Die Frage nach dem Stellenwert der religiösen Praxis im Religionsunterricht kennzeichnet gegenwärtig die religionspädagogische Grundsatzdiskussion. Zunehmend wird auch das Selbstverständnis evangelischer Schulen wieder stärker unter diesem Aspekt betrachtet: An bestimmten Ritualen im Ablauf von Schulwoche und Schuljahr scheinen evangelische Schulen kenntlich zu werden; aus der Kompensation schwindender religiöser Bildung in der primären Familiensozialisation beanspruchen sie einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Legitimation. Traditionen mit langer Entwicklungsgeschichte und neu gestaltete Formen haben gleichermaßen Anteil an dieser Aufwertung. Entsprechend der Pluriformität evangelischer Schulen sind die Ausprägungen dieser religiösen Praxis sehr unterschiedlich, ja vom Ansatz her manchmal gegensätzlich. Es erscheint deshalb wichtig, einigen Grundmustern der Begründung religiöser Praxis an evangelischen Schulen nachzugehen, sie auch in ihrer Tragfähigkeit kritisch zu befragen. Religiöse Praxis wird dabei als Teil des religiösen Bildungsauftrags verstanden, sie muss sich religionspädagogisch verantworten, auch an evangelischen Schulen.1
Exemplarisch soll dabei die Schulandacht als eine der allgemein verbreiteten und am längsten verankerten Formen religiöser Praxis an evangelischen Schulen als Ausgangspunkt in den Blick genommen werden.
Die Morgenandacht zwischen Freiwilligkeit und Pflicht
Ob der Besuch von Schulandachten freiwillig oder verpflichtend sein solle, wird als ein wesentliches strittiges Thema wahrgenommen. In der Zeitschrift klasse - die Evangelische Schule (Heft 1/2005) werden dazu zwei gegensätzliche Positionen einander gegenübergestellt. Nimmt man die Hervorhebungen der klasse-Redaktion als Maßstab, so stehen auf beiden Seiten jeweils unterschiedliche Begründungsansätze im Vordergrund: Die Position der Freiwilligkeit - vertreten von Anette Schneider-Vollmann vom Pestalozziseminar in Burgwedel - nimmt den christlichen Freiheitsbegriff für sich in Anspruch; auf der Gegenseite begründen Thomas Kirchberg und Dieter Toder vom Internatsgymnasium Gaienhofen die Position des verpflichtenden Andachtsbesuchs mit dem Ziel der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Schulgemeinde durch verbindliche Rituale.2
Beim genaueren Hinschauen zeigt sich, dass das Muster christliche Freiheit vs. Schulgemeinde natürlich so schematisch nicht auf beide Seiten zu verteilen ist. Auch für Schneider-Vollmann ist die Bildung einer christlichen Gemeinschaft durch gemeinsame Rituale ausdrückliches Ziel: "Freiwilligkeit ist für uns ein hoher christlicher Wert. Statt zu fordern, versuchen wir durch unser Handeln eine christliche Gemeinschaft zu fördern und deren Werte des Zusammenlebens vorzuleben. Konsequenterweise ist daher auch der Besuch der Andachten freiwillig."
Zum theologischen Freiheitsargument tritt das pädagogische Leitbild des Pestalozziseminars als evangelischer Fachschule: "Zur Personalkompetenz gehören insbesondere die Entwicklung durchdachter Wertvorstellungen und die selbstbestimmte Bindung an Werte. Diese kann nur freiwillig erfolgen."
Natürlich stellt sich hier die Frage, ob nicht die jeweiligen Schulformen evangelischer Schulen mit ihren spezifischen Zielen und Schülerzusammensetzungen sehr wesentlich für den Grad der Verbindlichkeit des Besuchs der Schulandachten sein können. An einer Internatsschule als sehr viel engerer Lebensgemeinschaft haben gemeinsame Rituale sicher eine größere Selbstverständlichkeit als an einer Fachschule für soziale und pädagogische Berufe mit Schülerinnen und Schülern höchst unterschiedlicher religiöser Vorprägung. Dies beantwortet aber nicht allein die aufgeworfenen Fragen nach dem allem pädagogischen Handeln an evangelischen Schulen zugrunde liegenden Freiheitsverständnis und Gemeinschaftsbegriff. Schließlich wird auch der Begriff des Rituals in diesem Horizont in seiner pädagogischen Tragfähigkeit zu bewerten sein.
