Mediendidaktischer Entwurf zu einem Bild von Carl Meyer-Arnek
Bild im Loccumer Pelikan 4/2003 | Carl Meyer-Arnek "Das letzte Kapitel im Leben des Joh. Heinr. B." 1985, Öl, 26 cm x 81 cm, Privatbesitz |
Zur Bildästhetik
Ein wichtiger Gesichtspunkt eines guten Unterrichtsmediums ist nicht nur seine inhaltliche Thematik, sondern auch seine ästhetische Wirkung. Viele Bilder werden Schülerinnen und Schülern in kleinen Schulbuchdarstellungen präsentiert (1) oder in ungünstig abgedunkelten Räumen mit Overheadprojektoren zur Betrachtung vorgestellt. Insbesondere im Bereich der darstellenden und bildenden Kunst sollte auf gute Reproduktionen, ja wenn möglich auf Originale zurückgegriffen werden. Die kirchenpädagogischen Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass durch die unmittelbare Begegnung mit Bildern, Reliefs u.ä. ein Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn zu erzielen ist, der nicht allein von der künstlerischen Qualität eines Bildes oder Gemäldes abhängig ist. Die Begegnung selbst hat eine sinn- und erlebnisstiftende Funktion.
Allerdings ist auch die Arbeit mit Originalen oder hochwertigen Reproduktionen nicht ohne Probleme. Auch diese müssen angemessen und wirkungsvoll präsentiert werden. Die Lichtverhältnisse eines Raumes, die Größe des Bildes u.a.m. müssen stimmen. Doch nicht zuletzt die erforderliche "Sehgeduld" (2), die in einer Zeit der bewegten Bilder (Fernsehen, Computer u.a.) gestärkt und gefördert werden sollte, findet in einer ästhetisch anspruchsvollen Form einen wichtigen Halt.
Sollen Bilder mehr als digitale Informationsträger sein, so ist ihre ästhetische Wirkung grundlegender Bestandteil ihrer Botschaft.
Daher gilt: Besucht Ausstellungen, Kirchen, Museen und tretet ein in die lebendige Begegnung mit Bild oder Skulptur!
Zur Bildwahrnehmung
Das Bild von Carl Meyer-Arnek "Das letzte Kapitel im Leben des Joh. Heinr. B." (1985, Öl, 26cm x 81cm) stellt einen alten hageren Mann dar. Er sitzt auf einem gepolsterten Stuhl vor einem Tisch. Mit seinen dünnen Händen zerreißt er Bilder, die er vor sich auf dem Tisch ablegt. Der Blick des Mannes, dessen graue Haare ausgedünnt sind, ist starr auf den Betrachter gerichtet. Der Mundwinkel fällt nach unten, die Augen besitzen tiefe dunkle Ränder, Altersfalten zeichnen die Haut. Durch das von rechts einfallende Licht liegt die linke Gesichtshälfte fast vollständig im Dunkeln. Dicht hinter dem Stuhl befindet sich eine Wand, was durch den Schatten des Kopfes erkennbar wird. Die dunklen Hauptfarben des Bildes reichen von Schwarz, Dunkelblau und Grau bis hin zu Braun und Türkis. Hell wirken das blassrosa Gesicht und die gleichfarbigen Hände – ein halbzerrissenes Bild haltend – sowie das weiße Hemd mit der schmalgebundenen Krawatte.
Das Bild erscheint links abgeschnitten. Tisch und Stuhl enden stumpf am Bildrand, was die ohnehin bestehende Enge des Bildes verstärkt. Nach vorn scheint der Tisch etwas zu kippen, so dass die daraufliegenden zerrissenen Bilder teilweise als Fotos erkennbar sind.
Zur Bildinterpretation
Die Aufmerksamkeit des Betrachters richtet sich zunächst auf die die Bilder zerreißenden Hände. Monoton scheint ein Bild nach dem anderen zerrissen und abgelegt zu werden. Wie ein Papierhaufen für ein Feuer liegen die Bilder auf dem Tisch: Verschwommene Familienbilder, ein Bild einer Frau, Bilder von Kindern deuten an, dass es sich um Fotos aus der eigenen Lebens- und Familiengeschichte handeln könnte. Der zunächst nach unten gelenkte Blick des Betrachtenden schaut danach in ein starres, verbittertes Gesicht eines alten Mannes, der stumm sein Tun verrichtet. Die im Dunkel liegende Gesichtshälfte verharrt ungerührt im Schatten, ja so, als ob der "Schatten des Todes" bereits über diesem Leben liegt oder nach ihm zu greifen versucht.
