Kain und Abel begegnen - Annäherungen an ein Geschwisterpaar: Eine Unterrichtsstunde an der BBS

von Matthias Günther

 

Christoph Müller schreibt zur Kain-und-Abel-Erzählung (Gen 4,1-16): „Wenn wir die Geschichte nicht von vornherein von uns wegschieben, beginnen wir meistens, irgendwo und irgendwie mitzuspielen. Bin ich Kain? Bin ich Abel? Oder bin ich Kain und Abel? Es ist eine Geschichte mit Widerhaken. Wer sie hört, aufmerksam, wer sie nicht bereits zu kennen glaubt, wird mit Widerspruch reagieren, mit Rückfragen jedenfalls. Manche Zuhörer und Zuhörerinnen der Erzählung werden vielleicht spüren, dass sie in den beiden Rollen von Abel oder Kain nicht mitspielen wollen. Ist es nicht, so werden sie fragen, eine Gewaltgeschichte, die sie, wenn sie schon mitspielen sollten, anders gestalten würden?“1 Letzteres wäre ein schönes Ziel für eine Unterrichtsstunde „Kain und Abel begegnen“ an der BBS!

Die Unterrichtstunde ist (idealerweise) der zweite Schritt in einer Einheit „Biblische Geschwistergeschichten“2. Die Einheit zielt darauf ab, die soziale Problemlösungskompetenz der Schülerinnen und Schüler zu stärken: Die Schülerinnen und Schüler sollen

  • ihr Erleben und Verhalten innerhalb ihrer eigenen Geschwisterreihe und ihrem weiteren sozialen Umfeld wahrnehmen
  • biblisch überlieferte Geschwistergeschichten kennen lernen und das Erleben und Verhalten der beschriebenen Geschwister nachvollziehen
  • zu einer erweiterten Wahrnehmung ihrer je eigenen gegenwärtigen Wirklichkeit mit Geschwistern und in ihrem weiteren sozialen Umfeld befähigt werden
  • die Beziehung Gottes zu den biblisch beschriebenen Geschwistern erkennen – und schließlich vor diesem Hintergrund
  • alternative Konfliktlösungen (Kooperations- anstelle von Distanzstrategien) entwickeln und im Blick auf ihre Lebenswirklichkeit prüfen

 

Biblisch-theologische Überlegungen

Die Kain-und-Abel-Geschichte3ist anderes und mehr als der erste Mordfall der Menschheitsgeschichte. Sie zeigt auffällige Entsprechungen zur Paradiesgeschichte (Gen 2,4b-3,24). Beide Geschichten erzählen von einem Vergehen, das Jahwe in einem Verhör feststellt und in einem Fluchspruch bestraft; Jahwe selbst schützt die Bestraften schließlich vor den ärgsten Folgen ihrer Vergehen (3,21; 4,5b). Da die Geschichte von Kain und Abel jedoch nicht als eine zweite Sündenfallgeschichte gelesen werden will, ist es interessant zu sehen, worin sich Gen 3 und 4 unterscheiden. Gen 4 beginnt mit der Geburt der Söhne des von Gott erschaffenen Menschenpaares Adam und Eva – oder mit Claus Westermann gesagt: zu der Urbeziehung von Mann und Frau tritt nun die Urbeziehung des Nebeneinanders von Brüdern. Während in Gen 2 das Verhältnis von Mann und Frau als einander entsprechende Hilfe beschrieben worden ist, wird nun die andere Möglichkeit gezeigt: „die der Feindschaft, des Gegeneinander, das sich aus dem Nebeneinander der Brüder ergeben kann, zusammen mit dem Reagieren Gottes darauf. Brüder sind, wie das dann auch die Vätergeschichte zeigt, natürliche Rivalen; im Brudersein wurzelt Rivalität, Konkurrenz, Streit, Feindschaft. Diese erwachsen normalerweise nicht aus der Partnerschaft von Mann und Frau, auch nicht aus dem Verhältnis von Eltern und Kindern, obwohl es sie auch hier geben kann; sie erwachsen normalerweise aus dem Nebeneinander von Gleichgestellten, weil sich aus ihm Konfliktmöglichkeiten ergeben.“4

Gen 4,1-16 erzählt somit von individuellem (Rivalität zwischen den beiden Brüdern) und urgeschichtlichem Geschehen (Söhne des von Gott geschaffenen Menschenpaares).

