"Die Liebe zu Gott" - Erich Fromm im Religionsunterricht der Kursstufe

von Peter Elster

 

Die Gottesfrage in der Kursstufe

Sowohl die derzeit gültigen Rahmenrichtlinien für den Religionsunterricht in der Kursstufe als auch die gängigen Unterrichtswerke entwerfen ein sehr weites Spektrum unterschiedlicher Aspekte des Sachthemas. Die Vielfalt der Perspektiven bietet einen Raum für eine tastende Annäherung an den persönlichen Umgang mit der Gottesfrage. Zugleich geht es darum, religiöses bzw. theologisch-philosophisches Wissen als kulturgeschichtliches Kontinuum aufzuzeigen, innerhalb dessen Schülerrinnen und Schüler eine sinnvolle Standortbestimmung vornehmen können.

Dass eine solche didaktische Maßgabe ihr Ziel erreicht, kann nicht ausgeschlossen werden, doch liegen die Probleme auf der Hand: Die Pluralität der Ansätze schafft nicht nur Weite, sondern auch Irritation. Die starke Betonung des Kognitiven gerade in der Kursstufe – vor allem mit Blick auf das Zentralabitur – drängt die persönliche Bezugnahme eher zurück, so dass sich möglicherweise viele Antworten auf (noch) nicht gestellte Fragen anhäufen.

Im Folgenden wird ein Kurs-Entwurf vorgelegt, der im Wesentlichen von einem Text ausgeht, nämlich der "Kunst des Liebens" (Ausschnitte) von Erich Fromm. Die Vorteile der Konzentration liegen auf der Hand, die Nachteile wären die des theologischen "Seiteneinstiegs", wenn dies ein Nachteil ist.

 

Erich Fromm – ein "unzünftiger" Theologe?

Unter den theologisch relevanten Nicht-Theologen nimmt Erich Fromm einen bedeutsamen Platz ein. Mit seinen Gedanken zu Religion und humanistischer Ethik ist er auch in den neueren Unterrichtswerken regelmäßig vertreten. Eine durchgehende geistige Verwandtschaft mit Paul Tillich ist dabei nicht zu übersehen. Religion als Figur des Humanismus ist die Schnittmenge, die den theologischen Philosophen Paul Tillich und den im Kern religiös motivierten Psychologen und Sozialphilosophen Erich Fromm verbindet.

In einer besonderen Weise verdeutlicht Erich Fromm die Chance des Unzünftigen. Gerade die Theologie gerät oft genug in die Gefahr, sich in ihrer eigenen Theoriewelt zu verlieren. Der nichttheologischen Fachwelt, so auch Schülerinnen und Schülern, ist oftmals der Zugang verwehrt, da der Horizont der hergebrachten theologisch-religiösen Gedankenwelt vom modernen Menschen nicht mehr geteilt wird. Der institutionell und denkerisch ungebundene Erich Fromm vermag den Stellenwert des Religiösen neu anzusprechen, so dass auch nicht-traditionell geprägte Schülerinnen und Schüler der Oberstufe mitzugehen bereit sind.

Der Grundzug der Rationalität, die Nähe zu den Humanwissenschaften und die sprachliche Transparenz, die den Gedanken Erich Fromms eigen sind, kommen Schülerinnen und Schülern entgegen, die weithin Vorstellungen eines positivistischen Optimismus vertreten (wobei sie dessen Defizite durchaus spüren). Sowohl die Einbeziehung des affektiv-emotionalen Bereichs als auch der durchgehende Rückbezug auf Elemente der biblisch-abendländischen Überlieferung geben dem gelegentlich etwas kühl-rationalen Stil Farbe und erschließen Zugänge auf noch nicht ausgetretenen Pfaden.

