Wundergeschichten als Bildgeschichten

von Günter Scholz

 

Hinter dem Titel steht ein Programm. Es ist im Gespräch der Exegese mit der Didaktik entstanden. In den Schulbüchern werden Wundergeschichten schon lange von der Bildhaftigkeit der Sprache her erschlossen. Die Exegeten rümpften darüber die Nase, die Didaktiker konnten ihrerseits nicht umsetzen, was die Exegeten sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft erdacht hatten. Mein Ziel war und ist es, exegetisch fundiert zu begründen, was die Didaktiker tun, um so beiden das Gespräch miteinander zu ermöglichen. Würde ich wie ein Exeget formulieren, so müsste ich mein Programm nennen: "Wundergeschichten als Bilder sich realisierender Eschatologie". Als Didaktiker sage ich: "Wundergeschichten als Bildgeschichten" und meine damit die exegetische Handlungsanweisung: "Suche die grundlegenden Bilder auf, die hinter den Wundergeschichten stehen, d.h. die Metaphern und Symbole, die die Wundergeschichten tragen, und dir wird die Auslegung zufallen!" - Zuvor jedoch noch ein Blick auf bisherige gängige Konzepte.

 

Reginald H. Fuller, Die Wunder Jesu in Exegese und Verkündigung, Düsseldorf, 2. Auflage 1968

Fuller betrachtet die Wunder der Bibel geradezu makroskopisch, indem sein Blick alle Wundergeschichten der Bibel, die des AT und des NT, erfasst. In beiden Testamenten entdeckt er je ein "Stiftungswunder" , im AT den Auszug aus Ägypten, im NT das Christusereignis (Tod und Auferweckung). Das ist der Kern. Jedem dieser beiden Grundwunder gehen vorbereitende und sinndeutende Wunder voraus (AT: Plagen; NT: Heilungen, Exorzismen, Naturwunder). Die Stiftungswunder Exodus und Christusereignis werden noch durch "Begleitwunder" unterstrichen (AT: Feuersäule, Wolkensäule; Meerwunder; Wasser aus dem Felsen; Mannawunder; NT: Jungfrauengeburt; Taufe und Verklärung; leeres Grab; Erscheinungen ).

Jesus hat nach Fuller Wunder gewirkt, wenn auch die erzählten Wunder nicht unbedingt historisch belegbar sind.
Fuller macht auf eine unterschiedliche Interpretation der Wunder einerseits bei Jesus, andererseits bei der Urkirche aufmerksam. Jesus habe seine Wunder als Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft verstanden, während die Urkirche sie als Zeichen dafür interpretiert habe, dass der Messias gekommen sei.

 

Karl Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium, München 1970

Eher mikroskopisch betrachtet Kertelge die Wunder Jesu, und zwar nur im Markuseveangelium. Er ordnet die Exorzismen und Heilungen in Kap. 1-3 um den Leitbegriff der exusia, der Vollmacht. Jesus hat Vollmacht, Sünden zu vergeben und zu heilen ( Mk 2, 1-12 ), auch am Sabbat ( 3, 1-6 ). In Kap. 4-5 wird die Vollmacht näher charakterisiert als dynamis, als dynamische, Not wendende Macht ( Sturmstillung, Totenauferweckung ). Die Kapitel 6-8 enthalten die symbolisch zu deutenden Wunder ( Brotvermehrung und Seewandel ). Die Wunder in Kap. 9 und 10 zielen auf Anwendung im Leben und Handeln der Jünger ( die Heilung des Epileptischen zeigt die Heilkraft des Gebets, die Heilung des Bartimäus wirft ein Licht auf den Weg der Nachfolge).

Der Begriff der Symbolhaftigkeit taucht bei Kertelge auf. Er trifft auf die Kap. 6-8 mit Sicherheit zu. Ihn allerdings darauf zu beschränken, erscheint mir zu eng. Sturmstillung und Blindenheilung sind nicht weniger symbolisch zu verstehen.

