‚Herr, mache du mich zum Werkzeug deines Friedens‘ – Kirchen als Orte des Gedenkens und der Versöhnung

von Christiane Kürschner

 

Kirchen widersprechen dem Trend

Kirchen als Räume für Gott überdauern die Zeiten. Menschen denken, planen und bauen sie für die Ewigkeit. Häufig sind Kirchen heute die ältesten Gebäude einer Siedlung. Als steinerne Zeugen repräsentieren sie das religiöse Leben ihrer Zeit über Jahrhunderte hin. Bauliche und gestalterische Veränderungen erinnern gegenwärtige Nutzer an gesellschaftliche Wandlungsprozesse vergangener Epochen. Hartmut Rupp schreibt in seinem neuen Handbuch Kirchenpädagogik: "Nach Jan Assmann braucht eine Gesellschaft geschichtliche Erinnerung, um Gegenwart verstehen, Identität ausbilden, Zusammengehörigkeit entwickeln und Zukunft gestalten zu können. Kirchengebäude sind in dieser Perspektive öffentliche symbolische Darstellungen von Inhalten christlichen Glaubens. Sie sind Stein gewordener Glaube... Grabplatten und Totentanzdarstellungen erinnern an einen bewussten Umgang mit Sterben und Tod. Kanzeln erinnern an die unvertretbare Verantwortung des Einzelnen vor Gott und damit an die theologische Begründung neuzeitlicher Subjektivität. Kirchenbänke erinnern daran, dass jeder ein König und jede eine Königin ist und dass alle das Recht haben, erhaben zu sitzen. Roland Degen macht darauf aufmerksam, dass Kirchenräume in der Regel auch eine "protestantische", und er meint damit eine ‚provozierende', gesellschaftskritische Seite haben. Barockkirchen bildeten mit ihrer üppigen Architektur und Ausschmückung immer auch einen Widerspruch zu den zerstörten Landschaften und Biographien des Dreißigjährigen Krieges. Glockenschläge widersprechen dem hektischen Umgang mit der Zeit. Kirchtürme weisen wie ein erhobener Zeigefinger nach oben und widersprechen dem Verlust der Transzendenz. Das Kreuz widerspricht einem Glauben, wonach das Leben nur bei Siegen und Erfolgen gelingt. Das Nebeneinander von Kirchtürmen und Banktürmen lässt fragen, wer und was die Welt regiert. - ‚Woran dein Herze hängt, das ist dein Gott', sagt Luther."1

In Kirchenräumen und auf den dazu gehörigen Friedhöfen hinterlassen Menschen der Nachwelt Zeugnisse ihres christlichen Glaubens. So erinnern Inschriften auf Türen, Fenstern, Abendmahlsgeräten, Taufbecken und anderen sakralen Gegenständen an die Glaubenskraft ihrer Erbauer und Stifter.

Die Gedanken auf den Grabmälern und Gedenksteinen jener Vorfahren laden uns bis heute ein zur Anteilnahme an ihrer dankbaren Freude und ihrem unsäglichen Leid.

Unter diesem Gesichtspunkt regt jeder Kirchraum zur aktiven Auseinandersetzung mit dem an, was für Christinnen und Christen zu unterschiedlichen Zeiten einmal von Bedeutung war. Beim Suchen nach Besonderheiten kommt nach Jahrhunderten auch manch Unerklärliches zu Tage, z. B. Brillen und kleine Utensilien von Nonnen in den Fußbodenritzen des Frauenklosters Wienhausen.2

 

