Religionsunterricht - Angebot unter Angeboten?*

von Bernhard Dressler

 

Die Angebots-Metapher im Titel dieses Textes schillert. Es ist wie bei kleinen Kipp-Bildern, die Sie vielleicht auch noch aus den Wundertüten der 50er Jahre kennen: Eine winzige Perspektivverschiebung genügt, um jeweils völlig verschiedene Bilder zu sehen. "Religion im Angebot": Damit werden sofort Marktmechanismen im freien Spiel von Angebot und Nachfrage konnotiert. Wo sich religiöse Anbieter auf den Markt begeben, scheint jene Verstrickung in eher abstoßend-aufdringliche Bemühungen um Marktnischen und Marktsegmente unvermeidlich zu sein, die beispielsweise den aktuell boomenden Markt esoterischer Billigangebote kennzeichnet, wie er sich vor den themeneinschlägigen Regalen von Bahnhofsbuchhandlungen oder beim Blick in die Inseratsspalten großstädtischer Veranstaltungsmagazine darbietet. Der trivialste Kitsch und die größten Banalitäten versprechen den tiefsten religiösen Erlebniswert, den höchsten Erlösungswert. Mit Bezug auf das Thema des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und auf die sich abzeichnende Tendenz, das Fach Religion wenn nicht abzuschaffen, so doch als Wahlpflichtfach gleichberechtigt neben andere religiöse und ethische Angebote zu stellen, drängt sich unter dieser Perspektive sofort die Frage auf, ob man denn die Auseinandersetzung mit einer Religion - oder den Versuch der Aneignung einer Religion - wählen kann, die beansprucht, eine nicht zur Wahl stehende Wahrheit zu verkündigen?

Andererseits - ich kippe das Bild um eine Nuance -: Wer ein Angebot macht, verzichtet auf Zwang und Aufdringlichkeit und erkennt die individuellen Rechte der Menschen an, denen etwas geboten wird: Es liegt an ihnen, was sie daraus machen. Die produktive Chance auf individuelle Aneignung öffnet sich dann freilich nur um den Preis des Risikos der Verweigerung: Was sich zwanglos einsichtig machen will, muss damit rechnen, auch abgelehnt werden zu können. In diesem Sinne respektiert die Haltung des Angebotes individuelle Entscheidungen mit nobler Zurückhaltung; oder vielleicht auch nur mit geschicktem pädagogischem Kalkül: Indem eine Option eröffnet, statt dass ein Zwang ausgeübt wird, darf das Angebot, wenn es denn akzeptiert wird, auf überzeugtere Akzeptanz hoffen. Und die Einsicht, dass z. B. Glaube nicht erzwungen werden kann - weder mit Gewalt noch mit Gründen -, ist ja nicht ganz neu. Wenn Glaube sich einer Gnade verdankt weiß, liegt es auch theologisch nahe, von einem Heilsangebot zu sprechen, dessen Bezweiflung oder Verschmähung zu den Bedingungen seiner Möglichkeit gehören.