Die blassen Farben des Gesichts und der Hände verstärken diesen Eindruck, der im Ganzen von einer düsteren, depressiven Stimmung geprägt ist.
Auffällig bleiben, trotz der herabhängenden Schultern, die aufrechte Sitzhaltung und die Kleidung des Mannes. Er trägt unter seiner Anzugsjacke eine gut gebundene Krawatte und ein weißes Hemd. Haltung und Würde bewahrend wird dies vom bisweilen streng wirkenden Blick des alten Mannes unterstrichen. Verborgen unter dieser Strenge liegt möglicherweise ein Herz, das trotz langer Zeit noch immer seine Tränen im Stillen vergießt, wartend auf neue Sprache und Trost.
Zum Bildeinsatz im Religionsunterricht
Das Bild beinhaltet u.a. drei Themenfelder:
- Vom Tod im Leben
- Von der Würde des alten Menschen
- Von der Geschichtlichkeit des Lebens
Nach den Rahmenrichtlinien der Klasse 9 und 10 lässt sich das Bild einsetzen im Leitthema: Leben und Tod. Hierin geht es u.a. um den Zusammenhang von Lebenssinn und Lebenswirklichkeit. Existenzielle Grunderfahrungen wie Tod, Angst und Einsamkeit können mit dem christlichen Glaubensverständnis von Tod und Leben konfrontiert werden.
Die Bereitschaft von Jugendlichen, über das Thema: Leben und Tod sowie die damit verbundene Sinnfrage zu sprechen, ist in dieser Altersstufe groß. Der Einsatz des Bildes in unteren Jahrgangsstufen oder im Konfirmandenunterricht sollte nur dann erfolgen, wenn die Lerngruppe dem/der Unterrichtenden gut vertraut ist. Voraussetzung für ein vertieftes Verständnis des Bildes ist ein gewisses Maß an eigener, selbsterworbener Lebenserfahrung in der Begegnung und einem daraus entstandenen Umgang mit älteren Menschen.
Der vorliegende Unterrichtsentwurf zielt auf eine intensive Begegnung der Schülerinnen und Schüler mit den existenziellen Themen des Bildes. Sie sollen eigene Lebenserfahrungen einzeichnen in den größeren Zusammenhang der Lebensthemen, die sie im vorliegenden Bild entdecken. In der Begegnung von Bild und biblischer Überlieferung finden sie eine Sprache, die die Erzählbarkeit eigener und fremder Lebensgeschichten ermöglicht und initiiert.
Unterrichtsskizze
Ein möglicher Unterrichtsentwurf in 4 Schritten:
1. Schritt: Bilder des Lebens wahrnehmen und entdecken
Aus einer großen Zeitungsbildersammlung, die im Raum ausgelegt ist, sucht sich jede Schülerin, jeder Schüler vier Bilder aus, die ihn/sie ansprechen, nachdenklich machen oder berühren. Anschließend ordnen sie ihre Bilder und stellen sich ihre Auswahl jeweils zu zweit gegenseitig vor.
Anschließend werden sie aufgefordert, ihre Bilder nach und nach zu zerreißen und vorsichtig in einen eigenen DIN A4-Umschlag zu legen. Den Umschlag sollen sie sorgfältig aufbewahren. Ein Klassengespräch über ihr Erleben schließt sich an.
2. Schritt: Bildbetrachtung
Das Bild "Das letzte Kapitel im Leben des Joh. Heinr. B." wird als Folie in zwei oder mehreren Teilschritten aufgedeckt und von den Schülerinnen und Schülern in seinen Formen, Farben und Themenaspekten erschlossen.