Freiheit
Die Frage von Freiheit und Freiwilligkeit auf der Seite der Lernenden wird in der evangelischen Religionspädagogik, auch wenn es um die Prinzipien evangelischer Schulen geht, seit Langem grundsätzlich verhandelt. Ein Beispiel für die Verknüpfung theologischer und pädagogischer Argumente in dieser Frage gibt bereits Johann Hinrich Wichern:
"Das Christenleben ist und bleibt Sache der freiesten Aneignung, die persönlichste, eigenste Tat jedes Menschen, zu der es keinen Zwang, keinerlei äußere Nötigung gibt, geben kann, geben darf."3
Dem Verständnis des Evangeliums als Gabe, die die Freiheit vom religiösen Gesetz voraussetzt und die nur in Freiheit angenommen werden kann, entspricht ein pädagogisches Selbstverständnis, das "in jedem Kind dessen Persönlichkeit und Eigentümlichkeit" achtet und es demgemäß behandelt.4
Die Annahme des Evangeliums in Freiheit soll unterstützt werden durch die pädagogische Atmosphäre evangelischer Schulen. Sie soll den Geist des Glaubens absichtslos erfahrbar machen: z.B. in täglichen Andachten.5 Schon bei Wichern wird also das Problem von Freiheit und Verbindlichkeit zumindest theoretisch offen gehalten. Die Ablehnung jedes Zwangs zum Glauben und die Andacht als verbindliche Praxis widersprechen sich dabei jedoch nicht. Andacht wird vielmehr als offene Situation verstanden, als diakonisches Element und Ausdruck einer vertrauensvollen pädagogischen Atmosphäre, in der Wertvorstellungen plausibel vorgelebt werden. Emotionalität und Gemeinschaftserlebnis lassen die Andacht religionspädagogisch wirksamer erscheinen als die rationale dogmatische Unterweisung. Die Frage der möglichen Zwanghaftigkeit auch des Rituals wird dabei ausgeklammert.
In den Programmen heutiger evangelischer Schulen finden sich vielfach Aussagen, die das Prinzip der Freiheit des religiösen Subjekts prinzipiell betonen: Von Schülern und Lehrern wird erwartet, dass sie "grundsätzlich offen sind für den Umgang und die Auseinandersetzung mit der Bibel, für das Angebot von Gottesdienst, Andacht und gemeinsamem Gebet..., ohne dass dies nach Umfang und Form vorgeschrieben werden könnte."6
Nach dem Selbstverständnis des Gymnasium Andreanum Hildesheim muss eine Schülerin oder ein Schüler "...diese Schule ohne das Gefühl menschlichen Scheiterns durchlaufen können, wenn sie/er dem christlichen Glauben distanziert oder ablehnend gegenübersteht". Erwartet werden dagegen "Achtung vor christlichem Engagement ebenso wie Toleranz gegenüber anderen religiösen Überzeugungen".7
Mit diesem Selbstverständnis sind evangelische Schulen auf gleicher Linie mit einer dialogisch ausgerichteten Religionspädagogik, die sich im Gegenüber zum Konzept der Evangelischen Unterweisung von einer Degradierung der Schülerinnen und Schüler zu Objekten pädagogischen oder missionarischen Handelns abgrenzt.8 In dieser Unterrichtssituation sind Kontroversen möglich, ja sogar zwangsläufig. Die Distanzierung des Lernenden vom Lehrenden und vom Lerngegenstand muss möglich bleiben bei Aufrechterhaltung eines intersubjektiv überprüfbaren Dialogs, der die Thematisierung der emotionalen Ebene einschließt. Evangelische Schulen können sich dieser religionspädagogischen Grundhaltung nicht entziehen, die Ausweitung dieser Grundhaltung auf die Schule als Ganze muss ihre religiöse Praxis einbeziehen, sie kommt damit auch an einer Problematisierung des Begriffs der Schulgemeinde nicht mehr vorbei.