Umbruch und Aufbruch

Wir leben in einer Umbruchzeit, weltweit, in unserem Land, in unserer Kirche, in unseren Familien und Freundeskreisen. Alles scheint offen und in Bewegung geraten zu sein. Die sich vollziehende Neuordnung macht Angst, wirft Schatten und zwingt zum Auseinandersetzen. Von Stagnation in den Gemeinden ist die Rede, hier und da blockiert Verlustangst den Dialog, gleichzeitig präsentieren sich evangelische Gemeinden deutlich mit neuen Akzenten. Einladend gestaltete Kirchenräume werden zu "Schaufenstern" kirchlichen Lebens und stehen Einzelbesuchern und wachsenden Besucherströmen offen. Schon vor längerer Zeit begannen Kirchenpädagoginnen Programme für die Erschließung von Kirchengebäuden zu entwickeln - mit Kopf, Herz und Hand nach reformpädagogischem Vorbild. Der Anspruch der Kirchenpädagogik in den 90er Jahren, auf das steigende Interesse der Gesellschaft an Kirchenräumen aufmerksam zu machen und als Zukunftschance der Kirche zu begreifen, wurde in der hannoverschen Landeskirche nahezu flächendeckend eingelöst. Überwiegend ehrenamtliche Gemeindeglieder vermitteln, sporadisch oder kontinuierlich, bei kirchenpädagogischen Angeboten die christliche Aussage des gebauten Raumes, des sakralen Gegenstands oder Kunstwerks. In einer "Nacht der Kirchen" wird ein Gotteshaus einladend zur Theater-Kirche, zur Taizé-Kirche, auch einmal zur Genuss-Kirche.3 Diese neuartigen Höhepunkte im Gemeindeleben, bei denen Gottes Haus für zwanglose Begegnungen zwischen Christinnen, Christen und Menschen anderer Religionen im Mittelpunkt steht, entsprechen einer christlichen Lebenskunst, die Peter Bubmann wie folgt definiert: "Christliche Lebenskunst ist symbolisch-spielerische Erschließung des Heiligen und weisheitlicher Lebensstil der Liebe im Alltag."4 Klaus Raschzock fährt fort: "Christliche Lebenskunst vollzieht sich an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und kirchlichem Bereich. Ihre fließenden Übergänge erweisen sich als Chance. Wird die Kirchenpädagogik in eine christliche Lebenskunstdidaktik eingezeichnet, so lässt sich auf diesem Weg die Anbindung der Kirchenpädagogik an den Gottesdienst vollziehen und wird umgekehrt die Kirchenpädagogik als genuine Aufgabe christlicher Lebenskunst zurückgewonnen."5 Grenzüberschreitende Höhepunkte wie einst Projekttage für Schulklassen und heute lange Nächte der Kirchen stellen innerkirchlich Traditionen in Frage, ziehen jedoch viele Fremde an. Und das aus gutem Grund. Ein Teil der Menschen in unserem Land spürt, dass ihnen das Bewusstsein für ihre christlichen Wurzeln im persönlichen Leben abhanden gekommen ist. So machen sie sich wiederholt oder erstmalig auf die Suche nach traditionellen Orten und Gemeinschaften, bei denen sie sich verlorener Werte, Riten und Feste erinnern oder gar neu vergewissern können. Das bezeugt auch der stetig zunehmende touristische Besucherstrom in Kirchen und das wachsende Interesse von Fremdenverkehrsvereinen an Gotteshäusern. Global gesehen gibt es ebenfalls Anzeichen für diesen Trend. In vielen Auslandsgemeinden der EKD wächst die Zahl der Gottesdienstbesucher, in Amsterdam z.B. bilden junge Eltern mit ihren Kleinkindern eine neue Krabbel-Gemeindegruppe. Die Sonntagsgottesdienste im ZDF werden inzwischen von etwa ebenso vielen Menschen, ca. einer Million, zu Hause am Bildschirm verfolgt, wie gleichzeitig landesweit am Sonntag in den Kirchen. Auf die Übertragung des Gedenkgottesdienstes für die Opfer von Tschernobyl aus der St. Johannis-Kirche im Ostseebad Rerik mit Kindern und Jugendlichen aus Weißrussland kamen im Mai des Jahres mehr als 1.500 Zuschauerreaktionen.

