ALPIKA - Arbeitsgruppe Sonderpädagogik: "Integrative Bildung in Schule und Gemeinde - ein Positionspapier"

Die Fachgruppe Sonderpädagogik/Integrationspädagogik besteht aus den Vertreter/innen der für die Bereiche Sonder- und Integrationspädagogik zuständigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen innerhalb der religionspädagogischen Fort- und Weiterbildungsinstitute der EKD (ALPIKA). Diese Fachgruppe beteiligt sich an der allgemeinen Diskussion um integrative Bildung und hält auch innerhalb der Kirchen diese Thematik im Gespräch. Das folgende Papier ist Ergebnis der gemeinsamen Beratung der Fachgruppe.

Die wachsende Erkenntnis, dass die Integration von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung in die Gesellschaft mit herkömmlichen Mitteln nur unzureichend gelingt, führte zum Konzept des gemeinsamen Lebens und Lernens von behinderten und nichtbehinderten Menschen, das von engagierten Pädagog/innen und Eltern ins Leben gerufen wurde. Seine Umsetzung in die pädagogische Praxis von Schule und Gemeinde erfolgte in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität und hat mittlerweile dazu geführt, dass in vielen Schulen integrative Klassen, Einzelintegration oder integrierte Förderung angeboten wird. Auch Kirchengemeinden bemühen sich verstärkt um das Zusammenleben behinderter und nichtbehinderter Menschen. Zugleich aber ist mit unterschiedlichen Begründungen wieder eine Zunahme der Stimmen zu registrieren, die sich gegen die Fortführung und Weiterentwicklung dieser Konzeptionen oder sogar für die Rücknahme bestehender Maßnahmen aussprechen. Diese Entwicklung beobachten wir mit großer Sorge und nehmen sie zum Anlass, die Gesichtspunkte zu nennen, die den Ansatz integrativer Bildung begründen und weiterentwicklen.

 

Der Begriff „Behinderung“ weist auf ein eingeschränktes Menschenbild

Die Lebenssituation behinderter Menschen in unserem Land lässt sich immer noch mit den Stichworten Isolation und Abhängigkeit kennzeichnen und führt zu einer gesellschaftlichen Rand-Position. Dies hängt nur zum Teil mit der jeweiligen konkreten Beeinträchtigung zusammen, vielmehr weist sie auf eine Vorstellung von Normalität hin, die auf den Werten von Gesundheit als körperliche und geistige Unversehrtheit, Leistungsfähigkeit im Sinne wirtschaftlicher Brauchbarkeit und Rationalität als wesentliches Kriterium für das Personsein eines Menschen beruht. Auf dem Hintergrund dieser Werte und Normen werden in unserer Gesellschaft Menschen mit einer körperlichen und/oder intellektuellen Beeinträchtigung als „behindert“ ausgegrenzt. Demgegenüber muss betont werden:

Auch wenn theologisches Reden und kirchliches Handeln sich immer wieder an diesen Normen orientiert haben und z.T. zu ihrem Entstehen beigetragen haben, sind diese Normen als inhuman und theologisch unhaltbar zu beschreiben und zu verurteilen. Sie rücken nämlich nicht nur Menschen mit Behinderungen an den Rand der Gesellschaft und tragen dazu bei, deren Lebensrecht in Frage zu stellen, sondern sie grenzen aus dem Bild des Menschen wesentliche Züge aus:

  • Nicht das Fehlen jeglicher Störungen ist als Gesundheit zu bezeichnen, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit des einzelnen Individuums und der Gesellschaft, mit Begrenzungen und Störungen zu leben.
  • Arbeit gehört als schöpferische Tätigkeit zum Wesen des Menschen, wie ihn Gott geschaffen hat, darum ist sie ein Grundrecht aller Menschen und kann niemandem verweigert werden. Der Sinn der Arbeit erschöpft sich nicht im Erwirtschaften finanzieller Erträge.
  • Die Verabsolutierung der Rationalität führt dazu, dass Gefühle, die Bedeutung der Gemeinschaft, das Angewiesensein auf die Zuwendung anderer Menschen im herrschenden Menschenbild keine Rolle spielen. Die Vielfalt von Menschensein, die in der Besonderheit und Einmaligkeit jedes einzelnen liegt, ist als Bereicherung und Chance für gesellschaftliches Leben zu sehen.



