Als Kevin nach der OS an das Käthe-Kollwitz-Gymnasium wechselte, lebte er schon seit längerem mit seiner Krebskrankheit; Lehrkräfte und Schüler wussten darum. Kevin ging erstaunlich sicher mit seiner Krankheit um und war durchgehend ein lebensbejahender, fröhlicher Junge, auch zu typisch jungenhaften Späßen aufgelegt. Während seiner Chemotherapiephasen verbrachte er abwechselnd Zeit in der Klinik und zu Hause. Er kümmerte sich selbstständig um die Koordination des Hausunterrichts, den mehrere Lehrkräfte seiner Schule mit dem Ziel erteilten, ihn auf jeden Fall in der ihm bekannten Klassengemeinschaft zu halten. Weil er auch selber Stoff aufarbeitete, war seine glatte Versetzung in die Jahrgangsstufe 9 gar keine Frage. Die persönliche Betreuung und vor allem der Kontakt nach außen wurde neben der Familie besonders von Sascha und einigen Freunden aufrecht erhalten. Wenn er wieder im Klassenrahmen auftauchte, war es so, als habe er mal ein paar Tage oder Wochen wegen einer Erkältung gefehlt. Er wusste, dass alle bereit waren, sich besonders um ihn zu kümmern. Es gab aber ein stillschweigendes Abkommen, dass er signalisieren sollte, wenn er besondere Hilfe brauchte. Dadurch lebte Kevin in der Schule so normal, wie es in einer solchen Situation eben möglich war.
Und dann traf nach den Osterferien 2001 die Nachricht ein, dass auch die Stammzellentherapie nicht mehr geholfen habe und er gestorben sei. Die Betroffenheit bei Freunden, in der Klasse und bei den Lehrkräften war groß.
Während einer gemeinsamen Religionsstunde mit den katholischen Schülern und dem Werte und Normen-Kurs nahmen alle aus Kevins Jahrgang, die es so wollten, in besonderer Weise von ihm Abschied.
Diese wird im Folgenden beschrieben.
Die Unterrichtsstunde
Die Schülerinnen und Schüler nehmen in einem Stuhlkreis Platz. In der Mitte ein Tisch und eine Kerze. In einer kurzen Einführung nimmt der Unterrichtende die unterschiedlichen Verhaltensweisen an der Schule auf. Auch für Erwachsene ist es nicht leicht, mit dieser Situation umzugehen. Die einen flüchten sich ins Alltagsgeschäft, andere weinen. Weder sollten die, die Kevins Tod "geschäftig" zu übergehen scheinen, leichtfertig verurteilt werden, noch dürfen die, die weinen, heimlich belächelt werden.
Der Unterrichtende erzählt von seiner Situation, als ihn die Todesnachricht erreichte: "Als ich das Büro betrat, sagte die Sekretärin: Herr Thomas, ich muss Ihnen eine Mitteilung machen...."
Lehrer bricht ab, schweigt und schreibt unter Beobachtung der Schüler die erste blaue Karte, ohne den Text zu sprechen:
"Ich hab’ erst mal nichts gesagt und innerlich geschluckt."
Die Karte wandert einmal ganz durch den schweigenden Kreis, dazu freie blaue Karten. Jeder, der möchte, schreibt eine Karte. Es wird deutlich gesagt, dass das völlig freiwillig ist, sicher nicht alle schreiben werden, da einige Kevin eigentlich nie mit Bewusstsein erlebt haben, andere eine freundschaftliche Beziehung zu ihm gehabt haben, der eine/die andere sich einfach nicht in der Lage sieht, etwas zu schreiben.
Als die "Lehrerkarte" wieder beim Lehrer ankommt, legt dieser sie neben die Kerze.
Die Schüler legen ihre Karten in den nächsten Minuten dazu.
Überleitung
"Ich habe dann – wie auch ihr – sofort den ganzen Vormittag und auch danach noch meinen Dienst machen müssen, Alltag schieben, aber doch immer wieder an Kevin denken müssen und mir dabei Fragen gestellt, unter anderem:
"Hast du dich eigentlich genug um Kevin gekümmert?"
Auch diese Karte wandert mit leeren Karten durch den Kreis und wird dann zusammen mit den entsprechenden Schülerkarten neben die Kerze gelegt.
In einem dritten Schritt werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, sich an eine gute Begegnung mit Kevin zu erinnern:
"Schreibt etwas auf, was ihr mit Kevin erlebt habt und was euch Spaß gemacht hat, schön war. Schreibt die Karte zweimal. Einmal für euch als Erinnerung, einmal legt ihr sie zur Kerze."
Aus diesen Karten entstand dann ein Brief an Kevins Familie.
Im September wäre Kevin 16 geworden. Wie kann in dieser Situation Trauerarbeit geleistet werden? Wir haben uns auf dem Friedhof verabredet: die Familie, Freunde aus der Krebs-Selbsthilfegruppe, Schüler und Lehrer kamen zum Grab und brachten Blumen und andere "Geschenke" mit, z. B. eine dunkelrote Rose oder einen Teddy. Besonders wichtig für alle waren die vielen bunten Luftballons, teilweise mit aufgemalten Herzen oder mit einem persönlichen Wunsch. Auf Verabredung stiegen sie alle auf und anschließend sangen wir gemeinsam ganz leise "Happy birthday, dear Kevin". So konnte dieses besondere Gedenken von allen im Alter von 8 bis 70 verkraftet werden, ohne die Würde des Friedhofs zu verletzen. Kevins Mutter sagte uns später: "Wenn wir das nicht so gemacht hätten ... ich weiß nicht, wie ich diesen Tag hätte überstehen sollen."
Was wir aus dieser Situation mitgenommen haben
Jugendliche brauchen mehr Freiraum als sonst üblich, um mit solch extremen Situationen umgehen zu können. Sie gehen mit diesem Freiraum verantwortungsbewusster um, als viele von uns es ihnen zutrauen.
Sie wollen und müssen als "gleichrangige" Gesprächspartner ernst genommen werden und Gelegenheit zum Gespräch erhalten.
Wenn sie so nicht nur akzeptiert werden, sondern ihre stillen oder offen ausgesprochenen Bitten um Hilfe in Partnerschaft aufgegriffen, besprochen, überlegt – nicht jedoch fix vom Erwachsenen entschieden – werden, verändert sich das Verhältnis, auch für die Zukunft. Der Erwachsene ist nicht mehr (nur) Lehrer oder Direktor, sondern vorrangig jemand, mit dem man gemeinsam eine schwere Zeit durchgestanden hat.