Ethische Erziehung in der Pluralität

von Friedrich Schweitzer

 

Häufig findet sich an verschiedensten Orten eine Einschätzung der gegenwärtigen Situation, der ich voll und ganz zustimmen kann: "Während die einen eine werteorientierte Erziehung, gar eine neue Tugenderziehung in der Schule fordern, warnen die anderen vor einer pädagogischen Selbstüberschätzung angesichts einer sich zunehmend pluralvisierenden Gesellschaft und den geringen Möglichkeiten der Schule, verbindliche Wertmaßstäbe zu formulieren". Auf diese Spannung will ich mich beziehen. Auch in meiner Sicht ist vor einer Überforderung von Schule und Religionsunterricht zu warnen. Zugleich wird sich aber auch zeigen, dass ethische Erziehung eine unausweichliche Aufgabe von Schule und Religionsunterricht darstellt. –In einem zweiten Schritt werde ich dann versuchen, Pluralität als Grenze sowie als Herausforderung für ethische Erziehung zu begreifen. In einem dritten Schritt soll es um die Frage verbindlicher Normen in der Pluralität gehen, um von dort schließlich noch einige Perspektiven für den Religionsunterricht und seine Weiterentwicklung anzureißen.

1. Schule und Religionsunterricht zwischen Überforderung und unausweichlichen Aufgaben: Der Ruf nach ethischer Erziehung in der Schule

Die öffentliche Bildungsdiskussion der 90er Jahre, wie sie in Stellungnahmen von Politiker und Politikerinnen, in den Medien oder in der populären pädagogischen Literatur zum Ausdruck kommt, ist in der Wahrnehmung von Schule eigentümlich gespalten. Grundsätzliche Zweifel an der Schule stehen neben geradezu überschäumenden Erwartungen, pädagogischer Pessimismus steht neben Fantasien des Machens und der Machbarkeit. Allgemein ist fest zu halten, dass die Kritik an der Schule zunimmt, während gleichzeitig die Erwartungen an Schule steigen – eine wahrhaft paradoxe Situation.

Paradox jedenfalls ist eine Argumentation, der zufolge die Schule einerseits als Ursache des Fehlens von Werten anzusehen sei, andererseits aber gerade von der Schule die Behebung solcher Defizite erwartet wird. Und genau diese Argumentation ist heute vielfach zu beobachten:

  • Angesichts von Gewalt in der Gesellschaft wird der Schule vorgehalten, sie hätte entsprechenden Tendenzen bei Jugendlichen eben nicht gewehrt und sei nicht rechtzeitig eingeschritten; zugleich aber soll die Schule dafür sorgen, dass Gewalt für die Gesellschaft künftig kein Problem mehr sei.

  • Oder: Der Schule wird vorgehalten, dass sie Kinder unter Berufung auf die Demokratie viel zu früh zu Selbstständigkeit und eigener Entscheidung erziehen wolle; zugleich aber wird von der Schule erwartet, dass sie mit entsprechenden Programmen die allgemeine Politikverdrossenheit in der Gesellschaft überwinden möge.

  • Oder: Schon seit 20 Jahren wird der Schule und insbesondere dem Religionsunterricht immer wieder vorgeworfen, sie vernachlässigten die Bildung von Charakter und Tugend und gäben die traditionellen Werte preis; zugleich aber wird erwartet, dass Schule und Religionsunterricht den – wie es heißt – Werteverfall in der Gesellschaft aufhalten oder sogar umkehren könnten.

Die Spannung zwischen öffentlicher Schulverdrossenheit einerseits und immer höheren Erwartungen andererseits hat natürlich auch sehr konkrete Folgen. Dem nachlassenden Vertrauen in die Schule entspricht in den letzten Jahren der deutliche Rückgang von Investitionen im Bildungsbereich. Reformen sollen, bitte schön, kostenneutral sein! Und während die Erwartungen an die Schule wachsen, werden zugleich die Deputate erhöht, werden die Klassen vergrößert und werden erzieherisch wertvolle Zusatzangebote eingeschränkt.