Kirchliche Bildungsmitverantwortung beruft sich auf ein umfassendes Menschenbild

In die pädagogische und bildungspolitische Diskussion um den gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Menschen ist von Seiten der Theologie und Kirche auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen hinzuweisen. Damit wird für das Bildungsverständnis in unserer Gesellschaft ein Menschenbild reklamiert, das die Würde und den Wert eines Menschen von seinen Fähigkeiten und Eigenschaften ebenso unabhängig weiß wie von gesellschaftlichen Normierungen und Bestimmungen. Von Gott zu seinem Gegenüber bestimmt, ist menschliches Leben unvergleichlich und unantastbar. Diese Bestimmung ermöglicht die Integration von Leid und Hoffnung, Begrenzung und Überschreiten, Versagen und Gelingen in das Selbstverständnis eines Menschen. Es ist nur dann angemessen, wenn Begrenztsein und Vergänglichkeit nicht verdrängt werden, zugleich aber die Wahrheit des Menschen nicht nur mit seiner vorfindlichen Wirklichkeit gleichgesetzt wird.

Zugleich bringt der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Verschiedenheit und Einzigartigkeit der Individuen ebenso in den Blick wie die Tatsache, dass die Menschen gerade in dieser Verschiedenheit aneinander gewiesen und aufeinander bezogen sind. Bildung muss also die Begegnung der Verschiedenen ermöglichen und fördern, darum ist auch in Bildungsprozessen auf jeden Versuch einer Normalisierung im Sinne von Homogenisierung zu verzichten. Vielmehr ist die Wahr-Nehmung des Anderen in seiner Besonderheit und Verschiedenheit eine grundlegende Bildungsaufgabe. Die Anerkennung der Differenz ist Grundlage für Verständigung, Dialog und Kooperation. Weil Begegnung in diesem Sinne immer auch zur Wahrnehmung der Verantwortung für den anderen herausfordert, wird die Gestaltung wechselseitig helfender Beziehungen zu einer Bildungsaufgabe, die immer wieder neu zu gestalten ist.

 

Sonderschulen stehen in der Ambivalenz von Isolation und Integration

Die Einrichtung von Sonderschulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ist eine Folge des Versuchs, schulische Bildung und das Recht auf Schulbesuch für alle Menschen durchzusetzen. Das Ziel sonderpädagogischer Förderung an diesen Sonderschulen war und ist eine möglichst uneingeschränkte soziale Integration der behinderten Menschen und die Vorbereitung auf eine spätere, möglichst ungehinderte Teilhabe an der Gesellschaft.

Viele Lehrer/innen erleben nun, dass die Sonderschule als Institution durch ihre spezialisierte Form und eigenständige Organisation entgegen ihrer Zielsetzung häufig zur Ausgrenzung und Isolation behinderter Kinder und Jugendlicher beiträgt. Ein gemeinsames Leben und Lernen wir dadurch verhindert. Das emanzipatorische Interesse, das zur Einführung von Sonderschulen geführt hat, muss sich darum heute verstärkt auf die Ermöglichung gemeinsamen Lernens richten, denn nur so können Heranwachsende lernen, in der Verschiedenheit miteinander zu leben und Beeinträchtigungen bei sich selbst und anderen wahrzunehmen und gelten zu lassen.