V. 1-2: Der Name Kain, hier sicher Personenname, kein Stammesname, bereitet Schwierigkeiten. Er geht auf eine Bedeutung zurück, die mit Schmiedekunst (oder allgemeiner: Metallbearbeitung) zu tun hat. Doch hilft diese Rückführung für die Kain-und-Abel-Geschichte nicht weiter. Eher lässt sich eine Bedeutung aus der Geschichte selbst entnehmen. Nach der Strafrede Jahwes an Adam (3,17-19) ist sein erstes Wort ein Bekenntnis zum Leben („Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben.“), nach der Strafrede Jahwes an Eva (3,16) ist ihr erstes Wort (4,1) der Jubel über das neue Leben, sie deutet den Namen Kain als Lobnamen: „Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe Jahwes“ (später dann genauso den Namen Set: 4,25).
Der Name Abel illustriert das Schicksal des Zweitgeborenen in dieser Geschichte: er wird geboren, er wird erschlagen; er ist vergänglich, ein Hauch, eine Nichtigkeit.

Die Berufsangaben sind für das folgende Nebeneinander gleichwertiger Opfer wichtig, lassen jedoch keine weiterreichenden Deutungen zu. Anders als bei Jakob und Esau, die sich ihnen entsprechende Berufe gewählt haben (Gen 25,27), sind Schäfer und Ackermann hier die beiden Grundberufe einer notwendig gewordenen Arbeitsteilung von Bewahren (Hüten) und Bebauen der Erde.

V. 3-5: Zwei Fragen zum Opfer werden reichlich diskutiert: Warum sah Jahwe Abel und sein Opfer gnädig an, Kain und sein Opfer aber nicht? Woran erkannten Kain und Abel die Annahme oder Nichtannahme ihrer Opfer? An beiden Fragen hat der Erzähler kein Interesse. Tatsächlich ist das Opfer Abels ein wenig mehr ausgemalt: er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Doch dass Jahwe das Opfer Kains nicht annahm, kann weder auf seine Gesinnung noch auf ein falsches Opfer noch auf eine falsche Art des Opferns zurückgeführt werden.

Entscheidend ist, dass an dieser Stelle Ungleichheit in das Nebeneinander Gleichberechtigter tritt. Der eine bekommt, was dem anderen versagt wird. Die Reaktion Kains wird nicht als negative Reaktion, sondern als normale und berechtigte Reaktion auf die Erfahrung der Ungleichheit erzählt: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“, das heißt, er bricht die Beziehung und Gemeinschaft mit Abel ab, er will ihn nicht mehr ansehen.

V. 6-7: In der Regel nimmt man an, die Verse seien nachträglich in die Kain-und-Abel-Geschichte eingefügt worden; doch ist das nicht zwingend. Jahwe fragt Kain nach dem Ziel seines Handelns, was er vorhabe, wenn er ergrimme und sein Gesicht senke, um sogleich die Konsequenzen der möglichen Ziele zu benennen. Mit Diethelm Michel sollte das hebräische Wort lama nicht mit „warum“, sondern mit „wozu“ übersetzt werden. Es fragt nicht nach in der Vergangenheit liegenden Gründen für ein Handeln (was an dieser Stelle auch seltsam wäre!), sondern nach den bewussten oder unbewussten Zielen des Handelnden.5 Zwei Ziele stehen Kain offen: Macht er es gut (von Frömmigkeit, wie Luther übersetzt, ist hier nicht die Rede!), kann er seinen Bruder ansehen, d.h. die Beziehung und Gemeinschaft mit Abel aufrechterhalten. Macht er es nicht gut, ist er in Gefahr, zum Spielball seiner Gefühle von Rivalität, Konkurrenz, Streit und Feindschaft Abel gegenüber zu werden. Sie könnten vollständig von ihm Besitz ergreifen (die Sünde lauert vor der Tür), aus dem Nebeneinander könnte ein Gegeneinander werden, das dämonische Dimensionen anzunehmen drohte, das außer Kontrolle zu geraten drohte. Doch noch immer hat Kain die Gelegenheit, zu wählen: „Du aber herrsche [über die Sünde].“