Bei einer Tagung über ethische Erziehung darf auch nicht verschwiegen werden, dass wir in der öffentlichen Schuldiskussion häufig einem gefährlichen Delegationsmuster begegnen – einem Muster, das zwar nicht neu, pädagogisch aber immer wieder zu problematisieren ist: die Delegation gesellschaftlicher Probleme an Pädagogik und Schule. Wo immer in der Gesellschaft Probleme auftreten – sei es von Gewalt, Politikverdrossenheit oder fehlenden Werten -, immer soll die Schule für eine Lösung solcher Probleme sorgen. Die Rückfrage ist hier angebracht: Wie geht die Gesellschaft im Ganzen mit solchen Problemen um? Was kann die Politik zu ihrer Lösung beitragen? Und wie steht es mit der Unterstützung für die sog. Wertefächer, zu denen auch der Religionsunterricht zählt?

Es ist verständlich, wenn Pädagogen in dieser Situation zunehmend für eine neue Bescheidenheit de Schule plädieren. Rückbau der Schule auf Unterricht – so etwa lässt sich die Antwort des Göttinger Pädagogen Hermann Giesecke auf die Frage, wozu die Schule da sein, zusammenfassen. Mit sozialpädagogischen Aufgaben überfordere die Schule bloß sich selber.

Ein solcher Rückzug von der ethischen Erziehung bleibt aber notwendig eine Scheinlösung – sowohl von der Schule im Ganzen her wie vom Religionsunterricht im Besonderen. Angesichts der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft kann Schule sich nicht ernsthaft davon dispensieren wollen, auch Aufgaben ethischer Erziehung wahrzunehmen – sie ließe sonst die Kinder und Jugendlichen mit ihren Orientierungsproblemen schlicht allein. Ohne ethische Orientierung kann eine Gesellschaft nicht überleben, und es ist heute nicht zu erkennen, woher eine solche Orientierung kommen sollte, wenn die Schule an deren Aufbau nicht zumindest mitwirken würde. – Im Blick auf die Tradition des evangelischen Bildungsdenkens ist dies noch schärfer zu formulieren: In der gesamten evangelischen Tradition, angefangen bei Martin Luther selbst über Friedrich Schleiermacher bis hin zur Religionspädagogik in der Gegenwart stehen stets zwei Aufgaben im Zentrum: zum einen natürlich die christliche Überlieferung im Sinne des Evangeliums, zum anderen aber auch ein Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit – pax et iustita, oder, wie Schleiermacher es später ausdrückt, zur Bildung der ethischen "Gesinnung" in der Gesellschaft.

So stehen wir vor der spannungsvollen Aufgabe, einerseits mit allem Nachdruck vor der nahe liegenden Überforderung der Schule zu warnen, andererseits aber auch darauf hinzuweisen, dass ethische Erziehung eine unausweichliche Aufgabe für Schule und Religionsunterricht darstellt. Aus einer etwas veränderten Perspektive könnte man auch sagen: Wie auch immer Schule und Religionsunterricht zur Forderung nach ethischer Erziehung verhalten – vermeiden können sie eine entsprechende Erziehungswirkung nicht. Denn selbst dann, wenn sie bewusst auf ethische Erziehung verzichten und wenn sie alle entsprechenden Fragen im Unterricht ausblenden, ist auch dies eine Stellungnahme zur Bedeutsamkeit ethischer Fragen bzw. zu deren Beliebigkeit.

Wenn es heute für Schule und Religionsunterricht so schwer fällt, ethische Erziehung zu betreiben, hat dies insbesondere mit der Erfahrung von Pluralität zu tun. Nach dieser Erfahrung ist jetzt zu fragen.

2. Pluralität als Grenze und Herausforderung für ethische Erziehung im Religionsunterricht

Zunächst scheint es mir an dieser Stelle hilfreich, eine terminologische Unterscheidung einzuführen: Von Pluralität spreche ich im Sinne einer ungeordneten Vielfalt, insbesondere, aber keineswegs ausschließlich bei ethischen und religiösen Orientierungen. Pluralisierung beschreibt hingegen den Prozess, der im Ergebnis zu einem wachsenden Maß an Pluralität führt. Der häufig sinngleich mit Pluralität verwendete Begriff Pluralismus aber soll streng von diesem unterschieden werden: Pluralismus bezeichnet den geordneten Umgang mit Pluralität, so wie dies auch bei der Rede vom "politischen Pluralismus" der Fall ist. So gesehen ist Pluralität eine für unsere Gegenwart unausweichliche Gegebenheit, während Pluralismus eine politische, aber eben auch pädagogische Herausforderung und Aufgabe bezeichnet.