Außerdem versucht Kertlege, die speziell markinische Interpretation der Wunder zu eruieren durch Unterscheidung von Tradition und Redaktion. Dabei stößt er auch bei den Wundern auf das Messiasgeheimnis - Motiv. Dies habe den Sinn, nicht am Wunder an sich hängen zu bleiben, sondern die Person Jesu in den Blick zu nehmen. Die Person Jesu sei nach Mk nur von Ostern her zu verstehen, im Lichte des Auferstandenen.

 

Gerd Theißen, Urkirchliche Wundergeschichten, Gütersloh 1974

Theißen erweitert die diachrone (traditionsgeschichtliche) Betrachtungsweise um den Aspekt der Synchronie und der Funktionalität. Synchronische Analyse ist Analyse der Struktur einer Wundergeschichte, funktionale Betrachtung versucht, die Frage zu beantworten, wozu Wundergeschichten erzählt wurden.

So wird man sagen können: Theißen stellt das Mikroskop noch genauer ein. Er betrachtet die Struktur der einzelnen Wundergeschichte und findet dabei insgesamt 33 (virtuelle) Motive, die sich über Einleitung, Exposition, Zentrum und Schluss verteilen. Das personale Beziehungsgefüge besteht aus maximal 7 Personen, von denen eine der Wundertäter ist, eine andere der Gegenspieler, eine Auswahl aus den fünf weiteren gilt als " Zwischenspieler ". Aus der Art des Gegenspielers ergibt sich das Thema und so auch die Klassifizierung von Wundergeschichten. Ist z.B. ein Dämon der Gegenspieler, handelt es sich um einen Exorzismus; ist ein Gegner der Gegenspieler, geht es um ein Normenwunder; sind Jünger die Gegenspieler, handelt es sich um ein Geschenkwunder (Fischfang) oder um ein Rettungswunder (Sturmstillung).

Worin sieht Theißen nun die Funktion der Wundergeschichten ? Wozu wurden sie erzählt ? Sie sollen die Grenzen erfahrener Negativität (Krankheit, Hunger, Mangel, Unfreiheit) überschreiten. Wundergeschichten spiegeln soziale Not wider und wollen ihr mit der in ihnen liegenden Kraft phantasievoll entgegenwirken.

Theißens Frage nach dem Wozu der Wundererzählungen ist berechtigt. Ich nehme sie später auf. Er beantwortet sie aber zu einseitig, nämlich nur soziologisch. Die theologische Funktion, die kerygmatische Intention kommt zu kurz.

 

Dietrich-Alex Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, Berlin/New York 1975

Koch zeigt zwei gegenläufige Tendenzen im Markusevangelium auf, die sich gegenseitig begrenzen: die Passionstradition, die sich von Anfang an durch das Evangelium hindurchzieht, und die Wundertradition, die Jesus als einen über die Erde schreitenden Gott erscheinen lässt. Der Redaktor Markus vereinigt beide Traditionen miteinander: Auch in der Wundertätigkeit des Irdischen offenbart sich die Gottessohnschaft, nicht nur in Taufe oder Verklärung. Aber ein gültiges Bekenntnis ist erst von der Passion her möglich. Markus bringt das durch mehrere Interpretamente zum Ausdruck:

  1. Jesu Wundertaten sind mit seiner exusia verbunden. Diese exusia ist aber zugleich Stein des Anstoßes für seine Gegner und ein historischer Grund für seine Kreuzigung.
  2. Die Gegenläufigkeit von Schweigegebot und Ausbreitung der Wundernachricht weist darauf, dass das Geheimnis Jesu nicht im Sichtbaren und Kommunikablen allein zu finden ist.
  3. Die Jünger zeigen sich trotz der Wunder unverständig.