Nun werden sie aufgefordert zu überlegen, welche Fragen und Denkanstöße das Bild für sie aufwirft. Die Ergebnisse werden gesammelt und thematisch geordnet.
Die Schülerinnen und Schüler machen Namensvorschläge für das Bild.
Informationen über den Maler und sein Bild können angefügt werden (4).
3. Schritt: Begegnung von Bild und biblischem Text
Nach einer Bewegungsübung erhalten die Schülerinnen und Schüler biblische Textverse, in denen das Wort ‚Zerreißen‘ enthalten ist. Sie wählen sich einen Satz aus, in dem für sie ein Gedanke oder ein Gefühl aus der vorausgegangenen Bildbetrachtung enthalten ist. Anschließend wird mit den Texten schrittweise ein Cluster vorbereitet und durchgeführt (5). Die Schülerinnen und Schüler tauschen sich in Kleingruppen über ihr Erleben aus und bewahren die Bibeltexte für die nächste Stunde auf.
4. Schritt: Was einem Menschen gut tut
Die Schülerinnen und Schüler überlegen, was einem Menschen, wie er auf dem Bild gemalt ist, hilft oder gut tut. Sie gestalten aus ihren zerrissenen Zeitungsbildern, den biblischen Texten sowie zusätzlichen Farben und Papieren eigene Collagen zum Thema: Was einem Menschen gut tut! Die Collagen werden an der Wand aufgehängt und in einer Abschlussrunde gewürdigt. Das Bild des alten Mannes kann mit an die Wand projiziert werden Dabei werden Schülerinnen und Schüler ermutigt, eigene Lebenswünsche und Träume zu benennen. Leitwort einer Zusammenfassung ist das Prophetenwort Hosea 6,1: "ER hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen."
Schlussbemerkung
Im Rahmen einer längeren Beschäftigung mit dem Bild von Meyer-Arnek sind unterschiedliche Vertiefungen denkbar.
Durch eine Schreibmeditation, Rollendialoge u.a. kann das Erleben des Bildes erweitert werden. Ein Vergleich mit anderen Bildern von alten Menschen aus der Kunstgeschichte wie z.B. dem letzten Selbstporträt Rembrandts (6) oder eine Auseinandersetzung mit Erfahrungen der Suizidforschung (7) ist denkbar. Die unterschiedliche Beurteilung und Würdigung des alten Menschen in der Hebräischen Bibel bzw. im Neuen Testament kann erarbeitet werden. Die Schülerinnen und Schüler können ausführlich über ihre Begegnungen mit alten Menschen berichten. Generationskonflikte aus der eigenen Familienerfahrung, Diskussionen um die Altersentwicklung in der Gesellschaft, Fragen der Hospizbewegung u.a. können aufgegriffen werden. Außerdem gibt es zahlreiche praktische Möglichkeiten, die gewonnenen Fragestellungen in Gesprächen und Begegnungen mit Einrichtungen und Institutionen außerhalb der Schule zu vertiefen (8).
Anmerkungen
- vgl. dagegen z.B. den neuen Versuch von G.Koretzki/R.Tammeus, Religion entdecken verstehen gestalten, 9/10; siehe auch Strittmatter, Lehren, 40ff
- vgl. G. Lange, Umgang
- vgl. Grözinger, Kirche, 67-69
- Das Bild geht zurück auf eine Begegnung des Künstlers mit einem alten Mann aus einem Altersheim. Zum Künstler Meyer-Arnek: siehe Kasten .
- vgl. Warns, Bibliodrama, 75f
- siehe Rosenmayr, Greisengrau, 2/24
- siehe Schmitz-Scherzer, Grenzsituationen, 9/31
- vgl. auch Carsten Mork, Wenn ein Mensch alt wird, in: Loccumer Pelikan 1/02 S.23-28.
