Unterricht allein genügt nicht mehr Bausteine zur Kultivierung von Aggressivität

von Dietmar Peter 

 

Stellen sie sich eine Schule mit langen Fluren und vielen Türen vor. An den Wänden fehlt stellenweise der Putz, die Türen sind mit Farbe verschmiert und verdreckt. Überall liegt Papier herum, die Fußböden kleben von verschütteten Coca-Cola-Resten. In dieser Schule handeln die Schüler offen mit Drogen. Die meisten tragen Waffen mit sich: stehende Messer, Schlagringe, Pistolen. Banden bekämpfen sich - es herrscht das nackte Faustrecht. Die Lehrkräfte kümmern sich nur um die einigermaßen willigen Schülerinnen und Schüler. Sie sind froh, wenn die anderen nicht in ihrem Unterricht erscheinen. Die Schule leistet sich einen Sicherheitsdienst, um die schlimmsten Ausschreitungen der Schüler untereinander oder der Schüler gegen die Lehrer zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Eine Lehrerin kann im letzten Moment vor einer Vergewaltigung durch einen Schüler gerettet werden. Sie wird schwerverletzt in ein Krankenhaus eingeliefert. Dem Schulleiter wird seine Rolle durch einen Schüler streitig gemacht. Es kommt zwischen beiden zu einem Kampf auf Leben und Tod. In diesem Kampf siegt der Schulleiter - er ist kräftig, rigoros, er kann treten, boxen und mit dem Baseballschläger umgehen, und die Regie des hier vorgestellten Filmszenarios ("The Principal" Regie Christopher Caine, USA 1987) hat es so vorgesehen. Für die Schulsituation könnte das nicht so ernstgemeinte Fazit aus diesem Film lauten: Lehrer sollten kräftig sein, Kampftechniken beherrschen, mit Waffen umgehen können und sich rücksichtslos durchsetzen.

Beruhigend ist zunächst, dass dieses fiktive Schulszenario einem Film entnommen wurde, der zudem auch noch in den USA spielt. Dennoch sind einige der geschilderten Szenen durchaus auch auf deutsche Schulen übertragbar. Dass Schulen aufgrund knapper werdender Finanzen nicht mehr durch die Schulträger in erforderlichem Maße renoviert werden können und nach und nach an baulicher Substanz verlieren, ist ein offenes Geheimnis. Dass die Schülerinnen und Schüler in solchen Umgebungen nicht gerade pfleglich mit Mobiliar und Gebäude umgehen, liegt auf der Hand. Bekannt ist ebenso, dass an Schulen - zumindest an denen der Sekundarstufe I und II - der Handel mit Drogen keine Ausnahmeerscheinung ist. Kinder und Jugendliche, die bewaffnet in die Schulen kommen, prägen in gleicher Weise die Realität bundesdeutscher Schulen. Dieses gilt insbesondere in den Ballungszentren, wo die Waffen auch rigoros und brutal eingesetzt werden. Die Gewalt richtet sich aber nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst: Selbstmorde, Selbstmordversuche und psychosomatische Leiden haben in den letzten Jahren bei den 10-16jährigen zugenommen.

Diese qualitative aber auch quantitative Veränderung schulischer Wirklichkeit führt Kolleginnen und Kollegen an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit. Viele werden genötigt, sich einzugestehen, dass die ihnen bekannten Mittel, mit ‘schwierigen’ Kindern und Jugendlichen umzugehen, versagen. Dieses trifft insbesondere auf Religionslehrerinnen und -lehrer zu, sind sie es doch, die aufgrund ihres Faches von Kolleginnen und Kollegen, aber auch von Eltern verstärkt angefragt werden, mit der Bitte, diesem Treiben durch die Rückbesinnung auf tradierte Werte ein Ende zu setzen. Die hier angestrebte Formel lautet, dass durch einen verstärkten Input - etwa der 10 Gebote - im Religionsunterricht, ein Output erreicht wird, in dessen Licht, Schulen zu Oasen der Ruhe und des Friedens werden. Wäre das Problem durch solche Maßnahmen gegen die Gewalt zu lösen, würde die beschriebene Situation längst der Vergangenheit angehören.