Der Überblick lässt sich so zusammenfassen:

Die meisten Interpreten versuchen zunächst einmal oder in der Folge ihrer Betrachtungsweisen, die Wundergeschichten zu systematisieren. Am umfassendsten ist das bei Fuller der Fall. Er zeichnet sich hinsichtlich der Wunder durch eine biblisch-theologische, systematisierende Betrachtungsweise aus. Karl Kertelges Sicht ist redaktionsgeschichtlich ausgerichtet. Ebenso redaktionsgeschichtlich arbeitet auch Dietrich-Alex Koch, und beide kommen zu christologisch orientierten Ergebnissen: Jesus ist nicht nur der Wundermann, sondern seine Zukunft, Passion und Ostern, beginnt schon jetzt. Ihre Betrachtungsweise nenne ich redaktionsgeschichtlich-christologisch. Theißens Besonderheit schließlich liegt in der synchronischen und funktionalen Betrachtungsweise. Jeder dieser Betrachtungsweisen lenkt unseren Blick in eine bestimmte Richtung, schärft ihn und lässt uns die Mehrdimensionalität der Interpretation erkennen.

Dabei beziehen sich fast alle Interpretationen auf die literarische Gestalt der Wundergeschichte. Die Frage nach der Tatsächlichkeit des Geschehens wird selten (Fuller) oder gar nicht angesprochen. Ich kenne kaum eine Monographie, die die Historizität der Wunder zum Thema hätte. In der " Neutestamentlichen Theologie" von Joachim Jeremias allerdings findet sich die Notiz, dass Heilung von Aussatz, Lähmung, Erblindung und Taubheit auch auf psychosomatischer Basis erklärt werden kann " in der Richtung dessen ...., was die Medizin als Überwältigungstherapie bezeichnet. " (S. 96 ) - Ich glaube, die Frage muss gestellt werden, um der eigenen Position willen, um des tieferen Verstehens willen und um der rechten Verkündigung willen.


Zur Frage der Historizität

Dass Jesus außergewöhnliche Heilungen und Exorzismen vollbracht hat, kann wohl kaum bestritten werden. Man stelle sich die Evangelienüberlieferung ohne die Wundergeschichten vor. Übrig bliebe ein dürres Büchlein mit weisheitlichen Logien (Q). Die Breite der Wunderüberlieferung deutet auf Historizität. Außerdem werden Jesu exorzistische Fähigkeiten auch von seinen Gegnern anerkannt, allerdings negativ beurteilt mit dem Vorwurf, er stünde mit dem Beelzebul im Bunde (Mk 3,21ff parr.). Auch die außerbiblische jüdische Polemik kennt Jesu außergewöhnliches Tun und wertet es als Zauberei und Verführung (Traktat Sanhedrin 43 a).

Dennoch kommt es den Erzählern und Tradenten der Wundergeschichten Jesu nicht auf die historische Glaubwürdigkeit an. Sprachliche Signale weisen darüber hinaus. Mehrfach ist davon die Rede, dass die Heilung "sofort" eintritt (Mk 1,31; 1,42; 2,12; 5,42; 7,35). Wir werden an das Sofort der Schöpfungsgeschichte erinnert. Was Gott spricht, das geschieht sogleich. Dadurch wird Jesus als Finger Gottes interpretiert (vgl. Mt 12,28//Lk 11,20) . Ein Signal in ähnliche Richtung vernehmen wir bei der Taubstummen- und bei der Blindenheilung. In Mk 7,37 sagt die Menge: " Alles hat er gut gemacht ". Auch hier höre ich das "siehe, es war sehr gut" aus der Schöpfungsgeschichte. Und wenn der Blinde in 8,25 "wiederhergestellt" wurde, schimmert da nicht endzeitliche Wiederherstellung der urzeitlichen Schöpfungsordnung durch? Wurde da nicht Jesus interpretiert als Bringer der Gottesherrschaft, der das Eschaton zeichenhaft antezipiert ?

Fazit: Wundergeschichten sind Verkündigung, die in typischer Weise Jesu Verkündigung aufnehmen und weitertragen.

Ich führe den Gedanken weiter aus: Wundergeschichten wollen davon überzeugen, dass in Jesus die prophezeite und erwartete Heilszeit da ist, und darum nehmen sie fast durchgehend Bilder der Heilszeit auf, um sie jetzt lebendig und wahr werden zu lassen. Sie verarbeiten die Metaphorik jesajanischer Heilsbilder (z.B. Jes. 35,5 f und Jes. 61,6) und die Symbolik der Worte "Wasser" und "Brot" und können daher als in Handlung umgesetzte Bilder betrachtet werden. In diesem Sinne sind sie als literarische Produktionen der Urgemeinde mit kerygmatischer Funktion bzw. Intention zu betrachten, Bildergeschichten sich realisierender Eschatologie.

