'Ich sehe was, was du (noch) nicht siehst'! Kirchenräume: Neue Lern- und Erfahrungswelten für Kindergartenkinder

von Sabine Schommatz

 

Die Projektwoche des Kirchenkreises Sarstedt, zur Vernetzung von Schule und Gemeinde, war wie jedes Jahr wieder Anlass, sich mit einer neuen Thematik auseinander zusetzen. Erzieherinnen aus den ev. Kindergärten, Pastoren und Lehrerinnen erarbeiten sich in Loccum ein Thema, um es dann in ihren jeweiligen Praxisstätten mit Kindern /Konfirmanden/Schülern umzusetzen.

In einer festgelegten Woche haben dann alle Mitwirkenden die Möglichkeit, in den anderen rel.-päd. Arbeitsfeldern zu hospitieren und zu erleben, wie dieses gemeinsame Thema mit Menschen verschiedener Altersgruppen erarbeitet werden kann.

Für dieses Jahr einigten wir uns auf das Thema:

"Kirchen(t)raum-Alte Räume neu erleben"

Zusammen mit Frau Lucke vom RPI und Frau Kürschner, Kirchenpädagogin der Marktkirche Hannover, hat unsere theoretische und praktische Auseinandersetzung vorwiegend in der Loccumer Klosterkirche stattgefunden:

wir haben sie mit allen Sinnen erlebt: mit den Augen, den Ohren, den Händen, den Füßen, der Nase und dem Mund.

Nach diesen Tagen hatten wir insgesamt ein anderes Gefühl, eine andere Einstellung zu dieser Kirche, es entwickelte sich sozusagen ein heimatliches Gefühl.

"Kinder lernen Religion nicht hauptsächlich als Lehre,
sondern als eine Art Heimatgefühl, das sie mit bestimmten
Zeiten und Rhythmen, mit Orten und mit Ritualen verbinden. 
Sie lernen Religion also von außen nach innen." 
(Fulbert Steffensky)

Was ich selbst in der Loccumer Kirche erfahren habe, lässt mich Parallelen zum Lernen unserer Kinder ziehen:

Es ist keine Kirchenführung im herkömmlichen Sinne, die üblicherweise das Gehörte und Gesehene und den Austausch von Fakten und Jahreszahlen in den Mittelpunkt stellt. Um auch Kindern diese neue Art des Zugangs zu ermöglichen, sollten auch sie den Raum eigenständig für sich erkunden und erleben können. 

Sich selbst ganzheitlich mit allen Sinnen erleben zu können,
ohne dass eine Bewertung der Erwachsenen (richtig oder falsch) geschieht:

Sehen: die Farben, verschiedene Größen, das Licht

Riechen: die Kerzen, den Weihrauch, verschiedene Gerüche
Tasten: verschiedene Materialien und Oberflächen, Angenehmes und Unangenehmes, Kaltes und Warmes, auch mit geschlossenen Augen 

Hören: die Klänge, das Echo, Lautstärken, eigene Schritte, Stille 

Seinen eigenen Körper: gehend (in verschiedenen Gangarten), liegend, sitzend, knieend. Und immer die Zeit zu haben, seinen eigenen Eindrücken und Gefühlen nachzuspüren und mitteilen zu können.

Sich den Raum mit allen Sinnen körperlich anzueignen - ihn sich zu verinnerlichen.

"Wir müssen Körper sehen, umgreifen,
Räume durchschreiten, uns in ihnen drehen, 
uns ihren Spannungszuständen hingeben,
um die Urgründe alles Bannens und Formens zu erfüllen, 
um mit dem Raumerlebnis zugleich die Raumlust zu erfahren."
Otto Bartning. In: Oskar Beyer (Hg.) Hamburg 1954

Sich im Raum bewegen - vielleicht bewegt er dann uns?

In Räumen mit solchen Dimensionen in Ihrer Höhe und Weite - wie sie sonst selten vorzufinden sind - erlebt man sich mit seinem Körper ganz anders und neu.

Dazu trägt auch die verdichtete Atmosphäre dieser Kirchenräume bei. Die dichte Atmosphäre der Gedanken, der Lieder, der Gebete, der Worte und Gefühle, die dort je gesungen, gedacht und gesagt worden sind, beeinflussen das innere Erleben eines Menschen mehr als man glaubt.

Etwas, was einem der Kirchenraum noch bietet und was man sehr gut nutzen kann, ist die STILLE. Wir müssen auch Kindern die Möglichkeit geben, Stille zu erleben (z. B. über Achtsamkeitsübungen, Meditation, oder auch Entspannungsübungen). In solchen Momenten können sie in der Stille Gott begegnen, mit sich eins sein, sich selbst spüren, den eigenen Gedanken nachhängen und/oder es einfach genießen.

"Stille und Ruhe können als Erweiterung 
des eigenen Innenraumes erfahren werden 
und für neue Wahrnehmungen sensibilisieren."

Statt Fakten und Kirchengeschichte (hat bei Nachfragen auch seine Berechtigung, ist aber kein wichtiger Bestandteil) wird die Phantasie angeregt: "Was könnte es sein? Woher könnte es kommen? Erzähl eine Geschichte dazu!"

Die Entstehung eines heimatlichen Gefühls, dass wir bei uns auch bemerkt haben, ist eine wichtige Zielsetzung für Kinder.

Unsere Kindergartenkinder sollen in und zu ihrer Kirche ein Heimatgefühl entwickeln können, sozusagen eine Heimatkirche haben können. Heimat entwickelt sich eben mehr im emotionalen Bereich, denn im kognitiven Bereich.