Die Affinität zum Religiösen bei Erich Fromm hat biografischen Grund. Er entstammt dem orthodox-traditionellen Judentum (geb. 1900 in Frankfurt/M.) und betont in einer biographischen Rückschau den harmonischen Charakter der geistig-geistlichen Umwelt seiner Kindheit, die Beheimatung in einer gleichsam mittelalterlichen Atmosphäre1, eine vormoderne Welt, in der – bei aller Notwendigkeit, Geld zu verdienen – spirituelle Werte im Vordergrund standen. Jüdische Traditionen, dazu das Talmud-Studium prägten den jungen Erich Fromm, ebenso allerdings die Erfahrung privater und politischer Katastrophen (Erster Weltkrieg). Die Friedensvision der Propheten im Ohr, die destruktive Realität vor Augen öffnete er sich zum einen der humanistisch-aufklärerischen Interpretation des Judentums (H. Cohen, S. B. Rabinkow), zum anderen den Humanwissenschaften, die sich mit Verständnis der psychischen und gesellschaftlichen Antriebe des Menschen befassten (S. Freud, A. Weber). Auch wenn sich der bis dahin traditionstreue Erich Fromm 1926 entschlossen von jüdischer Lebensweise abwandte, so blieben die Spuren seiner Herkunft immer wahrnehmbar. Man darf annehmen, dass diese Ablösung ein sehr schmerzhafter Prozess war, aber er war ebenso produktiv. Erich Fromm musste die Religion nicht exorzieren, er konnte ihre humanistischen Traditionen in seine Gedanken und Haltungen integrieren. Damit geriet Erich Fromm zwar zwischen die Theorie-Fronten seiner Epoche, doch ist denkbar, dass das religiöse Element in seiner Idee von der sich humanisierenden Gesellschaft zu neuer Bedeutung gelangt, nachdem die Ideologie der marxistischen Epigonen mit ihrem dogmatischen Atheismus von der Geschichte überholt wurde.

Im Folgenden soll die bekannte Monografie "Die Kunst des Liebens"2 für den Unterricht der Kurstufe didaktisch entfaltet und unter Heranziehung sinnvoller Auszüge ein Kursverlauf konzipiert werden.

 

Warum die "Kunst des Liebens"?

Der Titel lässt erwarten, dass die Inhalte des Buches vorrangig in die Fachgebiete Ethik oder Anthropologie, jedenfalls nicht unbedingt in den Bereich der Theologie gehören. Die Maßgabe der Ethik jedoch bezieht Erich Fromm von Meister Eckhart: "Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken, was sie tun sollen; sie sollen vielmehr bedenken, was sie sind." (Motto zu "Haben oder Sein"3).

Entsprechend geht es in der "Kunst des Liebens" auch kaum um konkrete Handlungsanweisungen, als vielmehr um die Erarbeitung von Identität und Authentizität, um Reifung und die Überwindung von Strukturen der Entfremdung. Bei diesen Impulsen zur Entwicklung der Persönlichkeit spielen religiöse Elemente eine zentrale Rolle: etwa die Begrenztheit des Menschen in der Begegnung mit dem Göttlichen oder der Glaube als Wirkkraft der Produktivität dieser Begrenztheit. Kritiker erwähnen gern, die Leserschaft, soweit sie religiös orientiert sei, achte mit Vorliebe auf das religiöse Vokabular, missverstehe Erich Fromm als Theologen, indem sie dessen Selbsterklärung als "nichttheistisch" übersehe. Es darf vermutet werden, dass diese Kritiker selbst mit dem religiösen Vokabular ihre Mühe haben und die religionskritischen Passagen so wahrnehmen, als werde darin die Religion destruiert – im Missverstehen Erich Fromms, der hier seine Wurzeln anerkennt, seine persönlichen wie auch die der jüdisch-christlichen Überlieferung insgesamt.

Mag sein, dass Erich Fromm in wissenschaftlicher Hinsicht defizitäre, essayhafte Ausführungen vorlegt, wie gelegentlich kritisiert wurde; einem Kurs der 12. oder 13. Jahrgangsstufe gereicht gerade diese Mischung von Inhalt, Stil und Anspruch zum Vorteil.

 

Didaktische Überlegungen

Es ist das vorrangige Ziel dieser thematischen Einheit, die religiöse Frage im Übergang zwischen Jugendalter und Postadoleszenz in den Bereich der Sinnstiftung und reiferen Lebensgestaltung zu rücken. Die Gottesfrage stellt sich daher wieder neu. Die Chance, das Thema aus einer gefühlten "anachronistischen Ecke" herauszuholen und es womöglich sogar zu einem Paradigma für Emanzipation und Autonomie mit menschlichem Maß zu entwickeln, ist zu nutzen. Die Einheit soll einen Beitrag zur Überwindung der allgemeinen religiösen Sprachlosigkeit leisten und Zugänge zu Sprachformen eröffnen, in denen Mythos und Logos keine Gegensätze bilden, sondern als komplementäre Sprachmuster gedacht werden.

Hier deutet sich eine Falle an, in die wohl die meisten Schülerinnen und Schüler der Oberstufe geraten sind: Sie haben die übliche religiöse "Karriere" (Taufe, Konfirmation) durchlaufen und sind somit von einer rudimentären religiösen Prägung bestimmt. Die Konfirmation wirkt weithin als ein bedeutsamer Einschnitt: Die Verknüpfung von Religion und Verbindlichkeit, von Überlieferung und Sinn stiftendem Lebenshintergrund löst sich, Kirche und individuelle Religion treten auseinander.