V. 8: Kains Ziel steht fest. Er erhebt sich wider seinen Bruder; das Nebeneinander ist zu einem Gegeneinander geworden. Dem Ziel, sich zu erheben, entspricht die Tat, die folgt. Die geläufige Zuschreibung, Kain stehe für das Böse, Abel für das Gute, lässt sich hier nicht erkennen. Vielmehr stellt die Geschichte nüchtern fest: so kann es sein, so ist es.

V. 9-10: Die Frage Jahwes „Wo ist dein Bruder Abel?“ setzt das Nebeneinander der Brüder voraus. Kains angesichts des Mordes makabere Entgegnung „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (eigentlich und deutlicher: „Soll ich der Hüter des Hüters/Hirten sein?“) widerspricht dieser Voraussetzung. Hier wird man kaum den Versuch lesen können, Kain wolle seine Tat verdecken. Vielmehr antwortet er seinem Ziel, sich über Abel erheben zu wollen, entsprechend. Abel musste weg, damit Kain zum Zuge kommen kann – wie kann Kain dann Abels Hüter sein? Das aber bedeutet auch, dass sich Kains Verhältnis zu Jahwe verändert hat. Nachdem er tatsächlich zum Spielball seiner Gefühle von Rivalität, Konkurrenz, Streit und Feindschaft Abel gegenüber geworden ist, hat er sich zwangsläufig auch von der Gemeinschaft mit Jahwe abgewandt. Mit Jahwes Wort „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“ wird allerdings klar: ein Davonkommen vor Jahwe gibt es nicht, nicht für Kain, für niemanden.

V. 11-12: Der Fluchspruch Jahwes stellt die vom Täter selbst verursachte Tatfolge fest. Der blutgetränkte Acker verliert seine Fruchtbarkeit, der Ackermann muss den Acker verlassen. Kain wird aus der Gemeinschaft der Menschen ausgesondert (unstet und flüchtig wird er überall auf der Erde sein).

V. 13-15: Wie der Schrei des Blutes Abels von Jahwe gehört wird, so auch die Klage Kains über die Schwere seiner Strafe. „Siehe, du vertreibst mich heute vom Acker“ meint die Verbannung aus dem Lebensraum, in dem sich Kains und Abels Leben abspielte. „Ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen“ bezeichnet ein Sich-Verstecken-Müssen vor Gottes Zorn. „So wird mir`s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet“ ist zu verstehen als ein ohnmächtiges Ausgeliefertsein des Ausgesonderten an seine Feinde – und das kann grundsätzlich jeder sein. Das Nein Jahwes mildert die Strafe/die Tatfolge nur insofern, als die von Kain befürchtete Folge seines Ausgesondertseins, von jedem getötet werden zu können, ausgeschlossen wird.