 

Räume für Gott - Häuser Gottes für die Menschen

Menschen erleben Kirchenräume als Räume der Begegnung. Ob und wie Besucherinnen und Besucher dem Heiligen in "heiligen Räumen" begegnen, ist das Geheimnis jedes Einzelnen. Im Handbuch der Kirchenpädagogik schreibt Hartmut Rupp: "Kirchenräume sollen heilig genannt werden, weil sie Menschen für die Begegnung mit Gott mit präsentativen Symbolen präparieren und die Erfahrung mit dem Heiligen symbolisieren."6 Gottesbegegnungen allgemein entziehen sich unserer Machbarkeit, aber wir können uns vorbereiten auf solch ein unverfügbares Ereignis. Wie wir unsere Häuser Gottes gestalten, hat auch einen Einfluss auf unser eigenes spirituelles Leben, abgesehen von der Wirkkraft einer einladend gestalteten Kirche nach außen. Philipp Newell fordert: "An unseren heiligen Stätten soll mit Leidenschaft ein neuer Sinn für Raum und Stille entstehen, aber in der Sorge darum lasst uns erkennen, dass es im Kern um die Stille in uns selbst und in allem Leben geht: Sie gilt es wiederzuentdecken. Welches sind die Tempel, welches die Orte in unserem Leben und in unserer Welt, die ausgeräumt werden müssten, entrümpelt von allem, was unserer Achtsamkeit von Gottes Gegenwart entgegensteht oder sie hemmt? Was das Sichtbare angeht, sprechen unsere Kirchen, wenn sie voll gestopft sind, von einem Mangel an Raum und Stille....Was wir brauchen: die Wiederherstellung von Einfachheit und einer aufgeräumten Aufmerksamkeit. Man denke an die Art, wie mit Nestbauinstinkt das Zimmer für die Ankunft eines neugeborenen Kindes vorbereitet wird! Gereinigt, frisch gestrichen und entrümpelt, ist es ein Symbol des Wartens und des Willkommens."7

 

Aufgeräumte Aufmerksamkeit für Kinder

Seit dem Frühjahr 1988 gibt es kirchenpädagogische Projekte für Schulklassen in der Marktkirche Hannover. Originale mittelalterliche Backsteine mit Tierspuren darauf fanden zu Beginn ihren Platz in einem Karton, ebenso Farbgläser, Pinsel und Arbeitsbögen für Schülerinnen, Schüler und begleitende Erwachsene. Noch ungewohnt waren die täglich mehrstündigen Besuche von Schulklassen für Pfarramt-Mitarbeitende. Hin und wieder störten wissbegierige Kinder lang eingespielte Arbeitsabläufe in Gottes Haus. Über die Jahre hin entschieden Kirchenälteste zu Gunsten des neuen religionspädagogischen Arbeitsgebietes, das inzwischen Kirchenpädagogik hieß. Heute gibt es unter der Marktkirche ähnlich wie in Museen eine vorbildliche Werkstatt für die schöpferische Arbeit bei kirchenpädagogischen Projekten. Regelmäßig kommen auch die jüngsten Sprösslinge des gemeindeeigenen Kindergartens zum Entdecken, Feiern und Stillsein in "ihre Kirche", und seit zwei Jahren ist noch ein neuer Kinderchor in diesen alten Mauern zu Hause. In anderen Kirchen gibt es Tische für Kinder mit Darstellungen, auf denen Kinder im Mittelpunkt stehen, z. B. in Hann. Münden.

 

Im Sinne der Nachfolge Jesu

Kirchenräume sind aus sich selbst heraus Orte des Erinnerns und Gedenkens. Sie erinnern Christen an das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu und setzen von daher eindeutige Maßstäbe. Ein Grund für jene "vollgestopften Kirchenräume" ist häufig die Verliebtheit ihrer Verwalter in die fernere Geschichte, ihr Interesse für jene Ereignisse und Gegenstände, die historisch sehr wertvoll sind, die aber eher musealen Charakter haben und die gegenwärtige Generation nicht unmittelbar berühren. Ein komplizierter Entscheidungsprozess gehört dazu, wenn Kirchenälteste und andere Sachverständige unter christlich-ethischen und ästhetischen Gesichtspunkten über eine notwendige Veränderung im Kirchenraum nachdenken. Für Neues muss man sich bewusst von Altem trennen, sorgfältig abwägen und Gewohntes aussortieren. Christliche Vorbilder zu erkennen und ihnen einen angemessenen Platz im Raum einzuräumen, gehört auch zu den Aufgaben einer verantwortlichen Kirchenraumgestaltung. Ein Grundkriterium bei der Auswahl von Personen, denen ein Ehrenplatz im Kirchenraum z. B. durch eine Gedenktafel oder ihre sichtbare Stiftung zugestanden werden könnte, wäre ein Lebenswandel im Sinne der Nachfolge Jesu. Ein Blick auf die Vergangenheit aus der Sicht der Opfer taucht die Geschichte eines Raumes und ihrer Menschen in ein neues Licht.