Für ein genaueres Verständnis der Situation von Pluralität scheint es mir sodann hilfreich, zwischen mindestens drei unterschiedlichen Formen der Pluralisierung zu unterscheiden:

  • Erstens ist auf die gesellschaftliche Pluralisierung hinzuweisen, die aus Prozessen der gesellschaftlichen Differenzierung, Individualisierung und Privatisierung erwächst. Wie in so gut wie allen Theorien der gesellschaftlichen Modernisierung oder neuerdings der Globalisierung hervorgehoben wird, stellt die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Lebensbereiche im Sinne einer wachsenden Vielfalt von Lebenswelten und Funktionssystemen ein zentrales Merkmal der gesellschaftlichen Entwicklung in unserer Gegenart dar. Die Bereiche von Recht und Politik, Bildung und Ökonomie, Religion und Gesundheit usw. werden zu spezialisierten Systemen, die jeweils ihrer eigenen Logik folgen. Dieser Differenzierungsprozess setzt eine Dynamik der Pluralisierung frei, noch ganz unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen, aber natürlich nicht ohne gravierende Folgen auch für diese. Der gesellschaftliche Pluralisierungsprozess ist als Grundlage und Horizont auch der religiösen Pluralisierung anzusehen.

  • Dennoch ist es hilfreich, als zweite Form eigens die religiöse Pluralisierung hervorzuheben, und zwar zunächst als eine Erscheinung innerhalb des Christentums oder innerhalb der evangelischen Kirche selbst. Diese Pluralisierung ist als das neuzeitliche Auseinandertreten von kirchlichem, gesellschaftlichem und individuellem Christentum beschrieben worden, so vor allem D. Rössler. Heute belegen die Umfragen und Kirchenmitgliedschaftsstudien das hohe Maß an Individualisierung auch innerhalb der Kirche.

  • Drittens kommt dazu noch die mit der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft verbundene Pluralisierung im Sinne einer zunehmend vielfältigen Präsenz zahlreicher Religionsgemeinschaften, die sich immer weniger als Minderheitenreligionen abtun lassen. Der Islam in Deutschland bezeichnet sich selbst nicht ohne Grund als drittgrößte Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik.

Es kann nun nicht überraschen, dass diese dreifache Pluralität zunächst und vor allem als Grenze für ethische Erziehung insbesondere im evangelischen oder überhaupt konfessionellen Religionsunterricht erfahren wird, nicht weniger dann aber auch für ethische Erziehung in der Schule insgesamt. Pluralität bedeutet, wie etwa die Wissenssoziologie herausgearbeitet hat, eine grundlegende Relativierung religiöser Überzeugungen, und zwar einschließlich der in ihnen enthaltenen bzw. von ihnen vertretenen ethischen Normen. Angesichts der Erfahrung von Pluralität – "dass alles immer auch anders geht oder anders sein kann" – werden aus verbindlichen Vorgaben der Tradition auch schon für die Kinder und Jugendlichen bloße Optionen, die man aufnehmen, die man aber auch übergehen kann. Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Überlieferungen oder um einzelne Normen – es geht vielmehr darum, dass die gesamte Überlieferung in den Modus einer Option transformiert wird.

Zu dieser grundlegenden Herausforderung hinsichtlich der Geltungsansprüche verbindlicher Normen kommt die ebenfalls als Folge der Pluralisierung zu bezeichnende Differenz zwischen Schule und Elternhäusern, die auch die normative Dimension einschließt. Es kann schon lange nicht mehr vorausgesetzt werden, dass so etwas wie eine selbstverständliche Übereinkunft auch nur im Blick auf einen Kernbestand an Normen zwischen Elternhaus und Schule besteht. Dies mag zunächst überspitzt klingen, wird aber dann sofort einsichtig, wenn wir bei Normen nicht nur beispielsweise an abstrakt formulierte Grund- oder Menschenrechte denken, sondern an deren konkrete Auslegung im Alltag des Lebens. Hier ist die Vielfalt unübersehbar. Darauf komme ich im nächsten Abschnitt noch einmal zurück.

