"Wenn dein Kind dich morgen fragt..." . Sechs Worte aus dem 5. Buch Mose, 6. Kapitel, Vers 20, um die es beim Evangelischen Kirchentag in Hannover ging. Sechs Worte, die aus ihrem Kontext herausgelöst und damit einer isolierten, möglicherweise willkürlichen Auslegung stärker ausgeliefert sind. Aber hierin liegt eine interessante Chance für den Religionsunterricht, denn die Offenheit ermöglicht es, dass Schülerinnen und Schüler sich auf andere Weise dem Text nähern, ihre eigenen Interpretationen an das Kirchentagsmotto herantragen und die Kirchentagslosung subjektiv und authentisch für sich umgestalten.
Eine entsprechende Möglichkeit stellt das Konzept des "creative writing" dar, das seinen Ursprung am Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA hat und bis heute insbesondere in der Ausbildung schreibender Berufe (Schriftstellern, Journalisten etc.) zur Anwendung kommt. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass jeder Mensch - neben anderen kreativen Fähigkeiten - ein kreativ-sprachliches Potential besitzt. Dieses realisiert sich in vielfältigsten Möglichkeiten des Schreibens. Das Standardwerk der kreativen Schreibverfahren "Die Musenkussmaschine" (Moser, Bettina / Herholz, Gerd, Essen 1991) nennt allein 120 solcher Methoden, die sich allerdings nicht auf die unterrichtli-che Arbeit beziehen. Inzwischen wurden diese durch postmoderne Verfahren ergänzt, wobei alte oder fremde Texte zu Steinbrüchen für eigene neue Texte wurden.
Lässt sich der Religionsunterricht von entsprechenden Verfahren inspirieren, bedeutet dies, sich für eine gewisse Zeit von historisch-kritischen Verfahren zu verabschieden und biblische Texte in ungewohnter Form neu zum Klin-gen zu bringen. Ziel dabei ist nicht, Wissen über einen Text zu vermitteln. Es geht vielmehr um geschickt gewählte Inszenierungstechniken, die den Text so verändern, dass er zu einem Text der Schüler wird. Im Rahmen dieses Prozesses wird der Ausdruck der Schülerinnen und Schüler gestärkt und ihre Imaginationskraft entfaltet. Beispielhaft soll im Folgenden die Anwendung entsprechender Verfahren auf die Kirchentagslosung vorgestellt werden.
Automatisches Schreiben
Das automatische Schreiben oder auch 'écriture automatique' wurde in seiner Urform von dem Psychologen Pierre Janet entwickelt. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckte André Breton das Verfahren für die Literatur. Für den Schreibprozess sollte in der Klasse eine entspannte Atmosphäre herrschen. Ist diese Voraussetzung erfüllt, wird die Kirchentagslosung vorgelesen, mit dem Overhead-Projektor projiziert oder an die Tafel geschrieben. Die Schüler sollen sich nun auf die Gedanken und Bilder, die in ihrem Kopf zur Losung ablaufen, konzentrieren. Dabei achten sie auf ihre Gefühle, Hoffnungen, Befürchtungen, Erinnerungen, etc.. Keine noch so abwegig erscheinende Idee darf verworfen werden. Nach etwa zwei bis drei Minuten schreiben sie alle Gedanken und Assoziationen auf. Wenn der Gedankenfluss stoppt, wird das letzte Wort solange erneut aufgeschrieben, bis neue Ideen entstehen. Auf Sprach-, Grammatik-, und Rechtschreibregeln kann dabei verzichtet werden. Alles ist erlaubt. Einzelne Wörter können ohne Punkt und Komma aneinander gereiht werden. Stichwörter und Satzfetzen lassen sich schneller aufschreiben als ganze Sätze. Alles, was sich im Kopf abspielt, wird festgehalten.
Abschließend werden der Klasse die Einfälle einzelner mitgeteilt und dienen als Grundlage neuen Nachdenkens über die Kirchentagslosung. Dabei entscheidet jeder selbst, welchen Gedanken er den anderen mitteilen möchte.
Clustering
Das Clustering setzt die Idee des automatischen Schreibens fort. Es gründet sich auf gehirnstrukturelle Annahmen und wurde Gabrielle Rico entwickelt. Zwei Schreibphasen folgen dabei aufeinander: Die erste Phase dient der Ideenfindung, wobei das bildliche Denken dominiert. In der zweiten Phase des Schreibprozesses geht es um ein Hin und Her zwischen bildlichem und begrifflichem Denken. Dabei wird den Bildern der ersten Phase eine sprachliche Form verliehen.