In meiner Betrachtungsweise werde ich fragen: Warum - d.h. auf welchem geistigen Boden konnte es zur wunderhaften Weiterentwicklung von Metaphern und Symbolen kommen. Dann werde ich fragen: Wozu - d.h. mit welcher Intention wurde erzählt. Den konventionellen Betrachtungsweisen füge ich die meinige hinzu. Ich möchte sie die literargenetische und intentionale Betrachtungsweise nennen (Ich berühre mich formal mit Theißens funktionaler Betrachtungsweise, komme aber inhaltlich zu anderen Ergebnissen).
Die literargenetische und intentionale Betrachtungsweise

Meine These lautet: Eine große Gruppe der evangelischen Wundergeschichten sind aus Bildworten, Bildern und Symbolen der Heilszeit entstanden, sogar auch aus Bildworten, die Jesus selbst gebraucht hat. Das Menschenfischerwort aus Mk 1,17 wurde zum Fischfang-Wunder in Lk 5, Jesu Gleichnis vom Feigenbaum steht hinter der Verfluchung des Feigenbaums in Mk 11. Die Begründung meiner These liegt in der Erklärung, wie es dazu kam.

Ich beginne meinerseits mit einer Allegorie: Ein Samenkorn fällt in die Erde. Und wenn der Boden fruchtbar ist, erwächst daraus eine schöne Blume. Das Bild ist das Samenkorn. Also das Bildwort: "Ich will euch zu Menschenfischern machen" (Mk 1,17). Oder innerseelische Chaoswasserbilder wie in Ps. 69, 2f ("... das Wasser geht mir bis zur Kehle... die Flut will mich ertränken...") (vgl. auch Ps. 42,8 ); oder Bilder vom Kommen, Wandeln und Vorübergehen Jahwes auf dem Wasser (Ps. 77,17-20; Hi. 9,4 -11); oder das Brotsymbol, das sich im AT schon mit der Metaphorik des Hungerns und des Essens wie auch mit der Mahlgemeinschaft verbindet; oder die Metaphorik der Gegensatzpaare "Blind-sehend", "lahm-gehend", "taubhören ", "tot-auferweckt", (Jes. 35,5 f; Jes. 29,18f; Jes. 42,18; Jes. 61,1; Jes. 26,19). - Der fruchtbare Boden, in dem das Samenkorn aufgehen kann bzw. in dem das Bild sich wunderhaft zu realisieren beginnt, ist die hochgespannte Heilserwartung der Jesuszeit und das Auftreten Jesu als Heilsbringer selbst bzw. die Deutung der Gestalt Jesu als Heilsbringer. Das Gefühl einer Zeitenwende durchdrang die gesamte damalige Welt. Im griechisch-römischen Raum galt Kaiser Augustus als Retter, der das goldene Zeitalter heraufführen werde, und auch weite Kreise des Judentums waren von einer endzeitlich-messianischen Naherwartung geprägt: Essener zogen in die Wüste, um dort getreu Jes. 40,3 dem Herrn den Weg zu bereiten. Mit diesem weit verbreiteten Zeitgefühl verband sich Jesu eigenes Selbstverständnis, Gottes Herrschaft durch sein Reden und Tun zu vergegenwärtigen. Schließlich machen Ostererfahrung und Osterglaube die Urgemeinde darin gewiss, dass Gottes Herrschaft bereits angebrochen ist. Wo das Reich Gottes als in die Geschichte eingetreten erfahren und die Heilszeit durch einen Heilbringer repräsentiert wird, lässt sich darüber kaum anders reden als in einer lebendigen Vergegenwärtigung alter Heilsbilder. Das ist der Boden, in dem der Samen des Bildes aufgeht und zur Blume der Wundergeschichte sich wandelt.