Zunächst nenne ich noch eine dritte Hinsicht, in der die Pluralität als Grenze für ethische Erziehung erfahren werden kann und häufig auch tatsächlich erfahren wird: die Pluralität im Lehrerkollegium an der eigenen Schule. Erziehen fällt schwer oder wird unmöglich, wenn die Erziehungsziele und normativen Orientierungen von Schulstunde zu Schulstunde wechseln, wie dies häufig von Kolleginnen und Kollegen beobachtet und beklagt wird. Nicht nur von Familie zu Familie, sondern auch von Lehrer zu Lehrer scheinen heute jeweils andere Maßstäbe zu gelten. Das beginnt bei den einfachen Dingen des Alltags: Was und wann dürfen Kinder essen? Und es geht natürlich auch dort weiter, wo es um übergreifende Lebensorientierungen geht: Was ist wichtig im Leben – Arbeit oder Freizeit, Sparsamkeit oder Konsum, Selbstverwirklichung oder Verantwortung für andere? Auch vor Religion und Glaube macht die Pluralität im Kollegium nicht Halt: Auch hier stehen jetzt nicht mehr bloß die christlichen Konfessionen einander gegenüber, sondern auch unterschiedliche Religionen oder eben auch gar keine Religionszugehörigkeit.

Nun ist gewiss richtig, dass die Erfahrung der Pluralität denn Kindern und Jugendlichen die Orientierung schwer macht und dass ein Teil von ihnen unter der Pluralität leidet, weil sie beispielsweise durch Wahlzwänge überfordert sind. Dennoch wäre es m.E. verfehlt, die Pluralität und ihre Folgen für ethische Erziehung lediglich zu beklagen. Denn fest zu halten ist doch auch, dass erst Pluralität Bildung möglich macht. Nur dort, wo verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl stehen, wo der Lebensweg nicht schon durch die Geburt ein für allemal feststeht, wird Bildung notwendig und möglich zugleich. Dies entspricht einem Gewinn an Freiheit für jeden einzelnen, auch in religiöser Hinsicht: Angesichts der Pluralität stellt sich die Frage des Glaubens verstärkt als bewusste Wahl, zumindest insofern, als eine selbstverständliche Hinnahme und Anpassung an das, was alle glauben oder eben alle erwarten, gar nicht mehr möglich sind (dass diese Wahl vielfach dennoch nicht bewusst vollzogen wird, ändert prinzipiell nichts an dieser Situation, verweist aber auf Probleme im Umgang mit Pluralität).

Zugespitzt kann am Ende dieses Abschnitts die These formuliert werden, dass Pluralität zugleich die ethische Erziehung begrenzt, sie aber – als Bildung – allererst ermöglicht und schließlich – angesichts wachsender Orientierungsprobleme – notwendig werden lässt. Die damit beschriebene Situation ist spannungsvoll – insbesondere, weil aus dem bislang Gesagten noch nicht deutlich ist, wie denn nun eine ethische Erziehung in der Pluralität aussehen soll. Diese Frage nehme ich nun in einem dritten Schritt unter dem Aspekt verbindlicher Normen in der Pluralität auf, eben weil die Frage der Verbindlichkeit von Normen ein bleibendes Grundproblem ethischer Erziehung in der Pluralität darstellt.

3. Zur Frage verbindlicher Normen in der Pluralität

In der Frage nach verbindlichen, und das heißt hier: allgemein verbindlichen Normen in der Pluralität begegnen wir, wie gesagt, einem Zentralproblem ethischer Erziehung in der Pluralität. Im Folgenden möchte ich idealtypisch drei Modelle diskutieren, die heute in der Absicht vertreten werden, eine Antwort auf die Normenfrage in der Pädagogik zu finden. Alle drei beziehen sich auf den Religionsunterricht, begreifen aber auch die Schule oder die Erziehung im Ganzen mit ein.