Mit Erich Fromm ist zu entdecken, dass menschliche Beziehungen und auch ein religiös motiviertes, humanistisches Selbstverständnis sich nicht erschöpfen im liberalen Laisser-faire, sondern unter der Maßgabe des Liebesgebotes gestaltet werden wollen. Es geht um die Wahrnehmung von Haltungen aus einer zentralen religiös-ethischen Motivation heraus, die in gewissen Grenzen einer objektivierenden Betrachtung durchaus zugänglich sind.

Natürlich kann Unterricht nicht in direkter Weise auf die Handlungsmotivation von jungen Menschen einwirken. Der Religionsunterricht übt wohl den Umgang mit Theorie-Ausschnitten ein, das Glaubens- und auch Bildungsgeschehen selbst bleibt jedoch unverfügbar, ereignet sich "nebenher"4. Viele junge Erwachsene haben erst wenig Erfahrung mit der Erkenntnisarbeit im Bereich von Religion und angrenzenden Wissensgebieten. Im öffentlichen Diskurs gelten religiöse Inhalte als heikel oder intim; das Gespräch läuft leicht auf Verlegenheiten hinaus, aus denen man sich mit dem schnellen Hinweis auf die subjektive Beliebigkeit religiöser Vorstellungen zu retten hofft. Es ist daher ein Ziel des hier entworfenen Kurses, zunächst die religiöse Sprachfähigkeit und das religiös motivierte Denken als natürliche Option des Menschen bewusst zu machen. Das bedeutet methodisch die schwerpunktmäßige Betonung von Sprech-, Denk- und Textarbeit. Darüber hinaus sollen Zugänge gesucht werden, die Schülerinnen und Schülern Gelegenheit bieten zur Vertiefung und zur Anbahnung von (Selbst-) Erkenntnis. Ich-Stärkung und Ermutigung zum Selbst-Sein als Voraussetzung für die Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen erscheinen als Leitideen am Horizont.

Dem Kurs wird die Anschaffung von "Die Kunst des Liebens" empfohlen, da der Text über längere Passagen als Ganzschrift gelesen wird (preisgünstige Taschenbuchausgabe).

 

Zur Praxis des Unterrichts: "Die Kunst des Liebens" als Ganzschrift

Überwindung der "Kränkung des menschlichen Selbstbewusstseins"

Carl Friedrich von Weizsäcker fordert in seinen "Notizen zum Gespräch über Physik und Religion" von Christen die Erarbeitung des "modernen Bewusstseins". Sie müssten herausfinden aus der apologetischen Ecke, in die sie durch die "Kränkungen des menschlichen Selbstbewusstseins" (Freud) durch Kopernikus, Darwin und Freud immer mehr gedrängt worden seien (M1).

 

M 1

Carl Friedrich von Weizsäcker:
Notizen zum Gespräch über Physik und Religion

Die durchschnittliche Haltung heutiger Physiker zur Religion scheint mir agnostisch, aber offen zu sein. Meinem Eindruck nach sind bewusst antireligiöse Überzeugungen bei Physikern seltener als bei Biologen und viel seltener als bei Soziologen. Dies mag daran liegen, dass die Zeit des Streits mit der Kirche bei der Physik historisch schon am weitesten zurückliegt. Es fragt sich, was diese geschichtliche Abfolge bedeuten mag.

Freud spricht … von den drei Kränkungen des menschlichen Selbstbewusstseins durch Kopernikus, Darwin und die Psychoanalyse. Wir hatten zu lernen, dass unser Ort in der Welt nicht deren Mitte ist, dass die anderen Geschöpfe unsere Brüder sind, und dass das "Ich nicht Herr im Hause" ist. Die dritte Kränkung ist die tiefste: … Die ernüchternde Selbsterkenntnis durch die Wissenschaft rückt immer näher auf den Personkern des Menschen vor.

Dass diese fortschreitende Ernüchterung einen fortschreitenden Konflikt mit der Religion bedeute, muss man aber nur dann folgern, wenn man in der Religion von vornherein einen Repräsentanten der Selbstherrlichkeit des menschlichen Ichs sieht. Man könnte umgekehrt in der Ernüchterung über das Ich eine Annäherung an der Kern religiöser Erfahrung sehen. Sollte Religion uns nicht demütig machen? Aber die wissenschaftliche Ernüchterung ist bisher inhaltlich nicht religiös, und das Ich findet die Kompensation der Kränkung darin, sich selbst als Träger der Erkenntnis zu fühlen.