Insbesondere in Klassen mit sonderpädagogischem Förderbedarf greifen solche vorschnellen Konzepte zu kurz. Eine über Jahre von Kindern in Alltagssituationen erfahrene Aggressivität lässt sich nicht mit der Proklamation der 10 Gebote - die darüber hinaus für genannte Kinder wenig erfahrungsgesättigt sind - aus der Welt schaffen. Hier geht es vor allem anderen zunächst einmal darum, Aggressivität als Lebensäußerung und Reaktion auf erfahrenes Leid ernst zu nehmen. Statt dessen wird in der Schule beschriebenes Verhalten mit tradierten Schulordnungen (die in der Regel nur selten in Kollegien auf ihre Sach- und Situationsangemessenheit hin reflektiert werden) oder mit Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen, die die Schulgesetze der Länder vorsehen, bekämpft. Das Praxisfeld Schule reagiert auf die Probleme lediglich systemimmanet. Der komplexen Situation wird man damit nicht gerecht, denn durch eine mittels institutioneller Mittel ausgeübte Macht kommt es in der Regel nur zu einer kurzzeitigen Hemmung der Realisierung unerwünschten aggressiven Verhaltens.

In dieser Logik sei die These gewagt, dass die Aggressivität der Schülerinnen und Schüler nicht ein Problem derselben sei, sondern ein Problem der Einrichtung, die sich täglich mit ihnen auf staatliches Geheiß hin auseinander zusetzen hat. So ist es die Schule, ihre Inhalte und die Formen ihrer Lehre, die beschriebenen Schülern nicht zu entsprechen vermag. Schule kann sich nicht präzise genug durch Pluralisierung ihrer Inhalte und Formen auf jene kulturellen Kontexte einstellen, aus denen die Kinder und Jugendlichen kommen und in denen sie täglich leben müssen, sobald sie die Schule verlassen. "Das gegenwärtige Schulsystem ist am Ideal kleinbürgerlicher Lebensformen orientiert", so beschreibt Gotthilf Gerhard Hiller provokant die aktuelle Situation. Ihre Verpflichtung des Nachwuchses auf bestimmte Formen von Rationalität, Emotionalität und Handlungsfähigkeit grenzt Schülerinnen und Schüler, die andere Formen des Vernünftigseins, des ästhetischen Genusses, der Symbolbildung und Interaktion für sich in Anspruch nehmen, aus.

Hier drängen sich Fragen auf: Was hindert Schule eigentlich daran, Kindern und Jugendlichen Räume bereitzustellen, in denen sie z.B. eine konstruktives Ausleben ihrer Aggressivität erlernen? Was hindert Schule daran, Kindern und Jugendlichen so etwas wie eine Kultivierung ihrer Aggressivität zu ermöglichen?

In der Arbeit mit benachteiligten Schülerinnen und Schülern hat sich die Bereitstellung von Erfahrungsräumen bewährt, in denen Schülerinnen und Schüler erleben können, wie Aggressivität auf andere Weise ausgelebt werden kann. Ein Religionsunterricht, der christliche Grundorientierungen, Werte, Sinngebungen und kulturellen Stereotype in angemessener Weise aufarbeiten will, muss sich, gerade im Bezug auf aggressive Kinder die Frage nach dem ‘Wie?’ als einem geplanten und organisierten Vorgang stellen. Wie eingangs bereits am Rande angemerkt, ist hier die in Schule täglich wiederkehrende Praxis der Sicherung und Erweiterung von Wissensbeständen nicht angezeigt. Sie kann nicht gelingen, da in Schule vermitteltes Wissen stets im Widerspruch zur Realität in Peer-Group und Elternhaus steht. So kommt es zu Brüchen zwischen dem, was gelehrt und dem, was erfahren wird. Mangelnde Integration schulischen Wissens und Skepsis gegenüber offiziellen Lehrangeboten sind die Folge.

Ich schlage daher eine Form des Lehrens vor, die auf das Phänomen reagiert, dass Menschen ihre körperlichen, geistigen und seelischen Dispositionen nur in dem Maße entfalten, regenerieren, kultivieren und erhalten können, als ihnen Räume zur Verfügung stehen, in denen sie diese in regelmäßig wiederkehrenden Formen der zweckfreien, spielerischen Übung und des übenden Spieles vervollkommnen können. Der Beweis, inwieweit eine Schule, die sich in einer Leistungsgesellschaft als Leistungsschule definiert, die Form des spielenden Übens einer kultivierten Aggressivität in ihr Handlungsrepertoire zu übernehmen in der Lage ist, steht noch aus.

