Spannend könnte es sein, ein Gebot zu wählen, das nicht so häufig Gegenstand des Unterrichts war. Beispielhaft soll es in den folgenden Ausführungen, um das erste Gebot („Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“) gehen.
Nach der Festlegung wird die Frage diskutiert, ob und welche Bedeutung das erste Gebot heute für die Menschen hat oder haben könnte. In einer Diskussion werden verschiedene Aspekte zum Thema herausgearbeitet. Da nicht alle Aspekte im Rahmen des Experiments gleichermaßen berücksichtigt werden können, entscheidet die Klasse, welcher Aspekt besonders wichtig ist bzw. mit welchem Aspekt die Schülerinnen und Schüler weiterarbeiten möchten.
In einer Diskussion zum ersten Gebot stellt sich in einer 10. Realschulklasse die Frage „Was ist uns eigentlich wichtig?“. Ein sich anschließender Gesprächsgang befasst u. a. sich mit den Kultmarken der Bekleidungsindustrie und ihrer Bedeutung für das Selbst. Die Gedanken hierzu fasst ein Schüler in dem Satz „1. Gebot einer Marke: Ich bin Tommy Hilfiger dein Gott, du sollst keine anderen Marken haben neben mir“ zusammen. Der Satz wird in die Mitte der Tafel geschrieben und bildet nun den Ausgangspunkt für eine sich anschließende Diskussion. Die wesentlichen Sichtweisen werden auf Moderationskarten festgehalten und in einer Mind Map an der Tafel zusammengefasst.
Nun wird im Rahmen des Experiments der zweite Unterrichtsgegenstand ermittelt. Dazu werden fünf Bilder oder Fotos auf dem Boden ausgelegt. Wichtig dabei ist, dass diese inhaltlich möglichst weit vom Thema entfernt sind. Zur Veranschaulichung sind im Blick auf das erste Gebot die zwei unter M 1 angefügten (aber auch viele andere) Bilder denkbar.
Die Schülerinnen und Schüler der Realschulklasse wählen das Bild des Zauns aus. Dieses wird nun Gegenstand einer sich anschließenden Auseinandersetzung. Dazu erhält das ausgewählte Bild einen gut sichtbaren zentralen Platz. Die Schülerinnen und Schüler assoziieren frei und schlagwortartig zum Bild, stellen Vermutungen an oder betten das Bild in kleine Geschichten ein. Die verschiedenen Gedanken werden in Stichworten zusammengefasst (so dass sie auf einer Moderationskarte von allen noch zu lesen sind), vom Unterrichtenden notiert und gut sichtbar um das Bild gelegt. Im Blick auf das ausgewählte Bild werden von den Schülerinnen und Schülern u. a. die Begriffe „Zaun“, „Hindernis“, „Schranke“, „Reichtum“, „unüberwindbar“, „privat“, „Gewalt“, „Gefängnis“, „Abgrenzung“, „Grenze“, „Ausbruch“ und „Schutz“ genannt.
Im Anschluss werden der an der Tafel stehende Satz und die in der Mind Map festgehaltenen Gedanken wieder in Erinnerung gebracht. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Aufgabe, ihre Diskussion zur an der Tafel festgehaltenen Aussage zu erweitern, indem sie versuchen, diese mit den einzelnen Bildassoziationen in Verbindung zu bringen. Die von einem Schüler angeregte Verbindung zwischen dem Satz „1. Gebot einer Marke: Ich bin Tommy Hilfiger dein Gott, du sollst keine anderen Marken haben neben mir“ und dem Begriff „Gefängnis“ führt zu einer Diskussion darüber, dass die Orientierung an den Vorgaben der Bekleidungsindustrie viele zu „Gefangenen der Marken“ macht. Ein Schüler erwidert: „Ich bin kein Markengefangener. Schau mich an, ich bin reich und schön.“ Eine andere Schülerin äußert: „Ich möchte dazugehören und so ist die Kleidung für mich eine Abgrenzung gegenüber denen, die nicht dazu gehören.“ Ein weiterer Schüler stellt fest: „Es wäre schöner, wenn man sich davor schützen könnte, nicht immer den Druck zu haben, das Neueste der Marken tragen zu müssen. Vielleicht können wir uns hinter dem Zaun freier bewegen.“ Eine weitere Schülerin spricht von der „Gewalt“ der Marken.
Die in den Diskussionsgängen in kreative Verbindung zur These gebrachten neuen Erkenntnisse und Gedanken werden auf Moderationskarten notiert und in eingangs entworfene Mind Map integriert. Ziel des Verfahrens ist es, eine möglichst große Zahl von Aspekten zur an der vom 1. Gebot abgeleiteten Aussage herauszuarbeiten.
Nach einer Betrachtung des Ergebnisses ist die entstandene Mind Map Ausgangspunkt für weitere unterrichtliche Überlegungen zum ersten Gebot. Hierbei erörtert die Klasse, ob die Erkenntnisse zum „1. Gebot einer Marke“ auf das 1. Gebot des Dekalogs übertragbar sind, wo die Unterschiede liegen und welches Gottesbild beiden Aussagen zugrunde liegt. Die Diskussion schließt mit der Frage, welche Impulse die Auseinandersetzung mit dem 1. Gebot den Schülerinnen und Schülern im Blick auf die Reflexion eigener Lebenszusammenhänge gegeben hat.
Nach der inhaltlichen Arbeit erfolgt die Auswertung des Experiments. Ist es gelungen, zwei unterschiedliche Unterrichtsgegenstände miteinander zu verbinden? Haben sich dabei neue Gesichtspunkte für die eingangs geführte Diskussion ergeben? Was bedeutet dieses grundsätzlich für unser Denken? etc…
M 1
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Anmerkungen
- Jesus Christus bezeugt diese Kraft als zuvorkommende Liebe Gottes, die wiederum zur Umsetzung des Liebesgebots (trotz aller Widrigkeiten) befähigt.
- Der historisch-kritische Befund betrachtet den Dekalog als einen nachträglichen Einschub in die wohl ältere Tradition der Sinaioffenbarung, vgl. z.B. H.-J. Boecker u.a.: Altes Testament (Neukirchener Arbeitsbücher), 5. Aufl. 1996, S. 112.
- Vgl. Mt 22,34-40; dabei lässt sich diskutieren, ob Jesus in den Antithesen der Bergpredigt den Dekalog nicht nur voraussetzt, sondern auch überbietet (vgl. Mt 5,21f., 27f.).
- Der Begriff wurde von dem ungarischen Schriftsteller Arthur Koestler (1905-1983) ausgehend vom Wort „Assoziation“ geschaffen. Bisoziation meint zweimaliges Assoziieren.
- Methodisch ist es dabei sinnvoll, Werke der bildenden Kunst bzw. Fotos einzusetzen. Bilder eröffnen gute Zugänge zu den bildhaft gespeicherten Erfahrungen des Menschen.