Das erste Modell bezeichne ich als christliche Gemeinschaftsethik, eben weil hier die christliche Ethik zur Grundlage einer Gemeinschaft gemacht werden soll. Wir finden dieses Modell in verschiedenen Varianten vor. In gewisser Weise war dieses Modell in der Vergangenheit in Deutschland oder überhaupt in zahlreichen Ländern der westlichen Welt für die Schule maßgeblich. Schulische Erziehung wurde im Sinne der christlichen Ethik verstanden, wie es bis heute darin zum Ausdruck kommt, dass staatliche Schulen rechtlich weithin als "christliche Gemeinschaftsschulen" verfasst sind. Diese Verfasstheit war jedoch nur solange plausibel und praktikabel, als noch nicht wirklich von einer religiösen oder weltanschaulichen Pluralität in der Gesellschaft auszugehen war.

In einer zweiten Gestalt begegnet uns das Modell einer christlichen Gemeinschaftsethik dann bereits unter den Voraussetzungen der Pluralität – und damit als Programm einer für alle wieder durchzusetzenden Bindung an Werte und Tugenden. Als Beispiel hierfür kann das berühmtberüchtigte "Forum Mut zur Erziehung" in der zweiten Hälfte der 70er Jahre genannt werden. Leitend war bei allen Versuchen, die aus diesem Forum hervorgingen oder sich ihm später anschlossen, immer wieder die Vorstellung, dass eine im Wesentlichen aus der christlichen Tradition erwachsende Wertorientierung die Grundlage für die Gemeinschaft in Volk oder Staat bilden müsse. Die Schule habe deshalb den Auftrag, dieses Fundament zu erneuern. – Von ethischer Erziehung kann dabei im Übrigen nur ansatzweise gesprochen werden, weil weniger eine ethische Urteilsfähigkeit im Zentrum stand als vielmehr die Anpassung an die gesellschaftliche Ordnung und die Befestigung von Tugenden und Werten.

Die allgemeine Durchsetzbarkeit solcher, zumindest als christlich beschriebener Werte und Tugenden ist heute selbst denen fraglich geworden, die sie vor zwanzig Jahren noch aufs Panier geschrieben hatten. Offenbar ist die Pluralität inzwischen so stark geworden, dass eine allgemeine Durchsetzung einer christlichen Gemeinschaftsethik nicht mehr in Frage kommt. An deren Stelle tritt nun – vor allem in den USA, aber mit zunehmendem Interesse auch in Deutschland – eine Spielart des Kommunitarismus, die ganz auf eine solche Gemeinschaftsethik setzt. Bezeichnend sind hier die Ausführungen des amerikanischen Soziologen und Kommunitaristen A. Etzioni, der eine Schule der "Charakterbildung" empfiehlt. Diese Schule soll die "zentralen Werte" der "Gemeinschaft" vermitteln. Das Problem dieser kommunitaristisch angestrebten "zentralen Werte" der "Gemeinschaft" liegt freilich darin, dass es in der gegenwärtigen Gesellschaft solche Werte eben nur noch in kleinen Gemeinschaften geben kann. Die deutlich unterhalb der gesamtgesellschaftlichen Ebene liegen. Werden solche Werte für die staatliche Schule beschworen, führt dies nur zu leerem Pathos; und wo die entsprechenden Werte nur für die eigenen begrenzte Gemeinschaft gelten sollen, fallen sie hinter die ungelösten Probleme des Lebens und Überlebens im Weltmaßstab weit zurück.

Bemerkenswerterweise hat die Vorstellung einer solchen, auf die eigene Gemeinschaft begrenzten christlichen Gemeinschaftsethik gerade in theologischen Kreisen zunehmend an Zustimmung gewonnen. Ich denke hier etwa an die Auffassungen des amerikanischen Theologen S. Hauerwas, der die Zukunft von Christentum und Kirche gerade in solchen durch eine Gemeinschaftsethik bestimmten Formen von Kirche sehen möchte.

Abgesehen davon, dass auch für eine solche, vor allem nach innen gewendete christliche Gemeinschaftsethik gilt, das sie hinter die ethischen Herausforderungen unserer Zeit zurückfällt, sind hier auch prinzipielle Einwände hinsichtlich der Eigenart christliche Ethik anzumelden.

Wenn es zutrifft, dass christliche Ethik prinzipiell eine Ethik der Freiheit und des Dialogs mit dem anderen ist, dann kann sie nicht einfach als eine (binnen-) christliche Gemeinschaftsethik konzipiert werden. Deshalb finden wir hier auch keine befriedigende Grundlage für ethische Erziehung im Religionsunterricht.