Materialhinweise
Textstellen zum Wortfeld "Zerreißen":
Ein reißendes Tier hat Josef zerrissen (Gen 7,33)
Wird es zerrissen, soll er es nicht ersetzen (Ex22,12)
Wilde Tiere sollen euer Vieh zerreißen (Lev 26,22)
Die Erde zerriss unter ihnen (Nu 16,31)
Er zerriss die Seile wie eine Flachsschnur zerreißt (Ri 16,9)
Zerreißt eure Kleider und haltet die Totenklage (2.Sam 3,31)
Ein starker Wind, der die Berge zerreißt (1. Kö 19,11)
Sein Grimm hat mich zerrissen (Hi 16,9)
Zerrissen sind alle meine Pläne (Hi 17,11)
... dass sie nicht wie Löwen mich packen und zerreißen (Ps 7,3)
Das Netz ist zerrissen und wir sind frei (Ps 124,7)
Zerreißen hat seine Zeit (Pred 3,7)
... ehe der silberne Strich zerreißt ... (Pred 13,6)
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab (Hes 63,19)
Alle meine Seile sind zerrissen (Jer 10,20)
Ich zerreiße sie und gehe davon (Hos 5,14)
Er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen (Hos 6,1)
Ich will ihr verstocktes Herz zerreißen (Hos 13,8)
Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider (Joel 2,13)
... die Felsen zerrissen (Mt 27,52)
Der alte Mensch (Rätselrede):
Prediger 12,3-6
Liste von Motiven bzw. Faktoren, die möglicherweise zum Suizid im Alter führen:
- Alter
- Einsamkeit und Isolation
- Tod eines nahen Menschen
- Furcht vor schwerer oder chronischer Krankheit sowie Furcht vor einer zum Tode führenden Krankheit
- starke chronische Schmerzen
- ein erniedrigender Todeskampf
- seelische Leiden oder eine psychische Krankheit
- als ausweglos erlebtes Unglück
- erlebte Misshandlungen
- Zorn, Wut oder Scham
- verletzte Ehre oder verlorene Freiheit
- enttäuschte Liebe oder Eifersucht
- der Bildungsgrad
- wirtschaftliche Not und Armut
Märchen der Brüder Grimm
Der alte Großvater und der Enkel
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. "Was machst du da?", fragte der Vater. "Ich mache ein Tröglein", antwortete das Kind, "daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin." Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten dann den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.
Literatur
- Grözinger, Albrecht, Die Kirche – ist sie noch zu retten, 2. Aufl., 1998
- Koretzki, Gerd-Rüdiger/Tammeus, Rudolf (Hg.), Religion entdecken – verstehen – gestalten, 9./10.Schuljahr, 2002
- Lange, Günter., Zum Umgang mit Bildern der Kunst im Religionsunterricht, 2002 in: www.uni-leipzig.de/ru
- Lange, Günter, Bilder zum Glauben, 2002
- Rosemayr, Leopold, "Vor Greisengrau steh auf" – Alte Menschen im Spiegel der Geschichte und der Kulturen, 1996 in: Deutsches Institut für Fernstudienforschung, Funkkolleg Altern Studienbrief 1 Studieneinheit 2 S. 1-56
- Schmitz-Scherzer, Reinhard, Grenzsituationen. Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, 1996 in: Deutsches Institut für Fernstudien, Funkkolleg Altern Studienbrief 3 Studieneinheit 9 S. 1-48
- Strittmatter, Peter/Niegemann, Helmut, Lehren und Lernen mit Medien, 2000
- Warns, Else Natalie/Fallner, Heinrich, (Hg.), Bibliodrama als Prozess, Band 1, 2.Aufl., 1999
Der Künstler Carl Meyer-Arnek
- 1920 geboren in Bremen
- 1939 Studienbeginn, Soldat, Kriegsgefangenschaft
- 1952-1954 Hospitant an der Staatlichen Kunstschule Bremen
- 1969, 1971 und 1977 Auszeichnungen in Polen
- 1984 Auszeichnung in Bulgarien
- 1985 Erwähnung (mit Abbildungen) im französischen Lexikon "Dictionnaire de la Peinture Moderne" Hazan Editeur
- Carl Meyer-Arnek lebt heute in Oyten bei Bremen
Ausstellungen
Bremen, Hildesheim, Mainz, Warschau, Kopenhagen, Danzig, Oberhausen, Nürnberg, Göttingen, Sofia, Reszel/Polen u.a.m.
Studienaufenthalte
Polen, Sowjetunion, Italien, Balkan