Die Physik hat aber einen doppelt positiven Zugang, zum mindesten zur religiösen Frage. Der eine Zugang mag an Gestalten wie Kepler verdeutlicht werden. In den mathematischen Gesetzen der Natur enthüllt sich eine ungeahnte Herrlichkeit. Kepler interpretierte diese vielen Physikern gemeinsame Erfahrung in christlichem Platonismus. Die Welt ist nach Gottes Schöpfungsgedanken, d. h. in mathematischer Harmonie, gebaut. Der Mensch, nach Gottes Bilde geschaffen, vermag diese Gedanken nachzudenken. Naturwissenschaft ist Gottesdienst.

Den anderen Zugang hat die Physik des ersten Drittels unseres Jahrhunderts eröffnet. Das Weltbild der klassischen Physik war objektivistisch, deterministisch; das Bewusstsein stand außerhalb der so beschriebenen Natur. Die Quantentheorie ist nur interpretierbar, wenn man die Bezogenheit der objektivierenden Naturbeschreibung auf den Beobachter explizit berücksichtigt. So wurde die primitive Ontologie der klassischen Naturwissenschaft erschüttert. Philosophische Fragen wurden eröffnet, die noch nicht beantwortet sind.

Die Beendigung des Streits zwischen Physik und Kirche … scheint mir nicht das Wichtigste der heutigen Situation. Naturwissenschaftler und Christen können einander einen wichtigeren Dienst tun, wenn sie einander kritische Fragen stellen.

Christen müssen die Naturwissenschaftler fragen, ob das, was sie der Welt antun, nicht vielleicht objektiv verbrecherisch ist. … Fragen, nicht anklagen. Nur die Selbstanklage eröffnet die Quellen der Gnade; gegen eine fremde Anklage kann und darf man sich verteidigen. Objektiv, nicht subjektiv verbrecherisch; die erlösende Erfahrung der Sünde beginnt, wo wir uns mit unserem Handeln identifizieren lernen, obwohl die subjektive Intention nicht böse war. Eine durch diese Erfahrung hindurchgegangene Wissenschaft könnte zu sich selbst finden; eine gegen diese Erfahrung abgeschirmte Wissenschaft wird objektiv böse.

Naturwissenschaftler müssen die Christen fragen, ob sie das moderne Bewusstsein vollzogen haben. In der protestantischen Theologie der letzten zwanzig Jahre (Erstveröffentlichung 1977) ist sehr viel von diesem Vollzug nachgeholt worden. Hier wurde zum Teil das moderne Bewusstsein zu simpel als Wahrheit akzeptiert. Aber als Abbau einer unhaltbaren (und durch Angst bedingten) kirchlichen Selbstbehauptung war der Vorgang notwendig. Vielleicht gilt für die notwendige Erfahrung der Kirche mutatis mutandis dasselbe wie für die notwendige Erfahrung der Wissenschaft. Es ist keine Schande und keine Gefährdung, zuzugeben, dass die gedanklichen Probleme zwischen religiöser Wahrheit und modernem Bewusstsein ungelöst sind.

(aus: von Weizsäcker, Carl Friedrich: Der Garten des Menschlichen, Frankfurt/M. 1983, S. 328f.)

 

Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz5

In diesem Abschnitt aus der "Theorie der Liebe" wird erneut die Analogie von Evolution – der Mensch löst sich aus dem ursprünglichen Einssein mit der Natur – und Mythos (Gen 2f.) herangezogen. Der Mensch nimmt sich als abgetrenntes, bisweilen isoliertes und – als Folge – in Angst und Schuld verstricktes Wesen wahr. Er entwickelt Strategien, diese Gefangenschaft zu überwinden; sie sind vielfach ungeeignet und haben trügerischen Charakter, weil sie (noch) ohne Liebe sind: der Rausch, die Konformität, die (entfremdete) Arbeit.

Konkretionen sind hier leicht zu bewerkstelligen: Erfahrungen und Wissen im Zusammenhang mit dem Rausch liegen im Kurs vor; Bilder, die Konformität zeigen, sind nicht schwer zu beschaffen (z. B. Reichsparteitag Nürnberg 1935, Bilder vom Stau oder von Massen am Strand). Geeignet ist auch das Bild, das die Einsamkeit in der Moderne inszeniert, z. B. Edward Hopper, "Night-hawks" 1942 (M2). Bilder aus der modernen Arbeitswelt finden sich ebenfalls leicht. Fromm stellt der Fehlentwicklung die Dimension der Liebe gegenüber, die sich in ganz bestimmten Grundelementen zeige: Achtung, Verantwortung, Achtung vor dem oder der Anderen und Erkenntnis. Aus diesen Elementen könne das Individuum eine reife, Liebe geleitete Beziehung entwickeln, ebenso aber Selbsterkenntnis, die an ihren Grenzen in Gotteserkenntnis einmünde. Diese Liebestheorie stellt die Vorarbeit für das eigentliche, theologisch relevante Kapitel dar. Zur Konkretion: Erich Fromm bietet selbst etliche Beispiele mit biblischem Bezug. Schülerinnen und Schüler können hier gewiss persönliche Erfahrungen einbringen.