Damit kommt ich zu dem zweiten Modell, von dem hier die Rede sein soll. Dieses Modell steht umgekehrt im Zeiten einer universalistischen Ethik. Ihre auch international im stärksten beachtete Ausformulierung hat diese Ethik in den Schriften von J. Habermas aus den 80er Jahren gefunden. Der von Habermas für das Normenproblem in multikulturellen Gesellschaften favorisierte Lösungsvorschlag verweist bekanntlich auf den von ihm so genannten "Verfassungspatriotismus", der auch als Ziel der Moralerziehung zu verstehen ist. In dieser Hinsicht ist entscheidend, wie Habermas das Verhältnis der Kulturen auf der einen und der staatlichen Integration auf der anderen Seite fassen möchte. Demzufolge ist es für eine moderne freiheitliche Demokratie bezeichnend, dass diese Kulturen innerhalb des Staates und die staatliche Politik stärker auseinander treten, als dies in den Nationalstaaten der Vergangenheit der Fall war. Nach innen ist der moderne Nationalstaat ein plurales Gebilde: Verschiedene, aber gleichberechtigt koexistierende Lebensformen treten hervor, und im Sinne der Freiheit ist dies unbedingt zu bejahen. Zugleich aber werden die "Identifikationen mit eigenen Lebensformen und Überlieferungen überlagert von einem abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze einer Nation" beziehe, sondern auf "abstrakte Verfahren und Prinzipien". Gemeint ist eine universalistische Moral im Sinne der Menschenrechte.

Die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft und einer entsprechenden ethischen Erziehung wird hier also so ausgelegt, dass das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen mit ihren je eigenen Traditionen, religiösen Überzeugungen und Lebensformen möglich werde durch die gemeinsame Anerkennung eines übergeordneten Rahmens, und dieser Rahmen sei durch universelle Normen bestimmt. Einfacher ausgedrückt: Im Rahmen der von allen anzuerkennenden allgemeinen Menschen – oder Grundrechte und der Regeln der Demokratie soll eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen friedlich koexistieren.

Auch gegen dieses Modell erheben sich in meiner Sicht weit reichende Einwände, sowohl im Blick auf das implizierte Verständnis von Ethik als auch im Blick auf pädagogisches Handeln. Zugespitzt betreffen diese Anwände drei Aspekte:

  • Erstens ist die Annahme, dass es einen von den verschiedenen Kulturen und Religionen in der Gesellschaft gleichermaßen zu bejahenden allgemeinen normativen Rahmen einer universalistischen Ethik geben könne, m.E. nicht sehr plausibel. Auch die Menschenrechte und noch vielmehr ihre Auslegung sind zwischen den Kulturen und Religion umstritten – bis hin zu der Tatsache, dass aus verschiedenen Kulturbereichen inzwischen konkurrierende Formulierungen für Menschenrechtskataloge vorgelegt worden sind (z. B. islamische Menschenrechtserklärung vs. sog. allgemeine Menschenrechte). Eine von Konsens getragene universalistische Ethik ist ein Postulat, keine Realität.

  • Zweitens wäre selbst dann, wenn es eine solche zustimmungsfähig universalistische Ethik als normativen Rahmen für die multikulturelle Gesellschaft geben könnte, durchaus auch weiterhin fraglich, woher die Motive für ein entsprechendes Handeln kommen sollen, wenn und solange eine solche Ethik sich vollkommen von allen konkreten Lebensformen und religiösen Traditionen ablösen will.

  • Und drittens steht die Pädagogik bei einer universalistischen Ethik immer vor dem Problem, dass eine solche Ethik in konkrete Vollzüge des Handelns und Lebens mit Kindern und Jugendlichen übersetzt werden muss und dabei ihren universalitsitschen Charakter tendenziell verliert. Die Auslegungen von Menschenrechte ist, jedenfalls in der Pädagogik, immer nur im Zusammenhang bestimmter Lebensformen der Gesellschaft oder der Schule möglich.