Wird das Verfahren auf die Kirchentagslosung angewandt, wird diese zunächst in die Mitte eines leeren Blattes Papier geschrieben und umkreist. Dabei löst die Losung verschiedene Assoziationen aus. Das können Worte, Metaphern, Sprichwörter etc. sein. Sollte eine Assoziationspause entstehen, gilt es, den Gedanken freien Lauf zu lassen und den nächsten Gedanken aufzuschreiben. Wichtig ist dabei, dass keine innere Zensur zugelassen wird. Die Assoziationen werden aufgeschrieben, umkreist und durch eine Linie mit dem Kern, welcher die Assoziation auslöste, verbunden. Nacheinander bilden sich um die Losung Ideenketten, die letztlich ein Geflecht von Zweigen bilden.
Abschließend wird das Cluster mit farbigen Stiften strukturiert, so dass Themenstränge entstehen. Durch Linien wird die Zusammengehörigkeit von Assoziationsgruppen angedeutet. Ist ein Cluster erstellt, sieht jeder Schüler ihn auf Einfälle durch, die ihn besonders interessieren. Dieser Einfall wird markiert und stellt den Ausgangspunkt für ein Gespräch mit dem Tischnachbarn dar. Hierbei geht es um das Besondere des Einfalls und den Weg, wie er - ausgehend von der Kirchentagslosung - entstanden ist.
Sprach-Bilder
In der Methode der Sprachbilder geht es darum, den Losungstext in einem Schrift-Bild darzustellen. Dazu wird ein Bild zur Losung nur mit Buchstaben und Worten gestaltet. Die Schüler spielen dabei mit der Textform und probieren, wie alternative Buchstabengestaltungen und alternative Anordnungen auf das Textverständnis wirken. Die durch die Schreibbilder entstandenen Interpretationsvorschläge, werden abschließend in der Klasse diskutiert.
Textcollage
In Gruppen (4 bis 6 Schüler) werden die groß geschriebenen (unterschiedlich gestalteten) Wörter der Kirchentagslosung auseinandergeschnitten, auf ein DIN A 2 Blatt geworfen und so aufgeklebt, wie sie fallen. Nun wird überlegt, mit welchen Bildern oder Zeitungsüberschriften die Zwischenräume ausgefüllt werden sollen, so dass neue Zusammenhänge zwischen einzelnen Wörtern der Losung und den gewählten Materialien entstehen. Abschließend werden die Textcollagen präsentiert und die entstandenen Sinnzusammenhänge ausgewertet.
Elfchen
Beim "Elfchen" handelt es sich um ein literarisches Spiel mit elf Wörtern, verteilt auf fünf Zeilen. Das Elfchen ist eine gute Möglichkeit, um aus der Kirchentagslosung einen poetischen Text zu machen. Dabei ist folgendes Schema zu erläutern:
- Zeile: ein Wort - ein Wort der Losung / Thema / Gefühl / Stimmung / Idee
- Zeile: zwei Wörter - etwas, das sich auf den Begriff bezieht
- Zeile: drei Wörter - Wo oder wie ist das in Zeile zwei Genannte? Was tut es?
- Zeile: vier Wörter - mehr über das in Zeile zwei Genannte erzählen.
- Zeile: ein Wort - abschließendes Wort: Gegensatz / Pointe /Provokation / Ergänzung
Das letzte Wort ist entscheidend für die Qualität des Elfchens.
Morgen
hör doch
das Kind allein
fragt nach dem Gestern
Stille
Leben
Geburt, Erziehung
Urlaub, Arbeit, Spaß
Alt, krank, gebrechlich, tot
Gott
Kannst
Du wissen,
was wird, morgen?
Mit Dir, Kind dir
Fragen?
Texttheater
Ein geschickter sprachlicher Umgang mit der Losung ist geeignet, eine neue ungewohnte Sicht bei den Schülerinnen und Schülern hervorzurufen. Dieses gelingt z.B. wenn einzelne Wörter wiederholt, unterschiedlich betont, monoton, gehetzt, seufzend etc. vorgetragen werden. So entstehen Bekräftigungen oder Verfremdungen. Körpersprache kann die Bedeutung verstärken. Rhythmisches Klopfen oder die Zuhilfenahme Orffscher Instrumente bietet sich hierzu in gleicher Weise an. Bekannte Personen können imitiert werden, die Losung kann ironisch , sarkastisch, in Form eines Befehls oder naiv deklamiert werden. Hierzu werden die Schüler aufgefordert, den Losungstext in Gruppen (4 bis 6 Schüler) entsprechend zu bearbeiten. Im Anschluss werden die Interpretationen in der Klasse besprochen. Welche Interpretation war stimmig? Welche Interpretation verfremdete die Losung in einer interessanten und aufschlussreichen Weise? Ist es möglich, verschiedene Interpretationen miteinander in einer Art Sprechtheater zu verbinden? Darüber hinaus sind vielfältige dramaturgische Weiterentwicklungen denkbar, die letztlich in einer Aufführung enden könnten.