Eine Recherche-Hausaufgabe könnte darin bestehen, nach einer geeigneten Bebilderung der oben genannten vier Elemente forschen zu lassen (Zeitung, Illustrierte, Internet).

 

M 2

Edward Hopper, Nighthawks, 1942, Öl auf Leinwand (Art Institute of Chicago, Illinois)

 

 

Die Liebe zu Gott6

Bewusstseinsentwicklung und Gottesbild

Fromm postuliert die Korrelation von menschlichem Bewusstsein und Gottesbild; es habe sich vom Tierbild (Totem) über menschengestaltige Gottheiten (erst weiblich, dann männlich) zu abstrakten Vorstellungen (Bilderverbot) entwickelt. Dem entspreche die geistige Entwicklung: Aus der ursprünglichen Einbettung in die Natur ergebe sich dann die matrizentrische und danach die patrizentrische Religion und die sich daran anschließende matriarchale bzw. patriarchale Gesellschaftsordnung, schließlich der emanzipierte, erwachsene Mensch. Hier begegnet die bekannte Analogie von Ontogenese und Phylogenese.

In den Vätergeschichten des Alten Testaments entsteht etwas Neues. Gott setzt seinem Despotismus Grenzen, geht Vereinbarungen mit den Menschen ein, wird zu einem in diesen Vereinbarungen wirksamen Prinzip. Die Selbstoffenbarung als "Ich bin der ‚Ich bin da’" (Ex 3, 14) zeigt Gott als das Sein selbst. Namenlosigkeit und Bilderverbot ergeben sich konsequent.

Das Motiv des "brennenden Dornbusches" könnte in Gruppenarbeit vertieft werden. Beispiele: Improvisation bzw. Programmmusik (Vertonung durch Keyboard oder Orff-Instrumentarium); Großbild; Standbild (lebender Busch mit Zweigen, brennenden Kerzen, Gesang oder Sprechtext, frei formuliert).

Medien: Bilder von Mutter- und Vatergottheiten (Venus von Willendorf, Blitze schleudernder Zeus, Tiergottheit).

 

Theologia negativa und Symboltheorie

Hier schließen sich Aspekte der Theologia negativa an, d. h. die Gottheit Gottes wird nicht mit positiven, sondern mit negativen Attributen beschrieben, eine Auffassung, die in der jüdischen und christlichen Philosophie des Mittelalters zahlreiche Vertreter findet (M3). Diese Theologie wirkt auf die Schülerinnen und Schüler erfahrungsgemäß etwas dürr und konstruiert; jedoch vom Ende her gedacht, nämlich dem Verzicht auf jede Konkretion, aber dem gleichzeitigen Gedanken der umfassenden Wirksamkeit, erschließt sich der Sachverhalt etwas leichter. Ein einfaches Beispiel führt auf die Spur dieser Paradoxie: Der geometrische Punkt hat keine Ausdehnung, dennoch ist er nicht nicht, sondern hat einen genauen geometrischen Ort. Eine tiefere Dimension erschließt das Bild von Hildegard von Bingen "Die Chöre der Engel" (in: Religion im Sekundarbereich, Hannover 1989, S. 282).

Zur persönlichen Vertiefung könnten die Schülerinnen und Schüler ein Bild zeichnen (etwa in Art eines Mandala); Vorstellung und Aussprache nach Möglichkeit.

Die Theologia negativa entfaltet, dass das Letzte, das Wesentliche nicht gedacht werden kann und gleichzeitig höchste Bedeutung hat. Sie beschreibt im Prinzip den Weg vom Denken zur höchsten Abstraktion und zur Mystik, einen Sprung vom Denken zum inneren Schweigen. Dieser gedankliche Sprung kann auch mit den Elementen der Symboltheorie, die dem Bedürfnis des Menschen nach Anschaulichkeit Rechnung trägt, bearbeitet werden, wie sie etwa von Paul Tillich entwickelt wird. Erich Fromm beschreitet diesen Weg hier nur in Andeutungen. Als M4 sei ein einschlägiger Text von Paul Tillich beigefügt, der auch als Klausur-Text in Frage kommt.