Ich habe zu erklären versucht, wie es zur Erzählung von Wundergeschichten aus Basis-Bildern kam. Weil damit die Warum-Frage beantwortet ist, nenne ich diesen Aspekt die Kausale Erklärung. Bevor ich die Wozu-Frage erörtere, also zu welchem Zweck sie erzählt wurden, noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Tätigkeit unseres Geistes, der Realien gebraucht, um sie metaphorisch zu benutzen und der dann ggf. Metaphern in Geschichten umsetzt. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset bestätigt die drei Stufen der Geistestätigkeit: Auf einer ersten Stufe erkennt und benennt der Mensch reale Dinge. Auf einer zweiten höheren Stufe benutzt der Mensch die Realien, um etwas Unanschauliches auszudrücken. Ortega y Gasset führt als Beispiel das Wort "Boden" an. Es ist die Erde oder der Grund eines Fasses. Es wird aber zum Bild, wenn ich z.B. vom Boden der Seele spreche oder vom "geistigen Nährboden" für ein Zeitgefühl. Auf einer dritten Stufe der Ontologisierung werden Metaphern neu materialisiert und gehen so in metarealen Geschichten auf. Ortega y Gasset hält das für einen Fehler, ich dagegen halte das für eine angemessene Expressionsmöglichkeit angesichts einer sich realisierenden Eschatologie.

Ich komme zur Frage, wozu Wundergeschichten erzählt werden. Weil es dabei um die Absicht der Erzählungen geht, nenne ich das die finale Erklärung. Die Differenzierungkategorien hole ich mir aus phantastischen Erzählungen, etwa Märchen und Sagen, die Bilder verdinglichen und verlebendigen, materialisieren und dynamisieren.
Dabei komme ich im Blick auf die profane Literatur zu folgenden Ergebnis:

  • Wundererzählungen entstehen, wenn innerseelische Vorgänge nach außen hin wahrnehmbar gemacht werden. Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Hauff hat ein Märchen geschrieben mit dem Titel " Das steinerne Herz ". Darin verkauft ein Glasbläser sein Herz an einen Geist, der ihm viel Geld verspricht. - Es ist ein böser Geist, der sein Herz herausnimmt und es durch ein steinernes ersetzt. Der Glasbläser wird gefühllos und hart, bis er des Lebens überdrüssig wird und einen guten Geist wieder um sein altes, weiches Herz bittet. Er bekommt es zurück. Selbstverlust und Rückkehr zu sich selbst wird hier nach außen wahrnehmbar durch die Dynamisierung der Metapher " Steinernes Herz ". Ich nenne diese Intention die ästhetische Funktion ( von gr. wahrnehmen )
  • Wundererzählungen entstehen, wenn auf eine nicht-faktizistische Wirklichkeit hingewiesen werden soll, die als Realität vorhanden, aber nicht vordergründig sinnlich wahrnehmbar ist. Zu Michael Endes "Unendlicher Geschichte" reitet der Held Atreju aus, das Land Phantasien vor der Ausbreitung des Nichts zu retten. Hingewiesen wird auf die Menschlichkeit des Menschen, die nur durch schöpferische Phantasie gerettet werden kann, Mut und Kraft gewinnt Atreju durch ein Amulett der kindlichen Kaiserin Phantasiens; d. h. Kraft zum positiven Handeln bekommt er nicht aus sich selbst, sondern sie wächst ihm von außen zu. - Weil hier auf eine nicht-faktizistische Wirklichkeit verwiesen wird, nenne ich diese Intention die hinweisende oder deiktische Funktion (von gr. = zeigen).
  • Auch aus dem Glauben an die Wirkkraft des Wortes, insbesondere des Segens- oder Fluchwortes, kann sich eine Wundergeschichte entwickeln. Ich habe so etwas in Jurij Brezans Krabat-Sage gefunden. Krabat ist unterwegs und sucht die Truhe mit den 7 Büchern des Wissens, von der es heißt, dass ein Wolf sie bewache. Er gelangt zur Schwarzen Mühle, findet hier die Truhe und einen rätselhaften Müller, der sie bewacht. Je mehr Krabat sich ihm als überlegen erweist, umso mehr verwandelt sich der Müller in einen bösartigen Wolf, der sich in seiner Bösartigkeit am Ende aber selbst zerstört. In seiner Bösartigkeit stößt der Müller gegen einer seiner Bediensteten einen Fluch aus: "Du Schwein !" Und er berührt ihn dabei. Im selben Augenblick wird der Bedienstete auch zum Schwein. - Wir haben die ästhetische Funktion wiedererkannt in der Beschreibung des Unmenschen, und wir erkennen auch, wie das Wort Dinge in Bewegung und in die Tat umsetzt mit einer unaufhaltsamen Dynamik. Solche Phantastischen Geschichten entstehen durch Dynamisierung des Wortes. Sie haben dynamisierende Intention, d.h. sie wollen zeigen: Das Wort wird wahr.
  • Wunderhafte Geschichten können auch eine appellative Funktion haben. Das ist dann der Fall, wenn der Leser sehr deutlich erkennt: Ich bin gemeint, ich werde zu einem Teil der Geschichte, ich bin nicht mehr unbeteiligt. Michael Ende will in seiner "Unendlichen Geschichte" nicht nur den Helden Atreju das Land Phantasien retten lassen, sondern jeder, auch der Leser, soll aufgerufen werden, die Menschlichkeit des Menschen vor dem Untergang zu bewahren. Um der Eindringlichkeit des Appells willen lässt Michael Ende den fiktiven Leser Bastian in die Geschichte derart einsteigen, dass er selbst eine Gestalt der Geschichte wird. Durch seine Erzählweise möchte Michael Ende das Vergleichpartikel "wie" streichen: Der Leser soll der Held werden !
  • Schließlich drücken Wundergeschichten eine zur Gewissheit werdende Hoffnung aus. Weil das Erhoffte als Realität der Zukunft geglaubt wird, kann man schon jetzt damit rechnen. Ein Beispiel findet sich in Shakespeares Drama Macbeth. Faktische Realität ist hier die Tyrannenherrschaft von Macbeth. Zwei vor ihm geflohene Schotten unterhalten sich indes über eine andere, über eine erhoffte Realität. Vor ihren Augen steht das Wunschbild eines gütigen, heilbringenden Königs. Sie reden so über ihn, als sei er schon da: Den Heil-König hat der Himmel so gesegnet, dass die Kranken " sogleich " (!) genesen. Eine imaginär vorgestellte Zukunft wird so in die Gegenwart hineingezogen, dass sie zur Gewissheit wird: "A most miraculous work in this good king, which often since my here-remain in England I have seen him do." Eine solche Gewissheit aufbauende Hoffnungsgeschichte hat affirmative Funktion und Intention.
     

Ich übertrage diese Funktions- bzw. Intentionsbeschreibungen auf biblische Wundergeschichten.

* Ein Beispiel für die ästhetische Funktion (Inneres wird nach Außen gekehrt) ist die Sturmstillungsgeschichte. Die innere Aufgewühltheit der Menschen und die Angst, in einer von außen hereinbrechenden Gefahr unterzugehen, wird wahrnehmbar gemacht. Anthropologisch gesprochen wird der Mensch in seinem Preisgegebensein und in seiner Schutzlosigkeit gezeichnet. Zugleich wird gezeigt, dass das Wort Jesu eine das Chaos bannende Kraft hat. Hier zeigt sich am Rand die dynamisierende Funktion. Nun ist der ohne Christus preisgegebene Mensch durch Christus in seinen Schutz genommen. Die Christologie umgreift die Anthropologie. Die Gemeinde soll lernen: "In allen Stürmen/in aller Not wird er dich beschirmen der treue Gott.“

* Die deiktische Funktion tritt in allen Auferweckungsgeschichten zutage, z.B. bei der Auferweckung des Jünglings von Nain. Solche Wundergeschichten wollen auf die nicht haptische Auferstehungswirklichkeit hinweisen. Durch die recht handfeste Darstellung der Auferstehungswirklichkeit (es geht ja auch sensibler, vgl. die Emmausgeschichte) haben diese Wundergeschichten auch eine affirmative Funktion.