Der Schutz Jahwes gilt dem Ausgesonderten, der Kain bleibt. Zwischen Strafe und Schutz besteht demnach kein Widerspruch. Das Zeichen, das Jahwe Kain setzt, hat die Funktion, ein Eingreifen anderer in die Strafe Jahwes zu verhindern. Es ist zuallererst sichtbares Zeichen des von Jahwe aufgestellten Rechtssatzes: „Wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.“

V. 16: Das Land Nod bezeichnet wie „jenseits/östlich von Eden“ ein Leben in der Ferne von Jahwe.

Folgende Aussagen der Kain-und-Abel-Geschichte lassen sich festhalten:

  • Im Nebeneinander gleichgestellter Brüder wurzelt Rivalität, Konkurrenz, Streit, Feindschaft.
  • In das Nebeneinander Gleichgestellter lässt Gott Ungleichheit treten.
  • Der Mensch wählt das Ziel seines Handelns, das Nebeneinander trotz der Ungleichheit aufrechtzuerhalten oder sich dem Gegeneinander bis hin zum Brudermord auszuliefern.
  • Ein Davonkommen im Sinne des Gelingens eines Mordes vor Gott ist für immer gültig ausgeschlossen.
  • Der Mensch bleibt auch als Mörder Gottes Geschöpf; Gott schützt sein Leben.

 

Didaktische Überlegungen

Zunächst zwei Gründe für die Behandlung des Themas „Biblische Geschwistergeschichten“ im Unterricht:
 

Glaubwürdigkeit gründet in Wirklichkeitsentsprechung

Unter diese Prämisse stellt Dietz Lange 1984 eine Studie mit dem Titel „Erfahrung und die Glaubwürdigkeit des Glaubens“.6 Voraussetzung dafür, dass biblische Geschwistergeschichten als glaubwürdig erkannt werden können, wäre demnach zuallererst, dass Kinder und Jugendliche mit Geschwistern aufwachsen. Welche Auskunft geben die demographischen Daten zur Geschwistersituation? Im Jahr 2000 hatten 51,2 Prozent aller Familien in Deutschland ein Kind, 37 Prozent zwei Kinder und 11,7 Prozent drei und mehr Kinder.

Die Zahlen liefern allerdings eine Momentaufnahme: Kinder, die zum Zeitpunkt der Zählung geschwisterlos sind, müssen nicht Einzelkinder bleiben. Um beantworten zu können, mit wie vielen Geschwistern Kinder im Verlauf ihrer Kindheit in einem Haushalt aufwachsen, ist der Blick auf die sechs- bis neunjährigen Kinder aufschlussreich (in der Regel sind bei Kindern dieses Alters die jüngeren Geschwister bereits geboren, und die älteren Geschwister wohnen überwiegend noch zu Hause).

Es ergibt sich folgendes Bild: 19 Prozent aller Kinder bleiben während ihrer gesamten Kindheit Einzelkinder. Die Hälfte der Sechs- bis Neunjährigen wächst mit einem Bruder oder einer Schwester im Haushalt auf, 31 Prozent leben mit zwei oder mehr Geschwistern zusammen. Mehr als 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen wachsen oder wuchsen demnach mit Geschwistern auf (die Daten nach Heribert Engstler/Sonja Menning7). Das heißt: Biblische Geschwistergeschichten entsprechen der Wirklichkeit der Kinder und Jugendlichen – und haben einen Glaubwürdigkeitsvorsprung!
 

Biblische Geschwistergeschichten erzählen von interpersonalem Geschehen

Interpersonales Geschehen in einer Geschwisterkonstellation ist ein entscheidender Bereich, den die meisten Schülerinnen und Schüler erleben und in dem sie sich verhalten (Einzelkinder können auf vergleichbares interpersonales Geschehen in anderen Konstellationen zurückgreifen). Ihre Erfahrungen reichen von gelungener Kooperation bis hin zu völliger Distanzierung – und wirken weiter in den Interaktionen in ihrem weiteren sozialen Umfeld. Wenn über den Anknüpfungspunkt interpersonalen Geschehens eine Begegnung mit biblisch beschriebenen Geschwistern gelingt, bei der die Schülerinnen und Schüler teilnehmende Subjekte sowohl an ihrer gegenwärtigen als auch an der biblisch überlieferten Wirklichkeit sein können, ist grundsätzlich kontinuierliche Wirklichkeitsentsprechung der biblischen Überlieferung gegeben. Die Schülerinnen und Schüler können selbst erlebtes interpersonales Geschehen in die Perspektive der Beziehung Gottes zu den Geschwistern der Bibel stellen und erhalten – umgekehrt – ein neues, religiöses Deutungsangebot für ihr eigenes Erleben und Verhalten.