 

M 3

(1) Rabbi Mose ben Maimon (Maimonides), 1138-1204

(Du) wirst … erkennen müssen, dass Gott in keiner Weise und in keinem Sinn ein Wesensattribut zukommt, und dass es ebenso unmöglich ist, dass er ein Wesensattribut besitze, wie es unmöglich ist, dass er ein Körper sei. Wer aber glaubt, dass er Einer sei, desungeachtet aber zahlreiche Eigenschaften besitze, der nennt ihn zwar mit seinem Worte Einen, hält ihn aber in seinem Denken für eine Vielheit. … Somit kommt Gott auf keinerlei Weise ein positives Attribut zu. In der Tat sind es die verneinenden Aussagen, deren wir uns bedienen müssen, um das Denken zu dem hinzuleiten, was wir in bezug auf Gott glauben müssen.

(aus: Maimonides, Führer der Unschlüssigen, zit. n. Fromm, Erich: Ihr werdet sein wie Gott, Gesamtausgabe Bd. VI, München 1989, S. 103)
 

(2) Meister Eckhart, 1260-1328

So vermag denn der Mensch überhaupt nicht zu wissen, was Gott ist. Etwas weiß er wohl: was Gott nicht ist; das streift dann der vernünftige Mensch alles ab. Und solange findet die Vernunft keinen Anhalt an einem wesenhaften Gegenstande: sie harrt, wie die Materie der Form harrt. Wie die Materie nicht ruht, sie werde denn erfüllt mit allen Formen, so ruht die Vernunft nimmer als allein in der wesenhaften Wahrheit, die alle Dinge in sich beschlossen hält: mit dem Wesen allein gibt sie sich zufrieden. Und das zieht Gott Schritt für Schritt von ihr zurück, damit er ihren Eifer wach erhalte und sie anreize weiterzugehen, dem wahren grundlosen Gute immer weiter nachzutrachten und es anzueignen; damit sie sich nicht zufrieden gebe mit irgend welchen Dingen, sondern immer tiefere Sehnsucht fühle nach dem höchsten und letzten Gute!

(aus: Meister Eckehart, Schriften, hrsg. v. Herman Büttner, Jena 1938, S. 76)
 

(3) Nicolaus von Cues, 1401-1464

Wenn wir Gott nicht im Wissen ergreifen können, dann vielleicht im Nichtwissen. "Die Vernunft muss also unwissend werden und in Schatten gestellt werden, wenn sie dich sehen will. … Wissen ist Nichtwissen." Das führt zu dem Paradox, dass Gott im Nichtwissen gewusst wird. … Nichtwissen heißt für Nicolaus nicht, resignierend auf das Wissen zu verzichten. Vielmehr fordert er, dass man in der Frage nach Gott das Nichtwissen ausdrücklich als solches ergreife. Das drückt sich darin aus, dass er es als "docta ignorantia", als "wissendes Nichtwissen" versteht.

(aus: Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen, 3. Aufl., Darmstadt 1994, S. 162)

 

M 4

Paul Tillich, 1996-1965

Gott ist das fundamentale Symbol für das, was uns unbedingt angeht. Hier wäre es wieder falsch, zu fragen: "Ist Gott denn nur ein Symbol?" Denn die nächste Frage müsste lauten: "Ein Symbol wofür?" Und dann würde die Antwort heißen: "Für Gott." – "Gott" ist ein Symbol für Gott. Das bedeutet, dass in der Idee Gottes zwei Elemente zu unterscheiden sind: einmal das Element der Unbedingtheit, das Gegenstand der unmittelbaren Erfahrung und nicht symbolisch in sich selbst ist; zweitens das konkrete Element, das aus unserer täglichen Erfahrung genommen und in symbolischer Weise auf Gott angewendet wird. Der Mensch, dessen unbedingtes Anliegen in einem heiligen Baum ausgedrückt ist, besitzt beides, die Unbedingtheit des Anliegens und die Konkretheit des Baumes, der seinen Bezug zum Unbedingten symbolisiert. Der Mensch, der Apollo anbetet, ist in konkreter Weise unbedingt ergriffen, denn sein letztes Anliegen ist in der göttlichen Gestalt des Apollo symbolisiert. Der Mensch, der Jahwe, den Gott des Alten Testaments, verehrt, hat ein unbedingtes Anliegen und ein konkretes "Bild" dessen, was ihn unbedingt angeht. Das ist der Sinn der scheinbar so paradoxen Feststellung, dass "Gott" das Symbol Gottes sei. In diesem Sinn ist Gott der fundamentale und universale Inhalt des Glaubens.