Schulgemeinde
Der Begriff der Schulgemeinde bezieht sich historisch zunächst auf die Schulträgerschaft: So ist in Luthers Entwurf einer Kirchenverfassung, der "Leisniger Ordnung", die genossenschaftlich verfasste Kirchengemeinde auch für das Schulwesen verantwortlich. Im 19. Jahrhundert propagierte Wilhelm Dörpfeld die Bindung der Schule an die Ortsgemeinde, aus deren Mitgliedern sich die lokale evangelische Schulgemeinde bildet. Dabei hegte Dörpfeld auch die Hoffnung auf eine besondere erzieherische Wirkung durch diese Rückbindung an die Eltern als bewusste Miterzieher.9 Als herausgehobener pädagogischer Ort wird die Schulgemeinde dann in der Reformpädagogik bei Luserke und Wyneken Modell staatsbürgerlicher Erziehung: Selbstverwaltung und Selbstverantwortung treten an die Stelle obrigkeitlicher Steuerung der konventionellen Schulen.10
Die Schule als eigenständige Gemeinde, nicht die enge Verbindung von Schule und Kirchengemeinde, prägt auch wesentlich die Verwendung des Begriffs im Rahmen der Programmatik evangelischer Schulen. Der Grad der vorausgesetzten Identifikation mit der Gemeinschaft wird dabei unterschiedlich definiert. Ein erhebliches Maß an Übereinstimmung wird z.B. an der Freien Evangelischen Schule Reutlingen gefordert, wenn von "freiwilliger Gesinnungseinigkeit" und "innerer Verbundenheit" als Voraussetzung der Schulgemeinde die Rede ist.11 Das Selbstverständnis des Gymnasium Andreanum Hildesheim dagegen hinterfragt radikal den Gemeinschaftsbegriff im Rahmen des diakonischen Auftrags der Schule: "Ein so verstandenes pädagogisches Handeln wird sich darüber hinaus in gleichen Maße gegen jedwede kollektive Vereinnahmung richten wie gegen soziale Verantwortungslosigkeit. (...) Dies schließt den Respekt vor einer reservierten Haltung gegenüber jeder Form schulischer Gemeinschaft nicht aus, sondern ein."12 Um nichts weniger muss sich eine evangelische Schule immer wieder ihrer "geistlichen Mitte" versichern. Anders als die Freie Schule Reutlingen geht dabei die Evangelische Schule Demmin mit der Distanz von Schule und missionierender Gemeinde um: Von "gemeinsamer Suche" ist die Rede statt "fertiger Vorstellungen". "Die Schulgemeinschaft soll als gemeinsamer Such- und Kommunikationsprozess nach einer ‚guten Gemeinschaft'...erlebt werden."13 "In der Schule wird nicht in einem drängenden, überwältigenden Sinn missioniert - alle Formen der Beschäftigung mit religiösen Fragen und Themen müssen den Schülerinnen und Schüler auch die Möglichkeit der Distanz einräumen." Das bezieht auch die religiöse Praxis ein:
"Liturgische Elemente in den Andachten ... sind so zu gestalten, dass auch Kinder ohne christliche Sozialisation daran teilnehmen können - wobei grundsätzlich gilt: Keiner muss beten."14
In anschaulicher Weise zeigt sich hier die notwendige Gratwanderung, die evangelische Schulen leisten müssen, wenn sie sich die Unterscheidung von Verkündigung und Unterricht, von missionierender Gemeinde und orientierender Schule verantwortlich zu Eigen machen. In dieser Spannung steht auch die Schulgemeinschaft, die als Schulgemeinde Vertrauen und Aufgehobensein verspricht und gerade deshalb die Möglichkeit zur Distanzierung bieten muss, ohne dass die Gemeinschaft zerbricht.