Wenn weiterhin die Möglichkeit zu Empathie und Solidarität als Handlungsalternative nicht nur in den biblischen Überlieferungen erkennbar, sondern im Unterrichtsgeschehen durch Ermutigung und Stärkung der Kooperationsfähigkeit auch erlebbar ist, sollte sie auch übertragbar sein in die je eigene Gegenwart und Zukunft – eine Stärkung der sozialen Problemlösungskompetenz wäre erreicht.

Der Unterricht muss daher derart gestaltet sein, dass die Schülerinnen und Schüler die Erfahrung machen, erfolgreich eigene Beiträge zum Unterrichtsgeschehen leisten zu können. Die fünf Phasen der Erarbeitung der Skulptur „Kain und Abel“ von Eberhard Szejstecki eröffnen einen Begegnungsraum mit den Figuren und ihrer Interaktion, der allen Schülerinnen und Schülern offen steht. Weder setzt die Stunde „Traditionsreste“ bei vom „Traditionsabbruch“ betroffenen Schülerinnen und Schülern voraus, noch schließt sie Schülerinnen und Schüler nichtchristlicher Religionen aus. Die biblische Überlieferung wird in den Begegnungsraum hineingenommen und ist somit ein weiterer Baustein einer erweiterten Wahrnehmung der eigenen Lebenswirklichkeit.
Die Unterrichtsstunde bietet Material, mit dem die Schülerinnen und Schüler in den Folgestunden alternative Konfliktlösungen auf der Basis religiöser Erfahrungen (Kooperations- anstelle von Distanzstrategien) erkennen und im Blick auf ihre Lebenswirklichkeit prüfen können. Dass sie Handlungsalternativen aufgrund von biblisch beschriebenen Gotteserfahrungen in ihre je eigene Gegenwart und Zukunft zu übertragen versuchen, bleibt dabei ein offenes Angebot.

Damit lassen sich für die Unterrichtsstunde „Kain und Abel begegnen“ folgende Ziele formulieren: Die Schülerinnen und Schüler sollen

  • die Figuren der Skulptur von Eberhard Szejstecki zum Leben bringen, indem sie „Kain und Abel“ betrachten, beschreiben, nachstellen, deuten und ihre Gedanken in Sprache bringen,
  • Kain und Abel in Gen 4,1-16 begegnen und das beschriebene Erleben und Verhalten wahrnehmen,
  • das biblisch beschriebene Erleben und Verhalten Kains und Abels mit den Ergebnissen ihrer Begegnung mit den Figuren ins Gespräch bringen,
  • erkennen, dass Gott an der Urbeziehung des Nebeneinanders der Brüder (Claus Westermann) festhält.

 

Die Unterrichtsbausteine

Die vorige Stunde: Ein Familienstammbaum

Es klingt selbstverständlich – und hat doch große Beachtung verdient: Das ältere Kind war eine Zeit lang ein Einzelkind. Es durchlebte und erfuhr eine Lebensphase, die jüngere Geschwister nicht kennen. Das jüngere Kind war nie ein Einzelkind. Es erlebt von Anfang an, dass ihm ein älteres Kind voraus ist. Das jüngste Kind war immer jüngstes Kind. Es kennt keine Lebensphase ohne mindestens zwei ältere Geschwister.