Textergänzungen
Zur vertiefenden Auseinandersetzung mit der Kirchentagslosung kann es sinnvoll sein, sie mit Hilfe anderer Medien zu ergänzen bzw. umzusetzen. Das könnten sein: ein gemaltes Bild, Fotos, eine Collage, eine PowerPoint-Präsentation, ein Standbild, eine Pantomime, ein Schattenspiel (auf dem Overhead-Projektor), eine Flash-Animation, ein Rollenspiel, eine Videoproduktion, ein Hörspiel, eine Musikcollage u.v.m..
Schneeballgedicht
Das Schneeballgedicht wurde 1960 von der literarischen Kunstgruppe OULIPO in Frankreich entwickelt. Dabei handelt es sich um ein Schreibspiel, das mathematischen Schreibzwängen folgt und durch einen ästhetischen Formenzwang, zu neuen Bedeutungen führt. Auf diese Weise steht das einzelne Wort viel stärker im Mittelpunkt und kann durch seine Prägnanz unterschiedlichste Gefühle und Stimmungen auslösen. Im Blick auf die Losung bieten sich verschiedene Formen an, die den Schülern den Rahmen vorgeben. Es gilt dabei, die Losung fortzuschreiben, wobei die vorgegebene Form bewahrt werden muss. Schneebälle zu entwerfen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es hat sich bewährt, dass die Schüler dabei in kleinen Gruppen arbeiten. Dabei müssen sie sich auf die Gefühle und Gedanken der anderen einlassen. Später können auch eigene Formen von den Schülern entworfen und gestaltet werden.
RAP
RAP-Produktionen von Schülern gibt es inzwischen in erstaunlicher Zahl. Dieses liegt an der schon fast krisensicheren Position, die sich der Rap in deutschen Jugendkulturen erobert hat und an seiner entsprechend hohen motivationalen Funktion für Unterrichtsprozesse. Unterstützend wirken die hohen kreativen Anteile und die Schaffung eines Raumes für Improvisationen und Ausdruck.
Für den Religionsunterricht liegen in der Gestaltung von Rap-Texten zur Kirchentagslosung besondere Chancen zur Anknüpfung an die jeweilige Lebenssituationen der Schülerinnen und Schüler. Unter Umständen liegt dies auch an der Öffnung verschiedener Räume, die eine Distanznahme zur Wirklichkeit auf unterschiedlichen Ebenen ermöglichen: Sowohl das sinnlich erfahrbare Potential der Musik als auch das kritische Potential der Kirchentagslosung können sich in einem solchen Fall ergänzen. Ausgehend vom Text der Kirchentagslosung gilt es zunächst, für die Schüler relevante Themenschwerpunkte herauszuarbeiten. Im Anschluss kann die Textarbeit erfolgen. Ist der Text erstellt, erfolgt das "Eingrooven". Für diese rhythmischen Vorübungen bietet sich ein Stuhlkreis an. Gemeinsam stampfen oder klatschen Schüler und Lehrer zunächst einen 4/4 Takt. Um das Metrum einzuhalten sind Sprechsilben hilfreich (dum- dam- dim- dam). Wichtig ist, in dieser Phase auf eine gute rhythmische Koordination zu achten. Wird der Rhythmus von der Schülergruppe sauber ausgeführt, werden ein- oder zweitaktig Rhythmen vorgegeben. Dieser wird von der Klasse imitatorisch nachgeklatscht. Wurde der rhythmische Grundbeat von der gesamten Klasse sauber geklatscht, kann die Arbeit mit dem Raptext beginnen. Unter Beibehaltung des Grundbeats trägt der Lehrer einzelne Textzeilen vor, die von der Klasse imitiert werden. Es fällt leichter den Text im Rhythmus zu sprechen, wenn der Taktschwerpunkt auf der auf Eins liegenden Silbe deutlich betont wird. Für alle anderen Silben können mehr Freiheiten einfließen. Ist der Rap unplugged fertiggestellt, können Computerprogramme die Arbeit ergänzen (z.B. HipHop-eJay / über das Internet zu beziehen) und zu einer professionellen Produktion beitragen. Diese kann auf CD gebrannt werden, ein entsprechendes Cover kann von den Schülern erstellt werden und als "Kirchentags-CD" im schulischen Rahmen veröffentlicht werden. Im Rahmen eines Projektes könnte darüber hinaus eine Diashow (mit PowerPoint) oder ein Video-Clip zum Rap erstellt werden.