Was aber bleibt dann übrig? Welche Alternativen sind zu sehen, wenn weder eine christliche Gemeinschaftsethik noch ein ethischer Universalismus eine überzeugende Lösung für das Normenproblem in der Pluralität geben können? M.E. muss die Antwort an dieser Stelle zumindest ein Stück weit aporetisch bleiben. Angesichts der beschriebenen Problemlage verbietet sich die Flucht in einfache Modellvorstellungen. Was bleibt, ist ein Weg gleichsam zwischen christlicher Gemeinschaftsethik einerseits und universalistischer Ethik andererseits. Ich spreche von einer (partiellen) Verständigung in der Pluralität. Zumindest einige Konturen in Form von vier Markmalen lassen sich jedoch angeben:

  • Erstens ist dieses Modell prinzipiell auf Pluralität eingestellt, d.h. es geht davon aus, dass Pluralität niemals ganz überwunden und auch nur in vorläufiger Form und immer wieder in Pluralismus überführt werden kann.

  • Zweitens rechnet es immer mit nur partieller Verständigung, nie mit vollständigem Konsens, wie dies bei universalistischen Vorstellungen der Fall ist. Die Vision ist eher die eines zwar nur begrenzt, aber darin doch in lohnender Weise gelingenden gemeinsamen Lebens. Pate für eine solche Vorstellung können heute Philosophen wie M. Walzer oder Ch. Taylor stehen, die sich für eine Ethik der partiellen Verständigung setzen.

  • Drittens erfolgt Verständigung hier nicht jenseits der Religionen und Weltanschauungen, sondern auf der Ebene des Gesprächs zwischen den Religionen selbst sowie im Dialog mit nicht-religiösen Positionen.

  • Viertens schließlich lässt sich dieses Modell von der Vorstellung einer zivilgesellschaftlichen Demokratie leiten, der zufolge die demokratische Qualität einer Gesellschaft von der Existenz nicht-staatlicher Vereinigungen und Institutionen neben dem Staat und im Gegenüber zu diesem abhängig ist. Ein höheres Maß an Demokratie ist demnach nicht durch eine Ausweitung des Bereichs staatlicher Neutralität u.a. auf Kosten des Einflusses von Religionsgemeinschaften zu erreichen, sondern umgekehrt gerade durch die Stärkung zivilgesellschaftlicher Vereinigungen u.a. durch Pädagogik und Schule.

4. Ausblick: Perspektiven für ethische Erziehung im Religionsunterricht

Aus dem Gesagten ergibt sich zunächst übergreifend und programmatisch die Rückfrage an mein Vortragsthema, ob nicht angemessener von "ethischer Bildung" als von "ethischer Erziehung" zu reden wäre. Auch bei dem von G. Adam und mir herausgegebenen Band sind wir zwar bei dem Titel "Ethisch erziehen in der Schule" geblieben. Gleich zu Beginn der Einführung weisen wir jedoch darauf hin, dass dieser Titel nicht "im Sinne von Erziehung als Anpassung, Eingliederung, Prägung, Festlegung auf gesellschaftliche Konventionen oder gar Indoktrination verstanden werden" soll. Wie auch immer wir uns in der terminologischen Frage entscheiden – deutlich muss sein, dass ethische Erziehung heute so ausgelegt werden muss, dass sie Bildung einschließt, d. h. dass sie auf ethische Urteilsfähigkeit und Mündigkeit angelegt ist. Die bloße Übermittlung eines Regelwissens reicht nicht hin, um den Herausforderungen in der Pluralität gerecht zu werden.

Dies will ich zum Schluss in sechs knappen Punkten zumindest andeutungsweise konkretisieren. Meine ersten beiden Punkte betreffen dabei die didaktische Konzeption:

  • Erstens braucht der Religionsunterricht eine prinzipiell auf Pluralität eingestellte Didaktik, auch hinsichtlich der ethischen Erziehung. Bislang rechnet die Religionsdidaktik, insbesondere in Lehrplänen und Richtlinien, m.E. nicht ausreichend mit Dissens und Pluralität. Statt dessen wird in vieler Hinsicht noch immer ein Konsens mit den Schülerinnen und Schülern über die grundsätzliche Geltung christlicher Normen und Werte vorausgesetzt – als eine dem Unterricht bereits vorgegebene Bedingung. Diese kritische Beobachtung bezieht sich insbesondere auf einen Typus von Unterrichtsmodellen, der vorzugsweise die Konsequenzen aus christlichen Werten für bestimmte Problembereiche wie den Umgang mit der sog. Dritten Welt oder Gentechnologie zum Thema macht. Unerörtert bleiben dabei weithin die vorausgesetzten Normen, die für die Kinder und Jugendlichen aber, wie wir gesehen haben, nur Optionen darstellen.