Als Ansätze und weiterzuentwickelnde Ideen stelle ich daher nachstehende Spiele zur Diskussion. Sie sind nicht als fertige Produkte zu verstehen, sondern es gilt, sie individuell der jeweiligen Situation und den Bedürfnissen und Motivationen der Schülerinnen und Schüler anzupassen. Die Auswahl ist unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten zu differenzieren. Ein Teil der vorgestellten Spiele bietet eher Jungen Konfliktlösungsmöglichkeiten an, ein Teil wendet sich an Mädchen und weitere beinhalten in der Reflexion Klärungspotentiale für beide Gruppen. Ziel aller vorgestellten Beispiele ist, dass Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten eröffnet werden, um Rivalitäten auf körperlich ungefährliche Weise auszuagieren. Alle Spiele sind im Unterricht auszuwerten und auf ihre Übertragbarkeit in Alltagssituationen zu überprüfen und auf diesem Hintergrund weiterzuentwickeln.

 

Spiele zum Thema ‘Aggressionen’

Stop and go
Die Klasse verteilt sich über den gesamten Raum. Ruft ein Spieler ‘Go’, gehen/laufen alle herum. Ruft jemand ‘Stop’, bleiben alle stehen usw.
Variante:
Dieses Spiel kann auch schweigend gespielt werden. Dazu ist es notwendig, dass die Schülerinnen und Schüler sich genau beobachten. Bleibt eine(r) wortlos stehen, bleiben alle stehen.

Dieses Spiel eignet sich sehr gut, um Strukturen in der Gruppe offen zulegen. Es lässt sich darüber hinaus so umbauen, dass auch Probehandeln, wie das Aushalten von bestimmten Situationen, ermöglicht wird. Wichtig ist, dass anschließend über die Beobachtungen der Spielerinnen und Spieler gesprochen wird.

Kampf der Rivalen
Die Rivalen stehen sich gegenüber. Einer legt seine Hände auf die Schultern des anderen und versucht, ihn zu Boden zu pressen, bis dieser flach liegt. Dann reicht er ihm die Hand und hilft ihm wieder auf.

Leichtgewichtheben

Die Rivalen stehen sich zu zweit gegenüber und versuchen, einen Kugelschreiber möglichst lange mit ausgestrecktem Arm zu halten. Nachdem ein Gewinner feststeht, massieren sich beide abschließend die Arme.

Ringen
Zwei Gegner fassen sich kniend an den Händen und versuchen, sich gegenseitig auf den Boden zu drücken, so dass beide Schulterblätter den Boden berühren. Auch in diesem Spiel sollte der Sieger dem Besiegten bewusst auf die Beine helfen.

Geheime Botschaft
Zwei Schüler stehen sich in den Ecken des Klassenraumes gegenüber. Dazwischen stehen die anderen Schüler der Klasse. Nun muss der eine in der Ecke stehende Schüler dem in der anderen Ecke Stehenden etwas mitteilen (z.B. einen vorher zu ziehenden Begriff). Die anderen Schüler versuchen, durch lautes Dazwischenreden, Klatschen, Stampfen etc. die Übermittlung der Botschaft zu verhindern.

Rückendrücken
Zwei Spieler stellen sich Rücken an Rücken. Auf ein Zeichen versuchen sie, sich gegenseitig über eine zuvor festgelegte Linie zu drücken. Nach mehrmaligen Versuchen werden die Partner gewechselt.
Variante: Zwei Reihen werden gebildet, stellen sich Rücken an Rücken auf und nehmen sich an die Hand. Dann versucht die eine Reihe die andere über eine festgelegte Linie zu drücken.

Aus- oder Einbrechen
Die Schülerinnen und Schüler bilden einen engen Kreis. Zwei Schüler versuchen nun, von außen in den Kreis zu gelangen bzw. von innen aus dem Kreis zu gelangen. Wichtig ist, dass im anschließenden Gespräch darüber zu sprechen ist, ob das gezeigte Durchsetzungsverhalten auf andere Situationen übertragbar ist.

Durchmarsch
Die Klasse wird in zwei zahlenmäßig gleiche Gruppen geteilt. Beide Gruppen stehen sich jeweils mit dem Rücken zur Wand gegenüber. Nach einem vereinbarten Zeichen versuchen die Gruppen, die gegenüberliegende Wand zu erreichen. Dabei bemühen sie sich zu verhindern, dass Schüler der jeweils anderen Gruppe die eigene Wand erreichen.

Kampf in Zeitlupe
Zwei Schüler oder Schülerinnen stehen sich gegenüber und stellen einen Kampf in Zeitlupe nach, ohne wirklich zuzuschlagen. Ziel des Kampfes ist, den anderen zu verjagen. Der Kampf ist ohne wirkliche Treffer möglichst realistisch darzustellen. Beide Spieler bzw. Spielerinnen müssen ein gutes Reaktionsvermögen besitzen, um sich möglichst nicht zu verletzen.