 

Werkstätten des Friedens

In Kirchenräumen begegnen Besucherinnen und Besucher immer noch unkommentierten Gedenktafeln zur Erinnerung an Väter, Söhne und Ehemänner, die im ersten und zweiten Weltkrieg auf den Kriegsschauplätzen eines Eroberungskrieges ihr Leben verloren. Das missbräuchlich benutzte Zitat aus der Offenbarung des Johannes 2,10 "Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" wurde in der Marktkirche Hannover schon vor mehr als 20 Jahren kommentiert durch die auf grünem Marmor eingemeißelte Bitte: "HERR MACHE DU MICH ZUM WERKZEUG DEINES FRIEDENS 1985" Diese Ergänzung rückt das sinnlose Sterben der namentlich aufgeführten Gemeindeglieder in ein barmherziges Licht und regt aufmerksame Betrachter an zum Nachdenken über das von Menschen mutwillig verschuldete millionenfache Sterben und das traurige Schweigen eines Großteils der Christinnen und Christen dazu.

Heute sollte es gelingen, als realistische Antwort auf die bedrohlichen, gewaltsamen Herausforderungen der Gegenwart friedliche Konfliktlösungsmodelle weiter zu verbreiten und in Anwendung zu bringen. Vielleicht hat eine Kirche als "intermediäre Institution" (Bischof Huber) dazu die Kraft.

Diesem Selbstverständnis von kirchlichem Handeln und gesellschaftlichem Anspruch entspricht das Gestalten von Orten des Gedenkens auch in Kirchenräumen. Aktuelle Ereignisse zeigen: Besucherinnen und Besucher, auch ohne Christen oder gar Kirchenmitglieder zu sein, legen ungefragt in Kirchen Kerzen und Blumen nieder, um spontan und zeichenhaft ihr Mitgefühl mit Verfolgten auszudrücken. Der Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in unserer Welt braucht Orte - Kirchenräume an sich sind diesem Anliegen angemessen. Die ausgewiesenen Orte des Erinnerns und Gedenkens können zu Orten der Versöhnung werden. So kommen heute beispielsweise Menschen in die neue Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße in Berlin. Der kleine ovale Lehmbau wurde am 9. November 2000 eingeweiht, erinnernd errichtet auf dem Fundament der 1894 gebauten Versöhnungskirche, die DDR-Grenztruppen 1985 wegen ihrer Grenznähe sprengten. Der moderne Kirchbau, bescheiden und zukunftsorientiert in der Gestaltung, bildet gemeinsam mit der Gedenkstätte Berliner Mauer und dem Dokumentationszentrum zur Mauergeschichte ein eindrückliches Gedenkstättenensemble.

 

Anmerkungen

  1. Rupp, Hartmut: Handbuch der Kirchenpädagogik. Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, Stuttgart 2006, S. 14.
  2. Kloster Wienhausen, Celle bei Hannover, in: www.ca1310.de/persaust/brille.htm-14k.
  3. EKD: Ideen für eine Nacht der Kirchen, Hannover 2005, S. 5.
  4. Zit. n. Raschzock, Klaus: Ein zukunftsoffener Raum (Wilhelm Löhe). Zur Leistung des Kirchengebäudes für die christliche Lebenskunst, in: Ludwig, Matthias (Hg.): Kunstraumkirche, Lautertal 2005, S. 73.
  5. Ebd.
  6. Rupp, Hartmut: Handbuch der Kirchenpädagogik, S. 29.
  7. Newell, Philip: Mit einem Fuß im Paradies. Die Stufen des Lebens im keltischen Christentum, Freiburg im Breisgau 2003, S. 65.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2006

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