Ritual
In der Anfangs zitierten Kontroverse bezeichnen Kirchberg und Toder die Schulandacht als Beispiel für ein "sakrales Ritual", dessen "heilsame Kraft" die Schülerinnen und Schüler erfahren können sollen.15 Die spezielle religiöse Praxis einer evangelischen Schule wird so in allgemeiner religionswissenschaftlicher bzw. sozialanthropologischer Terminologie beschrieben und legitimiert. Einem offensichtlichen pädagogischen Mainstream folgend nimmt auch Hans Jürgen Fraas in der gleichen Zeitschrift den Ausgangspunkt seiner Argumentation bei einer allgemeinen pädagogischen Begründung der Notwendigkeit von Schulritualen und ihrer Funktionalität: Strukturierung des Alltags und biographischer Übergangssituationen, Kontinuitätsstiftung durch Tradition, kommunikative Gemeinschaftsstiftung, Entlastung durch ritualisierte Antworten auf kritische Situationen. Im Bereich religiöser Bildung sei Glaubensvermittlung nur in Verbindung mit Ritualen möglich: "Der Glaube braucht den Gestalt gebenden Ritus - der religiöse Ritus braucht die inhaltlich füllende Glaubenssymbolik".16
Was hier für evangelische Schulen gefordert wird, findet sich wieder in der allgemeinen religionspädagogischen Debatte, die die konkrete Erfahrung von Religion als Aufgabe des Religionsunterrichts stärker in den Mittelpunkt rückt:
"Religion soll ‚gezeigt' und - zumindest ‚probeweise' mit allen Sinnen erfasst und erlebt werden."17 Die gelebte Praxis wird dabei von der diskursiven "Schulreligion" (Christian Grethlein) scharf getrennt und ihr übergeordnet.18 Dagegen bestehen gewichtige Einwände: Eine Verständigung über Religion als "Tatbestand", über ihre Inhalte und Traditionen, muss ihrer Ausübung als "Tätigkeit" vorhergehen, soll nicht die religiöse Praxis ohne theologische Auseinandersetzung unverstanden bleiben. Gerade dieser Prozess selbsttätigen Theologisierens macht erst eine individuelle Aneignung der Praxis möglich.19 Skepsis regt sich auch bei Hanna Roose gegenüber einem Religionsunterricht als "Performance", der durch das "Nachspielen" religiöser Formen Möglichkeiten des Fremdverstehens eröffnen will: Beim unreflektierten "Ausprobieren" religiöser Handlungen besteht die Gefahr manipulativer Missionierung. Für religiöses Handeln wird hier ein gegebenes Einverständnis vorausgesetzt, das in der Unterrichtssituation nicht erwartet werden kann; es muss den Lernenden zumindest jederzeit möglich sein, aus der Rolle des durch sein Handeln Bekennenden auf die Rolle des "verständnisvollen Beobachters" auszuweichen. Andererseits besteht die Gefahr einer Profanierung des Rituals, das nicht mit der ihm zukommenden Ernsthaftigkeit vollzogen wird, eine Gefahr, die besonders beim Nachspielen der Rituale "fremder" religiöser Traditionen gegeben ist.20
Den Willen zur Ernsthaftigkeit im Vollzug ihrer Rituale wird man evangelischen Schulen kaum abstreiten; ob ein "gegebenes Einverständnis" bei jedem und zu jeder Zeit vorausgesetzt werden kann, wird man jedoch bezweifeln. Auch vor der Profanierung ist das Schulritual nicht geschützt, wenn eine Andacht oder ein Schulgottesdienst an den Schülerinnen und Schülern vorbeigehen, wenn Konzentration und innere Teilnahme nicht im erforderlichen Maß vorhanden sind. Auch hier ist es wesentlich, dass die Schülerinnen und Schüler als Subjekte ihrer religiösen Bildung ernst genommen werden, dass sie an der Gestaltung der Andachten und Gottesdienste maßgeblich beteiligt werden. Ein solcher Prozess wird manchmal zu mehr Ideen und Experimenten führen, die über einen kreativen Umgang mit vorgegebenen Elementen21 hinausführen; er wird sich aber auch in traditionellen Formen bewegen können.