Es ist klar, dass durch diese Deutung des Gottesbegriffs eine Diskussion über die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes sinnlos wird. Es ist sinnlos, nach der Unbedingtheit des Unbedingten zu fragen. Dieses Element in der Idee Gottes ist in sich selbst gewiss. Aber der symbolische Ausdruck für die Beziehung zum Unbedingten variiert endlos im Lauf der Menschheitsgeschichte. Es wäre sinnlos, zu fragen, ob die eine oder andere Gestalt, in der das Unbedingte symbolisch dargestellt wird, "existiert". Wenn "Existenz" sich auf etwas bezieht, das im Ganzen der Wirklichkeit vorgefunden wird, so existiert kein göttliches Wesen. Die Frage nach der Existenz Gottes kann also gar nicht so gestellt werden, sondern es muss heißen: Welches unter den unzähligen Symbolen des Glaubens ist dem Sinn des Glaubens am meisten angemessen? Mit anderen Worten: Welches Symbol des Unbedingten drückt das Unbedingte aus, ohne götzenhafte Elemente zu enthalten? Dies ist das eigentliche Problem und nicht die so genannte "Existenz Gottes" – eine Phrase, die eine unmögliche Kombination von Worten ist. Gott als das Unbedingte im unbedingten Ergriffensein des Menschen ist eine größere Gewissheit als jede andere Gewissheit, sogar größer als die Gewissheit unserer selbst. Aber die Begegnung mit Gott im Symbol einer göttlichen Gestalt ist Sache des Glaubens, des Wagnisses und des Mutes.

"Gott" ist das fundamentale Symbol des Glaubens, aber es ist nicht das einzige. Alle Eigenschaften, die wir ihm zulegen, wie Macht, Liebe, Gerechtigkeit, sind aus unseren endlichen Erfahrungen genommen und werden symbolisch angewandt auf das, was sich jenseits von Endlichkeit und Unendlichkeit befindet. Wenn der Glaube Gott "allmächtig" nennt, so benutzt er die menschliche Erfahrung der Macht, um den Gegenstand seines unendlichen Anliegens symbolisch darzustellen; aber er beschreibt nicht ein höchstes Wesen, das tun kann, was ihm beliebt. Das gleiche gilt für alle anderen Eigenschaften, die der Mensch Gott zu schreibt, und für alles Handeln Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es sind Symbole, die aus unserer alltäglichen Erfahrung genommen sind; aber es sind keine Berichte über etwas, das Gott in grauer Vorzeit getan hat oder in ferner Zukunft tun wird. Glaube ist nicht das Für-wahr-Halten von Geschichten, sondern er ist die Annahme von Symbolen, die unser unbedingtes Ergriffensein im Bild göttlichen Handelns ausdrücken.

(aus: Tillich, Paul: Das Symbol für das, was uns unbedingt angeht, in: Kakuschke, Reimar/Wichmann, Günter (Hg.): Reden von Gott. Befragter Glaube Nr. 12, Düsseldorf 1977, S. 30f.)

 

Gott ist und ist nicht

Es fällt Schülerinnen und Schülern in aller Regel schwer, Gedanken zuzulassen, die nicht rationalen Grundforderungen entsprechen. Denken wird als Denken im Rahmen der aristotelischen Logik verstanden. Dieser Rahmen muss im Kontext der hier anstehenden Aufgabe überschritten werden. Die von Erich Fromm so genannte "paradoxe Logik" stellt den Versuch dar, eine statisch-definitorische Denkweise durch eine dynamische, im letzten offene zu überwinden. Dieses Denken hat seine Geschichte, seine eigene Tradition; es schlägt sich nieder in den Weisheiten Lao-Tses, bei Heraklit oder auch in Hegels Dialektik7. In der "Kunst des Liebens" werden etliche Weisheitssprüche aus dem Chinesischen oder Griechischen zitiert, z.B.

Könnten wir weisen den Weg,
es wäre kein ewiger Weg.
Könnten wir nennen den Namen,
es wäre kein ewiger Name.8

Aber dieses Denken hat eben seine Aporien. Es hat asymptotischen Charakter. Es weiß, dass es sich seinem Gegenstand nur annähern, ihn aber nie berühren kann. Wie diese Begrenztheit in neue, tiefere Erkenntnis umschlagen kann, liest sich bei Meister Eckhard so: "Was in ein anderes verwandelt wird, das wird eins mit ihm. Ganz so werde ich in ihn verwandelt, dass er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, dass es da keinerlei Unterschied gibt … Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott (so) sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein."9

An dieser Stelle wird deutlich, wie Religion in Ethik umschlägt. Die Kunst des Liebens ist eine aus der Mystik geborene Kunst. Die Anverwandlung an das Göttliche, das Unendliche (hebr.: En-Sof) ist die Anverwandlung an das summum bonum, an die göttlichen Prinzipien, ist also die ethische Tat. Diese ist dann nicht durch die Forderung des Gesetzes, sondern verdankt sich dem Kraftfeld des Göttlichen. Auch aus dieser Perspektive ist die Überwindung einer personalen Gottesvorstellung unabweisbar, wenn der Mensch den Bildern der Entfremdung seine Bilder von Identität und Authentizität gegenüberstellen will.