 

Regelschulen stehen in der Ambivalenz von Integration und Ausgrenzung

Regelschulen stellen heute mehr und mehr die Bedeutung des sozialen und emotionalen Lernens und des Erwerbs sozialer Kompetenz in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Bemühungen. Zum Erlernen der Akzeptanz von Vielfalt und Verschiedenheit, von mitmenschlicher Toleranz und Achtung bedarf es der unmittelbaren persönlichen Begegnung der Menschen in ihrer Verschiedenheit im Raum der Schule. Deshalb liegt integrative Erziehung im ureigenen Interesse auch der nichtbehinderten Schüler/innen. Regelschulen, die sich behinderten Schüler/innen verschließen, verhindern die Ausbildung einer sozial motivierten kommunikativen Kompetenz, die zu den unabdingbaren Erfordernissen des Zusammenlebens und –arbeitens in einem demokratischen Gemeinwesen gehört.

 

Konsequenzen für die Gestaltung von Bildungsprozessen

Von diesen Überlegungen ausgehend, sind die gegenwärtigen Diskussionen um Schule und Bildung kritisch zu begleiten. Die folgenden Grundsätze wollen als Maßstab zur Überprüfung bestehender Konzepte und als konstruktiver Beitrag zum Gespräch verstanden werden:
 

  1. Bildung ist eine Dimension von Menschsein. Sie ist darum an keine körperlichen, intellektuellen, kommunikativen oder seelischen Vorbedingungen zu knüpfen. Die grundsätzliche Bildungsfähigkeit eines jeden Menschen ist zu behaupten und durchzusetzen.
  2. Die Besonderheit jedes Einzelnen und die Verschiedenheit aller Menschen erfordern, dass Bildungsprozesse von den je besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Individuums ausgehen. Lernen geschieht in biografischen Zusammenhängen und zielt darauf, Lebenserfahrungen zu ermöglichen, zu deuten und in den eigenen Lebensentwurf zu integrieren.
  3. Bildungsprozesse zielen auf Verständigung und Gemeinschaft. Dazu gehört, die Kommunikationsfähigkeit eines jeden Menschen vorauszusetzen. Es muss nach gemeinsamen Sprachebenen gesucht werden, Kommunikation braucht Räume und Möglichkeiten der Begegnung und des Austauschens, eine Atmosphäre von Vertrauen und Offenheit.

Eine Trennung behinderter und nichtbehinderter Kinder in ihren Bildungsprozessen kann als Widerspruch zu den genannten Grundsätzen aufgefasst werden und soll darum weitestgehend vermieden werden.

 

Folgerungen für religiöse Bildung in Schule und Gemeinde

Das originäre Interesse und Ziel einer religiösen Bildung, die vom christlichen Glauben her ihre Motivation gewinnt, ist die Gemeinsamkeit aller Menschen, in der das Lebensrecht keines Menschen in Frage steht, in der jede und jeder Gelegenheit bekommt, an den eigenen Fähigkeiten und den Herausforderungen der anderen zu wachsen. Diese Ziele gilt es im Interesse aller Menschen deutlich zu vertreten und einzufordern.

  1. Integrative religiöse Bildung erfährt ihre Ausprägung in Schule und Gemeinde. Deshalb ist nach gemeinsamen pädagogischen Aufgabenstellungen und Möglichkeiten der Kooperation zu suchen.
  2. Integrative religiöse Bildung ist subjektorientiert und geht von der Einmaligkeit und Besonderheit der einzelnen Kinder und Jugendlichen aus. Sie hören und erleben, dass sie bejaht und gewollt sind. In der Begegnung mit den Erwachsenen sowie in der Gestaltung der Bildungsprozesse wird erfahrbar, dass sie persönlich gemeint sind. Darum hat integrative religiöse Bildung insgesamt eine dialogische Struktur.
  3. Integrative religiöse Bildung ist erfahrungsorientiert. Ausgangs- und Zielpunkt sind die individuellen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebenswirklichkeit und ihrem konkreten Alltag. Diese Alltagserfahrungen werden mit den Erfahrungen ins Gespräch gebracht, die in der biblisch-christlichen Tradition gesammelt und in Beziehung auf Gott gedeutet sind. Sie sind Verstehenshilfe für das eigene konkrete Leben und seine Gestaltung.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1998

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