Die Gemeinde soll lernen: Es gibt noch eine Wirklichkeit hinter allem Faktischen. Diese Wirklichkeit ist auch für dich offen, schon jetzt und auch nach diesem Leben. Du kannst ihrer sicher sein.

* Die dynamisierende Funktion ist eigentlich fast allen Wundergeschichten inhärent. Denn in der Regel ist die Wirkkraft des Wortes mit im Spiel, außer beim Seewandel und den beiden Blindenheilungen, wo Heilung nur durch Gestus oder nicht ausdrücklich durch das Wort geschieht. Besonders aber tritt sie zutage beim Fischfangwunder und bei der Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kapernaum. In beiden Fällen gilt von den "Bittenden": "Auf dein Wort..." (Lk 5,5; Mt 8.8f // Lk 7,7 f). Besonders krass wirkt sie sich bei der Verfluchung des Feigenbaums Mk 11,12-14.20 aus, dem einzigen Strafwunder Jesu, von dem Mk//Mt berichtet. Die Gemeinde soll lernen: Jesu Wort setzt scheinbar Unmögliches in Bewegung und hat die schöpferische Kraft, zur Tat werden zu lassen, was es verspricht.

* Überall da, wo der Hörer/Leser sich wiedererkennt und somit eingeladen wird, als Gestalt in die Geschichte einzusteigen, können wir von der appellativen Funktion sprechen. Im allgemeinen wird er sich im sog. Chorschluss wiedererkennen, wenn sich hier auch der Einstieg eher auf die Zuschauerrolle beschränkt. Sehr deutlich allerdings ist die appellative Funktion in der stufenweisen Blindenheilung von Mk 8,22-26 spürbar. Denn hier kann sich der Hörer/Leser sofort und sehr direkt mit dem zur Erkenntnis gelangenden Blinden identifizieren. Er erkennt seinen eigenen Glaubensweg wieder. Auch Luther konnte sich der appellativen Wirkung der Wundergeschichte nicht verschließen, als er an den Rand seiner Bibel von 1545 schrieb: " Also ist auch unser Anfang, Christum zu erkennen, schwach, wird aber immer stärker und gewisser." Das soll auch die Gemeinde erkennen.

* Die affirmative Funktion darf man überall da vermuten, wo der Glaubende der Realität des allmächtigen Gottes versichert werden soll, die er unter dem Eindruck der manifensten Wirklichkeit des Todes bezweifeln könnte. Dass das Kind nicht gestorben ist, sondern nur schläft, dessen darf der gewiss sein, der es mit Jesu Augen sieht. Auch der Seewandel Jesu versichert der Gemeinde: Jesus hat das Element des Todes unter seinen Füßen. Als Sieger geht er darüber hin. Die Gemeinde soll sagen: Das ist Wahr! Hebräisch: Amen!

Wir haben Grund und Ziel (causam et finem) der Wundergeschichten betrachtet. Den Erzählern und auch den Evangelisten als Redaktoren ist es gelungen, den Bildcharakter der Wundergeschichten zu erhalten. Zum einen geschieht das durch die äußerst knappe Erzählweise. Sie verleiht der Sprache etwas zwischen Bild und Wunderrealität Schwebendes und vermeidet ein Abgleiten ins Mirakelhafte. Außerdem schiebt Markus durch das gelegentliche Einstreuen des Messiasgeheimnismotives einem mirakulösen Missverständnis einen Riegel vor. Schließlich tut er das auch durch den Einbau einer Wundergeschichte in den entsprechenden Kontext. Wenn es von Bartimäus heißt, er folge Jesus nun nach, so ist hier die sehende Jüngernachfolge gemeint, die den Weg zum Kreuz antritt. Ganz offensichtlich sieht sich Johannes veranlasst, die ins Mirakulöse abgleitende Semeiaquelle auf die Ebene eines Glaubens zurückzuholen, der glaubt, bevor er sieht, und nicht erst, nachdem er gesehen hat (Jh 4,48). Und zu Thomas spricht der Auferstandene: " Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" (Jh 20,29).

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1997

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