Das Erstellen eines Familienstammbaums, bei dem Geschwisterreihen dem Alter nach von links nach rechts aufgelistet werden (falls möglich auch der Eltern und Großeltern), hilft, verschiedenen Lebensphasen wahrzunehmen. Die Schülerinnen und Schüler nehmen nicht nur die eigenen Lebensphasen in ihrer Geschwisterkonstellation wahr, sondern ebenso die ihnen unbekannten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. Sie können damit zugleich schon zu Beginn der Unterrichtseinheit die Urbeziehung des Nebeneinanders von Geschwistern erspüren.

Die Wahrnehmung der eigenen Stellung in einer Geschwisterreihe lässt sich dann vertiefen, indem sich die Schülerinnen und Schüler in Gruppen (das älteste, das jüngere, das jüngste, das einzige Kind) über ihr Erleben und Verhalten austauschen: Was ist typisch zum Beispiel für ein ältestes Kind? Die Ergebnisse, auf verschiedenfarbige Moderationskarten notiert und später von den Gruppen vorgestellt und gesichert, ergeben nicht nur ein buntes Bild über die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler, sondern bieten ein reiches Material, auf das immer wieder zurückgekommen werden kann.
 

Eine erste Begegnung: Die Skulptur „Kain und Abel“
von Eberhard Szejstecki

Einige Informationen zum Künstler und zu seinem Werk: Eberhard Szejstecki wurde 1958 in Gelsenkirchen geboren. Von 1984-1986 studierte er Graphik-Design an der Fachhochschule Münster, anschließend bis 1992 Bildhauerei an der Hochschule für Kunst in Bremen.
Bei dem Werk „Kain und Abel“ handelt es sich um eine bemalte Terracotta-Vollplastik. Wichtig zu wissen ist, dass die moderne Kunst die Bemalung zunächst nicht als Erhöhung (wie z.B. im Mittelalter), sondern als Beeinträchtigung eines Werkes ansah. Hier ist die Bemalung als zusätzlicher Wert zum Ausdruck des Werkes anzusehen. Die Terracottatechnik (gebrannte Tonerde) gehört zu den ältesten künstlerischen Techniken der Menschheit. In Griechenland stand zur Zeit der geometrischen Epoche (etwa 900-700 v. Chr.) eine reiche Tonindustrie in Blüte, die vor allem Weihgeschenke für Heiligtümer herstellte, zunächst kleinere Tiere, später auch menschliche Figuren, die auch im Haus aufgestellt wurden.

Betrachtet man Eberhard Szejsteckis Skulptur zum ersten Mal, ohne ihren Titel zu kennen, so kommt man sicher nicht auf den Gedanken, dass es sich um eine Darstellung von Kain und Abel handelt. Man sieht zwei dem Betrachter frontal zugewandte Figuren, die einander friedlich umarmen und etwas fragend in die Welt schauen. Dass der Betrachter sofort eine Verbindung mit Kain und Abel herstellt, hat der Künstler scheinbar nicht beabsichtigt. Zwei archaisch anmutende Gestalten sind zu sehen. Die größere Figur (Kain?) hat die linke Hand auf die Schulter der kleineren (Abel?) gelegt und hält den rechten Arm streng an der Seite, die Hand geöffnet nach unten weisend. Sie ist unbekleidet. Dagegen ist die kleinere Figur mit Hose und Schuhwerk bekleidet. Sie hält die linke Faust geballt. Beide Figuren stellt Szejstecki barhäuptig dar; Nase und Ohren werden dadurch betont. In ihrer Physiognomie ähneln sie sich. Für die Bemalung verwendet der Künstler weiße, schwarze und ockerfarbene (dem Rot zugehörige) Töne. Das Weiß, unter anderem die Lichtfarbe, scheint von oben her auf das Paar zu fließen. Die linke Figur nimmt das Schwarz der rechten nur in der aufgelegten Hand auf. So lässt das Paar Raum für vielerlei Assoziationen. Durch die Frontalität und Barhäuptigkeit sieht man die Ohren der Figuren deutlich – Symbol für die Öffnung zum Gesprächspartner? Die fast schwarze rechte Figur, deren Hand zur Faust geballt ist, mag politische Assoziationen wecken, als ein Symbol der zu überwindenden Unterdrückung von Menschen. Schwarz kann als nichtbunte Farbe in Analogie zu weiß dem Absoluten entsprechen. Es kann sowohl die Fülle des Lebens als auch dessen Mangel ausdrücken. Das Weiß, als Summe aller Farben, mit dem beide Figuren bemalt sind, die linke mehr, die rechte weniger, kann die Fülle der Erfahrungen zeigen und Offenbarungsträger sein. Der in beiden Figuren aufgenommene Ockerton steht hier vielleicht für das Leben und die Liebe, als Symbol für das Menschliche.