  • Zweitens ergibt sich aus der Situation der Pluralität, dass Religionsunterricht als Einführung bloß in die christliche Tradition oder als Vertraut machen mit christlichen Normen und Werten nicht mehr zureichen kann. In jedem Falle gehört zum Religionsunterricht in der Pluralität auch die Aufnahme von alternativen Sichtweisen, die eigens erörtert und deren Verhältnis zum Christentum thematisiert werden muss.

Meine nächsten beiden Punkte betreffen die inhaltliche Seite des Religionsunterrichts:

  • Drittens entspricht es der Suche nach partieller Verständigung, wie sie oben beschrieben wurde, dass ethische Fragen in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Religionen, Weltanschauungen und – ihrem Selbstverständnis nach – religionslosen säkularen Auffassungen behandelt werden. Plausibilität können christliche Normen und Werte nur noch dann gewinnen, wenn sich entweder ihre Bedeutung für ein mit anderen geteiltes Ethos aufzeigen oder aber, wo dies nicht der Fall ist, ihre Differenz gegenüber ethischen Orientierungen anderer Art in begründeter Form ausweisen lässt. Ein solcher Unterricht kann dann auch als ausdrücklicher Beitrag zu Pluralitätsfähigkeit bezeichnet werden. Insbesondere trägt er bei zu einer Gesprächsfähigkeit in ethischen Fragen zwischen den Religionen und Weltanschauungen.

  • Viertens darf der Religionsunterricht eine zivilgesellschaftliche Demokratie nicht nur konzeptionell und für seine eigene Begründung voraussetzen, er muss sie vielmehr auch mit den Schülerinnen und Schülern selbst zum Thema machen.

Meine letzten beiden Punkte betreffen die Schule sowie die institutionelle Verankerung von ethischer Erziehung im Religionsunterricht innerhalb der Schule:

  • Aus dem Gesagten ergibt sich, fünftens, dass fächerübergreifender Unterricht nicht nur angesichts der Komplexität ethischer Probleme geboten ist, sondern auch auf Grund der konzeptionellen Ausrichtung von ethischer Erziehung im Religionsunterricht. Gesprächsfähigkeit beginnt in der Schule im Dialog mit anderen Fächern sowie mit Personen, die sich selbst nicht der Kirche und vielleicht auch nicht dem Christentum zurechnen.

  • Sechstens schließlich besitzt die gesellschaftliche Situation der Pluralität in der Schule selbst insofern eine direkte Entsprechung, als eine wesentliche Voraussetzung für ethische Erziehung in der Schule im sog. Schulethos – dem gemeinsamen Ethos eines Kollegiums – besteht. Ob ein solches – tendenziell - gemeinsames Ethos heute noch möglich ist, kann gleichsam zur Probe werden auf die Plausibilität des Modells partieller Verständigung in der Pluralität.

Zum Schluss möchte ich zunächst offen aussprechen, was meinen Ausführungen gewiss abzuspüren ist – dass ich mich mit Nachdruck für eine verstärkte Wahrnehmung ethischer Erziehung im Religionsunterricht einsetze. Ich möchte dies jedoch nicht ohne Einschränkung tun und schließe deshalb mit dem Hinweis, dass sich der Religionsunterricht keinesfalls auf eine Legitimation allein durch seinen Beitrag zur ethischen Erziehung in der Schule einlassen sollte. Wo Religionsunterricht mit ethischer Erziehung gleichgesetzt wird, lässt sich kaum mehr sagen, was ihn vom Ethikunterricht oder von LER unterscheidet. Wenn der Religionsunterricht auf Dauer lebensfähig bleiben soll, braucht er eine eigene Identität, und diese Identität geht über den ethischen Bereich hinaus. Die Identität des Religionsunterrichts wird durch seinen Bezug auf den christlichen Glauben und auf die Gottesfrage begründet, und nach evangelischem Verständnis schließt der Glaube zwar eine Ethik ein, bleibt ihr aber vorgeordnet.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1999

PDF