Kinder sollen sich in ihrer Kirche wohl fühlen, aber auch kritisch sein dürfen: "das mag ich nicht so sehr, das ist mir unangenehm. "Es ist ihre Kirche, in der sie eigene Lebensübergänge erlebt haben (z. B. ihre Taufe) oder noch erleben werden (Schulanfänger-Gottesdienst, die Konfirmation.)

 

PRAXIS

Es gibt keine vorgeschriebene Zeitspanne für das Projektthema "Kirchenpädagogik". Man kann es über mehrere Tage anbieten, so dass sich etwas prozesshaft entwickeln kann, oder auch nur für einen Tag.

Ich möchte Ihnen einmal exemplarisch vorstellen, mit welchen Inhalten wir die Projektwoche gefüllt haben.

Wir haben uns entschlossen, diese Woche für unsere Gruppe der Vorschulkinder anzubieten. Es waren immer ca. 15 Kinder, die wir aus allen Gruppen des Kindergartens zusammengefasst hatten. 

MONTAG:
(im Kindergarten)  

  • Treffen der Gruppe, Anfangslied als Ritual für die Woche ("Lasst uns miteinander"). Vorstellung der Woche und des Themas
  • Einstimmung mit Fotos: auf dem Weg vom Kindergarten zur Kirche wird die Kirche immer größer. Eine Reihenfolge legen
  • Musikinstrumente werden hergestellt in drei Gruppen (Dosen mit Sand = leises Instrument, Stock mit Kronkorken als Rassel = mittlere Lautstärke, Trommeln aus Keksdosen = laut)


DIENStAG:
(in der Kirche)  

  • 8.30 Uhr losgehen, unterwegs frühstücken, jedes Kind hat ein kleines Kissen von zu Hause mitgebracht.
  • 9.30 Uhr in der Kirche: ein ständiger Treffpunkt mit einem Signalton wird in der Kirche festgemacht, Lied
  • Kinder erobern die Kirche
  • Sie nehmen ihre Kissen, suchen sich in der Kirche ihren Lieblingsplatz und werden dort fotografiert
  • Suchspiel mit Fotos aus der Kirche: Wo ist das zu finden?
  • Stilleübung mit einem abschließenden Segenswunsch

 
MITTWOCH:
(in der Kirche)  

  • 8.30 Uhr losgehen, unterwegs frühstücken, Kissen mitnehmen
  • 9.30 Uhr in der Kirche: am Treffpunkt Lied singen, Lieblingsplatz mit Kissen wieder belegen
  • Partnerübung: sich blind führen lassen und Gegenstände ertasten
  • Einsatz von Ferngläsern, Spiegel, Taschenlampen, Fernrohr und Lupen für eine andere optische Wahrnehmung
  • Kreativangebot: aus Fensterfolie gestaltet jedes Kind sein eigenes Kirchenfenster
  • Stilleübung mit Räucherstäbchen-Segenswunsch

 
DONNERSTAG:
(in der Kirche)  

  • 8.30 Uhr losgehen, unterwegs frühstücken, Kissen und die Musikinstrumente mitnehmen
  • 9.30 Uhr in der Kirche: Lied singen, Lieblingsplatz belegen
  •  Einsatz der Instrumente: einzeln, alle gemeinsam, mit oder ohne Lied, alle in der Kirche verteilt, Einsatz nacheinander...
  • Thema: Kerzen in Kirchen, Gespräch, Kerzen für eine bestimmte Person anzuzünden
  • jedes Kind verziert eine kleine Kerze, zündet sie an der Altarkerze an, stellt sie auf den Altar und erzählt, für wen diese Kerze angezündet wird
  • zusammen wird ein Segenswunsch gesprochen

Die Kerzen der Kinder bleiben in der Kirche und werden im nächsten Gottesdienst wieder angezündet. Die große Altarkerze wird mit in den Kindergarten genommen.

 

FREITAG:
(im Kindergarten)

  • Treffen im Gruppenraum mit dem Kissen
  • Altarkerze wird angezündet, das Lied gesungen, Gespräch: was war mir in der Kirche wichtig?
  • im Kindergarten eine "Kirchenecke" gestalten, mit einem Holzkreuz, der Kerze, einem "Glasfenster"
    (die Kinder gaben dieser Ecke den Namen "Jesus-Ecke")
  • Vorstellung der schon vorbereiteten Bilderbücher.

Inhalt: Ein Emmausfoto aus Kirche, Das Foto: mein Lieblingsplatz in der Kirche, ein Kreuz selbst malen, das, was mir in der Kirche am Besten gefallen hat, Kopie des Liedes, einen der Segenswünsche. Das fertige Bilderbuch "Meine Kirche und ich" hat jedes Kind dann mit nach Hause genommen. Auf diese Weise haben wir etwas aus der Kirche mit in den Kindergarten genommen und jedes Kind auch noch mit nach Hause.

Vom Begreifen zum Ergriffen-Werden!
Vor dem Begreifen steht das Greifen!
Vor dem Sinn stehen die Sinne!
Vor dem Abstrakten steht das Konkrete!

 

Fazit

Wie in jedem Jahr haben wir bei der Auseinandersetzung mit einem neuen Thema, wieder selbst sehr stark profitiert.

Und wie bei jedem (rel.-päd.) Thema steht das eigene Erleben, der eigene Zugang, die eigene Bedeutung zu diesem Thema im Vordergrund. Erst auf diesem Boden kann ich als Pädagogin die Kinder auch authentisch an das Thema und seine Zielsetzung heranführen.

Unsere Erfahrungen bei der Erarbeitung und der Durchführung des Kirchenprojekts: äußerst empfehlenswert und zum Nachmachen und Selbermachen sehr geeignet!

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1998

PDF