Wie nun sollen die einzelnen Phasen der Begegnung gestaltet werden? Wie können die Schülerinnen und Schüler die Figuren zum Leben bringen?

  • Betrachten: Die Lehrerin/der Lehrer zeigt das Foto der Skulptur nur kurz und lädt die Schülerinnen und Schüler zum Betrachten ein; anschließend wird die Frage gestellt: „Was haben Sie gesehen?“
  • Beschreiben: Die Lehrerin/der Lehrer zeigt erneut das Foto und fragt die Schülerinnen und Schüler: „Was sehen Sie?“ Hier ist darauf zu achten, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst genau beschreiben, aber nicht deuten sollen.
  • Nachstellen: Die Lehrerin/der Lehrer bittet die Schülerinnen und Schüler, Dreiergruppen zu bilden. Die Gruppen sollen die Figuren der Skulptur möglichst genau nach dem Foto nachstellen (zwei Schülerinnen und Schüler stellen die Figuren nach, ein Schüler/eine Schülerin leitet sie an). Die Standbilder sollen 30 Sekunden stehen bleiben; der „Regisseur“ achtet auf die Zeit. Die Lehrerin/der Lehrer fragt die Schülerinnen und Schüler anschließend: „Wie haben Sie sich gefühlt?“ „Was fiel ihnen leicht?“ Was fiel Ihnen schwer?“
  • Deuten: Die Lehrerin/der Lehrer fragt: „Was will der Künstler darstellen? (Wer könnten die Figuren sein? Welche Beziehung existiert?)“ Die Lehrerin/der Lehrer erinnert die Schülerinnen und Schüler gegebenenfalls an Ergebnisse ihrer Beschreibung. Die Lehrerin/der Lehrer nennt (erst jetzt!) den Titel der Skulptur.
  • Ihre Gedanken in Sprache bringen: Die Lehrerin/der Lehrer L teilt M 2 aus und bittet die Schülerinnen und Schüler, in die Denkblasen der Figuren einen aussagekräftigen Satz zu notieren: „Was denken die Figuren?“ Die Lehrerin/der Lehrer fordert die Schülerinnen und Schüler auf, Ihre Ergebnisse vorzustellen und die Arbeitsblätter an der Tafel anzubringen. Die Schülerinnen und Schüler sollen versuchen, ähnliche Ergebnisse einander zuzuordnen.
     

Eine zweite Begegnung:
Die Kain-und-Abel-Erzählung Gen 4,1-16

Die Schülerinnen und Schüler sind nun nicht nur vorbereitet, sondern auch daran interessiert, Kain und Abel in der biblischen Überlieferung zu begegnen:

  • Hören: Die Lehrerin/der Lehrer liest Gen 4,1-16 vor (möglichst eine korrigierte Fassung, z.B. nach Horst Seebass).
  • Erinnern: Die Lehrerin/der Lehrer fragt die Schülerinnen und Schüler anschließend: „Was haben Sie gehört?“ Eine Methode, die Erinnerungen festzuhalten, bietet sich an: Die Lehrerin/der Lehrer notiert das Gehörte auf Karten (jeweils eine Erinnerung auf eine Karte), legt die Karten dann ungeordnet auf eine Tischreihe und bittet anschließend die Schülerinnen und Schüler, ihre Erinnerungen in die richtige Reihenfolge zu bringen und die Geschichte (nur) mit Hilfe der Karten nachzuerzählen.
  • Lesen: Die Lehrerin/der Lehrer teilt ein Blatt mit dem Text Gen 4,1-16 aus. Die Schülerinnen und Schüler sollen den Text abschnittweise laut vorlesen.
  • Ins Gespräch bringen: Die Lehrerin/der Lehrer bittet die Schülerinnen und Schüler, die Figuren Kain und Abel in Gen 4,1-16 mit den Figuren der Skulptur zu vergleichen. Wer könnte Kain sein, wer Abel? An welcher Stelle in der biblischen Erzählung könnten die Figuren der Skulptur stehen? Vor dem Brudermord? Wäre dann auch eine Alternative zum biblisch beschriebenen Fortgang der Erzählung denkbar? Könnte es eine Versöhnung der Brüder geben? Nach dem Brudermord? Hier stellte sich die Frage nach der Schuld Kains (oder sogar auch Abels?).
  • Gott „Regie führen“ lassen: Als Abschluss der Unterrichtsstunde sollen die Schülerinnen und Schüler noch einmal gebeten werden, in Dreiergruppen die Figuren der Skulptur darzustellen. Nun aber soll Gott der „Regisseur“ sein. Wie würde Gott die Figuren stellen? Wäre Gott sogar Teil der Szene und hielte (nun ganz leiblich) an der Urbeziehung des Nebeneinanders der Brüder fest? Eine solche leibliche Erfahrung der Schülerinnen und Schüler zum Abschluss würde nicht nur die Ergebnisse der Unterrichtsstunde verstärken, sondern über sie hinaus wirken.
     

Die Folgestunden

Für die Folgestunden sind verschiedene Methoden der Vertiefung denkbar. Sie seien zum Schluss nur kurz benannt:

  • ein Vergleich mit der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32)
  • eine Verfremdung der Kain-und-Abel-Erzählung für die Gegenwart
  • die Analyse des Films „Jenseits von Eden“ (USA 1954, 113 Minuten)

 


M 1 „Kain und Abel“

 

Anmerkungen

  1. Müller, Christoph: 13. Sonntag nach Trinitatis, 17. September 2000. Predigt über Genesis 4,1-16(und 17), in: Göttinger Predigten im Internet, www. predigten.uni-goettingen.de.
  2. Vgl. dazu Günther, Matthias: „...soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (Gen 4,9). Geschwistergeschichten im biblischen Unterricht und die Frage nach dem „didaktisch Notwendigen“, in: Loccumer Pelikan 2001, S. 176-182; ders., Soll ich meines Bruders Hüter sein? Biblische Geschwistergeschichten für Gemeinde und Schule, Dienst am Wort 111, Göttingen, 2007, S. 38-78.
  3. Der Blick in folgende Kommentare sei empfohlen: Seebass, Horst: Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn 1996; Westermann, Klaus: Genesis, Biblischer Kommentar Altes Testament I/1, Neukirchen 1974.
  4. Westermann, S. 390.
  5. Michel, Diethelm: „Warum“ und „Wozu“? Eine bisher übersehene Eigentümlichkeit des Hebräischen und ihre Konsequenzen für das alttestamentliche Geschichtsverständnis, in: Hesse, Jürgen (Hg.): „Mitten im Tod – vom Leben umfangen“. Gedenkschrift für Werner Kohler, SIGC 48, Frankfurt/M. 1988, S. 191-210.
  6. Lange, Dietz: Erfahrung und die Glaubwürdigkeit des Glaubens, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 18, Tübingen 1984, S. 1.
  7. Engstler, Heribert/Menning, Sonja: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, erweiterte Neuauflage, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2003.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2008

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