Die notwendige Reflexion der religiösen Praxis in Annäherung und Distanzierung vollzieht sich im Prozess der Entwicklung eines eigenen Gestaltungskonzeptes für Andachten und Gottesdienste wohl am besten; bei der praktischen, verantwortlichen Durchführung durch Schülerinnen und Schüler muss das Prinzip der Freiwilligkeit zum Tragen kommen.
Religiöse Praxis als Aspekt religiöser Bildung an evangelischen Schulen
Bei ihrer Kritik des performativen Religionsunterrichts greift Hanna Roose auf Karl Ernst Nipkows Typologie der Formen des Einverständnisses zurück, um die dialogische Struktur religiöser Bildung auch im Hinblick auf die Thematisierung religiöser Praxis offen zu halten.22 Es ist davon auszugehen, dass die von Nipkow beschriebenen Formen (gegebenes Einverständnis im Glauben, zu suchendes Einverständnis im Glauben, nie vorhanden gewesenes Einverständnis, verloren gegangenes Einverständnis23) in unterschiedlicher Mischung ebenfalls bei Schülern und Eltern an evangelischen Schulen anzutreffen sind. Auch bei Kirchenmitgliedern unter den Eltern ist nicht in jeder Hinsicht gegebenes Einverständnis vorauszusetzen; heranwachsende Schülerinnen und Schüler verlieren nicht selten ihr ursprüngliches Einverständnis; bei Konfessionslosen und Angehörigen nichtchristlicher Religionen war ein Einverständnis vielleicht nie vorhanden. Der Typus des "zu suchenden Einverständnisses" wird am ehesten die verbindende Situation der Schulmitglieder darstellen. Suche setzt Freiheit voraus, pädagogische Distanz muss möglich sein, auch im Umgang mit religiöser Praxis an der Schule. Kirchliche Erwartungen und Ansprüche an evangelische Schulen müssen diese pädagogische Distanz aushalten können. Ein differenzierter Umgang mit den Begriffen Verkündigung und Mission ist hier gefordert. Religiöse Bildung entwickelt sich im Dialog, nicht in der Überwältigung durch Ritual und Gemeinschaft, es führt kein schneller Weg der Rechristianisierung und der Einbeziehung in traditionelle Kirchlichkeit über die evangelische Schule. Die Diskussion über Freiwilligkeit und Pflicht bei der Morgenandacht zeigt das Problem auf. Bei der Gratwanderung zwischen Freiheit und Verbindlichkeit sind beide Lösungen möglich. Entscheidend ist die Wahrung der Möglichkeit der reflexiven Distanz, die Wahrung der Anerkennung des Lernenden als Subjekt seines Lernprozesses. In der Praxis mag dies manchmal einfach die Chance zum freien Wort und Austausch nach Andacht oder Gottesdienst sein, in einer von Toleranz und Vertrauen geprägten Schulatmosphäre.