Hier endet die Lektüre der "Kunst des Liebens". Es sei darauf hingewiesen, dass Erich Fromm die hier vorgelegten Gedanken sehr viel ausführlicher in seiner Schrift "Ihr werdet sein wie Gott" (GA VI, S. 83-226) entwickelt hat.

 

Die Gottesbeziehung Jesu

Das Neue Testament beschreibt die Gottesbeziehung von Jesus in personalen Kategorien. Gott ist – nach Erich Fromm – (noch) der Fordernde, der Urheber des Gesetzes, von dem kein i-Tüpfel ausgesetzt wird. Und doch geht diese Vorstellung nicht in einem legalistischen Zusammenhang von Forderung und Erfüllung auf. Gott ist im Gesetz verborgen, aber er ist nicht identisch damit. In der Bezeichnung "Vater" liegt vertraute Annäherung, persönliche Direktheit, nicht jedoch – wie könnte auch – mystische Vereinigung. In dieser Direktheit relativiert sich die autoritative Anforderung des Gesetzes: Primär ist die Beziehung zu Gott, sekundär die formelle Gesetzestreue (vgl. Bergpredigt, Mt 6, 33; der reiche junge Mann, Mt 19, 16ff.). Die in Anlehnung an Rudolf Bultmann formulierten Thesen zum Gottesverständnis von Jesus sollen Schülerrinnen und Schüler einen Zugang zu dieser Thematik erleichtern (M5).

 

M 5

Thesen zum Gottesverständnis von Jesus

  • Das Gottesverständnis von Jesus muss im Kontext der zeitgenössischen Grundstimmung verstanden werden: Der Einbruch des Gottesreiches steht unmittelbar bevor.
  • Jesus maßt sich nicht göttliche Qualität an.
  • Sein Selbstverständnis steht eher in Verbindung zur alttestamentlichen Prophetie.
  • Leitgedanke ist die Wahrnehmung und Ausübung des Willens Gottes. Die Nähe des Weltendes intensiviert diesen Gedanken, dominiert ihn aber nicht.
  • Der Mensch ist auf den Schöpfer angewiesen. Er beschenkt den Menschen mit allem, was er braucht.
  • Gott wird ein Gott der Nähe ("Vater"), nachdem er im Judentum eher in der Ferne der Erhabenheit gerückt ist.
  • Gott ist auch der Fordernde; die Forderung konkretisiert sich in der zufälligen, alltäglichen Situation, der Begegnung mit dem Nächsten.
  • Gott ist ein Gott der Vergebung, die ihrerseits Handlungsmotiv der Menschen werden soll.
  • Jesus spricht nicht zum Volk als ganzem, sondern zum Einzelnen (Entgeschichtlichung/Individualisierung). Der Einzelne ist für die Wahrnehmung der Situation, die ihn fordert, verantwortlich.

(nach Bultmann, Rudolf: Theologie des NT, 8. Aufl., Tübingen 1968, S. 22ff.)

 
Anmerkungen

  1. Vgl. Hardeck, Jürgen: Erich Fromm, Darmstadt 2005, S. 13
  2. Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens, 61. Aufl., München 2005
  3. Fromm, Erich: Gesamtausgabe, hrsg. von Rainer Funk, München 1989, Bd. II, S. 270
  4. Vgl. Zilleßen, Dietrich: Die Haltlosigkeit der Symbole und die Zufälligkeit der Bildung, in: Dressler, Bernhard (Hg.): Symbole und Metaphern, Loccum 1995, S. 13
  5. Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens, S. 17-30 und S. 37-45
  6. vgl. ebd., S. 77-97
  7. Hegel kann man bearbeiten mit: Weischedel, Wilhelm: 34 große Philosophen in Alltag und Denken, 8. Aufl., München 1980, S. 251 ff.
  8. Fromm, Erich: Kunst des Liebens, S. 88ff. – Vielleicht könnten einfache Gedichte oder Sinnsprüche dieser Art von den Schülerinnen und Schülern selbst geschaffen werden.
  9. Ebd., S. 95

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2005

PDF