Spiele zum Thema ‘Kooperation’
Insbesondere benachteiligten Schülerinnen und Schülern fällt es schwer, andere wahrzunehmen. Daher bieten sich Interaktionsspiele wie die folgenden an:

Gruppenstern
Im Kreis wird nach dem Muster 1, 2, 1, 2 ... abgezählt. Bei ungerader Zahl der Teilnehmenden spielt die Lehrerin/der Lehrer mit. Alle halten sich fest an den Händen. Die Füße stehen geschlossen auf dem Boden. Vorher wird festgelegt, wer das Kommando gibt. Auf das abgesprochene Kommando lassen sich die ‘Einser’ nach hinten fallen. Alle ‘Zweier’ lassen sich nach vorne fallen. So entsteht ein Stern. Auf ein neues Kommando werden gleichzeitig die Positionen gewechselt.

Pilot und Fluglotse
Es werden Paare gebildet, die sich gegenüberstehen. Aus der so entstandenen Reihe ergibt sich die Begrenzung der Landebahn. Ein Paar beginnt. Es steht auf der einen Seite der Schneise und muss versuchen, im Blindflug (Augen verbunden) zur Landung anzusetzen. Auf der anderen Seite steht sein Lotse und versucht, ihn durch verbale Steuerung ohne Schäden über das Rollfeld zu führen. Man kann dieses Spiel dadurch erschweren, dass bestimmte Hindernisse auf der Landebahn eingebaut werden. Minuspunkte gibt es, wenn der Pilot irgendwo anstößt.

Variante: Die Paare verteilen sich im Raum. Jeder Lotse gibt ein charakteristisches Signal von sich (z.B.: Summen, Piepsen...). Dem Partner werden nun die Augen verbunden und er orientiert sich aufgrund der von seinem Lotsen nacheinander abgegebenen Signale. Ertönt kein Signal, bleibt der Mitspieler stehen. Im Anschluss an das Spiel werden die Erfahrungen ausgewertet.

Die schwächste Maus
Eine Schülerin/ein Schüler wird zur Katze bestimmt. Die restlichen Schülerinnen und Schüler sind Mäuse. Die Mäuse stellen sich gegenüber von der Katze auf. Sie machen unauffällig aus, wer die schwächste sein soll. Das Ziel der Mäuse ist: Die schwächste Maus soll als letzte abgeschlagen werden. Alle anderen Mäuse verhalten sich entsprechend taktisch. Das Ziel der Katze: Möglichst schnell die schwächste Maus abzuschlagen. Wichtig ist, dass die Unterrichtenden das Ausprobieren mehrerer Taktiken fördern.

 

Spiele zum Thema ‘Mädchen-Jungen’

Anmache 
Die Jungen verlassen den Raum mit der Aufgabe, sich zu überlegen, wie sie mit den im Raum verbliebenen Mädchen Kontakt aufnehmen könnten. Sie kommen wieder in den Raum, und das Spiel beginnt. Anschließend Wechsel! Zum Schluss sollte das Spiel ausgewertet werden.

Tierfoto
Auf die Erde werden verschiedene Fotos von Tieren ausgebreitet. Dazu werden zwei Packpapierböden gelegt. Auf dem einen steht Mann auf dem anderen Frau. Jeder Mitspieler sucht sich gedanklich ein Tier aus, welches seiner Meinung nach besonders gut zu Mann bzw. zu Frau passt. Im Anschluss daran werden reihum die Begründungen abgefragt und stichpunktartig auf dem jeweiligen Bogen notiert. Dann wird eine Jungen- und eine Mädchengruppe gebildet. Beide diskutieren zunächst getrennt über ‘ihr’ Rollenplakat. Im Abschluss gibt es ein gemeinsames Gespräch.

Festung
Die Klasse wird in eine Jungengruppe und eine Mädchengruppe aufgeteilt. Jeder Gruppe denkt sich eine Methode/Berührung aus, bei der sie ihre Festung (einen engen Kreis) für die andere öffnet. Dann beginnt eine Gruppe mit der Eroberung der ‘gegnerischen’ Festung. Gelingt ihr das Eindringen, wird gewechselt. Wichtig ist, dass die Unterrichtenden darauf achten, dass es nicht zu wüst zugeht. Im Anschluss daran folgt die Auswertung.

 

Literatur

  • Goetze H.(Hrsg.): Pädagogik bei Verhaltensstörungen - Innovationen. Bad Heilbrunn 1994
  • Hiller, G. G.: Ausbruch aus dem Bildungskeller - Pädagogische Provokationen. Langenau-Ulm 1991
  • Myschker, N.: Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart; Berlin; Köln 1996

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1997

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