Neue evangelische Schulen in landeskirchlicher Trägerschaft müssen diese Spannung aushalten, sie dürfen nicht auf kurzfristige Missionserfolge und enge Gesinnungsgemeinschaften zielen. Die durchaus vorhandenen Erwartungen der Eltern an Angebote religiöser Praxis bedeuten nicht unbedingt ein vorausgesetztes Einverständnis, hier artikuliert sich auf Seiten der Eltern ein Bildungsbedürfnis, wobei die Ausgangsbasis höchst unterschiedlich sein kann. Je missionarischer die Situation einer evangelischen Schule von der Zusammensetzung ihrer Mitglieder ist, desto stärker wird sie Offenheit signalisieren müssen. Das Gymnasium Andreanum Hildesheim hat für sich versucht, einen Weg zwischen Freiheit und Verbindlichkeit zu finden: Mehr als staatliche Schulen will es "Freiräume für geistliches Leben" anbieten. Die Teilnahme an den wöchentlichen Morgenandachten ist freiwillig. Verbindlich ist die wechselnde Gestaltung durch jeweils eine bestimmte Lerngruppe. Intensive Vorarbeiten und Reflexionen - meist im Religionsunterricht - gehen der durchgeführten Andacht voraus. Niemand wird zum "Auftritt" gezwungen, aber sehr viele sind dazu bereit. Der Andachtsraum mit seinen etwa 100 Plätzen ist in der Regel gut gefüllt. Eine höhere Verbindlichkeit haben die Schulgottesdienste an markanten Punkten des Schul- oder Kirchenjahres. Hier sollte sich die Schulgemeinschaft, zumindest vertreten durch Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer, möglichst vollzählig versammeln. Überzeugen vom Sinn des Gottesdienstbesuches soll im Zweifelsfall den Vorrang haben vor Zwang und Kontrolle, das Recht zur Kritik an den Erfahrungen mit den einzelnen Gottesdiensten wird jedem eingeräumt. Natürlich ist dies nur ein möglicher Kompromiss unter den gegebenen Voraussetzungen einer bestimmten Schule mit einer weitgehend kirchengebundenen Schüler- und Elternschaft und einer vom christlichen Humanismus geprägten Tradition. Solche Wege auf dem Grat muss jede evangelische Schule finden, eingedenk dessen, dass ihre "geistliche Mitte" nicht pädagogisch verfügbar ist, dass sie vielmehr in einem beständigen Such- und Annäherungsprozess immer wieder sichtbar und wirksam werden kann.
Anmerkungen
- Vgl. Grethlein, Christian: Fachdidaktik Religion. Evangelischer Religionsunterricht in Studium und Praxis, Göttingen 2005, S. 271ff.
- Soll die Schulandacht freiwillig sein? Ist die Pflicht zum gemeinsamen Gebet überholt - oder wieder modern?, in: klasse - die Evangelische Schule, 01/05, S. 4f.
- Wichern, Johann Hinrich: Vortrag über die Ursachen der so vielfach erfolglosen Bemühungen in der heutigen Kindererziehung (1863), zitiert nach: Schreiner, Martin: Im Spielraum der Freiheit. Evangelische Schulen als Lernorte christlicher Weltverantwortung, Göttingen 1996, S. 168.
- Schreiner, Im Spielraum der Freiheit, S. 167.
- Ebd., S. 168f.
- Schulordnung des Trifels-Gymnasiums Annweiler, in: Schreiner, a.a.O., S. 286.
- Gymnasium Andreanum: Zum Selbstverständnis der Schule, Hildesheim 1993: III,1.
- Vgl. z.B. Nipkow, Karl Ernst: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 1990, S. 455 ff.
- Koerrenz, Ralf: Evangelische Schulgemeinde, in: Scheilke, Christoph Th./Schreiner, Martin (Hg.): Handbuch Evangelische Schulen, Gütersloh 1999, S. 216.
- Ebd., S. 217f.
- Schreiner, Martin: Evangelische Schulgemeinschaft als "Schulgemeinde"?, in: Bohne, Jürgen/Stoltenberg, Annegrethe (Hg.): Zukunft gewinnen. Evangelische Schulgründungen in den neuen Bundesländern, S. 124.
- Gymnasium Andreanum Hildesheim, III,1.
- Schreiner, Evangelische Schulgemeinschaft, S. 130.
- Ebd.
- S. Anm. 1.
- Fraas, Hans-Jürgen: Wie Überzeugungen Gestalt annehmen, in: klasse - die Evangelische Schule 04/05, S. 14.
- Kraft, Friedhelm: Quo vadis Religionspädagogik. Eine Standortbestimmung aus Sicht der Kindertheologie, in: Loccumer Pelikan 4/05, S. 153.
- Grethlein, Fachdidaktik Religion, S.81.
- Kraft, Quo vadis Religionspädagogik, S. 156.
- Roose, Hanna: Performativer Religionsunterricht zwischen Performance und Performativität, in: Loccumer Pelikan 3/06, S. 110ff.
- Vgl. Fraas, a.a.O., S. 15.
- Roose, Performativer Religionsunterricht, S. 111.
- Nipkow, Karl Ernst: Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2, Gütersloh 1998, S. 223ff.