Einige Schlaglichter zum Religionsunterricht

  • Wie vor 20 Jahren häufen sich Praxisberichte von Religionspädagogen über scharfe Aversionen der Schüler gegen biblische Texte und explizit „christliche“ Themen. Anders als vor 20 Jahren aber geht der allgegenwärtige Wunsch „Können wir nicht mal diskutieren?“ stark zurück. Verstärkt ist kritisch vom „Laberfach“ die Rede. Alles zu zerreden wird als öde empfunden. Vom „Stricken ohne Wolle“ geht kein Reiz mehr aus. Und noch deutlicher anders als vor 20 Jahren wird zwar noch selten, aber doch immer öfter von Schülerinnen und Schülern berichtet, die sich von der fremden Bildwelt biblischer Erzählungen durchaus faszinieren lassen, und sei es nur aus ästhetischen Gründen. Die Fremdheit wird so groß, dass der Wunsch nach Unkonventionalität sich nicht mehr einfach gegen die Bibel mobilisieren lässt.
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  • Im Zusammenhang mit der genervten Reaktion auf Chamäleon-Erwachsene, die sich an jede bei den Schülern erkennbare Zeitmode anzupassen versuchen, auf Berufsjugendliche also, die nicht mehr als Erwachsene identifizierbar sind, wächst, vermittelt über den Wunsch nach Identifizierbarkeit der Personen, auch das Interesse an der Identifizierbarkeit des Religionsunterrichts. Die früher von konservativen Kritikern des problemorientierten Religionsunterrichts öfter zu hörende Frage: „Was hat das denn noch mit Religion zu tun?“, ist nun vermehrt auch von Schülern zu hören, ohne dass das mit braver Angepasstheit oder dem zwanghaften Wunsch nach übersichtlicher Ordnung des Fächerkanons zu tun haben muss.
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  • Wahrscheinlich hat das etwas damit zu tun, dass im krassen Gegensatz zu den 70er Jahren Religion boomt. Damit schwinden die antikirchlichen oder antichristlichen Vorurteile keineswegs. Aber Religion wird in einer Weise wieder thematisierbar, die dem immer noch zu beobachtenden ängstlichen Vermeidungsverhalten, religiöse Themen also solche zu explizieren, Hohn spricht. Wo Sie auch hinsehen: In die seriösen Feuilletons, in die sozialwissenschaftlichen Expertisen, die nach neuen Quellen versiegenden Gemeinsinns suchen, in Naturwissenschaftsmagazine, in die Labors der Werbebüros - aber eben auch in die Lebenswelten der Schüler: Religion wird seit geraumer Zeit wieder zu einem Thema. Und ich rede nicht nur von einem Modethema wie Okkultismus. Heute enthalten Popsongs mehr explizite religiöse Motive, als Religionslehrer oft noch ihren Schülern meinen zumuten zu dürfen. Freilich: Ohne religiöse Bildung bleibt den Jugendlichen größtenteils ein reflektierter Zugang zu den ikonographischen Motiven verschlossen, mit denen z. B. Madonna in „Like a prayer“ spielt, verschlossen bleiben die eschatologischen Motive, die bei den „Toten Hosen“ anklingen („Bald kommt eine Zeit, in der das Wünschen wieder hilft“) oder das Spiel mit dem „Vaterunser“ auf deren neuester CD, verschlossen bleibt Bette Midlers merkwürdige Theismus-Reflexion in „From a distance“. Heute scheint also der Religionsunterricht die Schüler gerade dann gründlich zu verfehlen, wenn er mit den Themen und Mitteln einer ausschließlichen „Problemorientierung“ die vermeintlichen oder tatsächlichen Aversionen der Schüler zu unterlaufen versucht. Es ist wohl kaum nötig zu betonen, dass ich damit nichts gegen die Motive der Zeitgemäßheit, der Orientierung an der Lebenswelt und den Erfahrungen der Schüler vorbringe, sondern im Gegenteil dafür plädiere, diese Motive beim Wort zu nehmen und sie zeitdiagnostisch zu entstauben. Was meines Erachtens zunehmend problematischer wird, ist, als Religionslehrer stillschweigend zu unterstellen, meine Themen seien in der Wahrnehmungsperspektive der Schüler automatisch religiös, wenn ich nur als Person authentisch bin. Und die moralische Dignität der Schülerorientierung kann gegen die Explikation von Religion nicht mehr ausgespielt werden, wenn deren Interesse nicht mehr nur in einem irgendwie impliziten, sondern in einem durchaus konkretmaterialen Sinne mit Religion zu tun hat; genauer: Wenn der Anspruch der Schüler unübersehbar wird, dass ihre oft diffuse, frei vagabundierende Suche nach religiöser Orientierung in Bildungsprozessen artikulationsfähig gemacht wird.

 

Aspekte religiös-kultureller Pluralisierung

Ich will etwas genauer danach fragen, was der Prozess gesellschaftlich-kultureller Pluralisierung hinsichtlich religiöser Bildung bedeutet. Meine Ausgangsthese dabei ist, dass, sofern man von einer Krise der Religion in der modernen Kultur reden kann, diese Krise im Gegensatz zu einer bis in die 70er Jahre hinein dominierenden Sichtweise eher durch den modernen Pluralismus verursacht wurde als durch die sog. Säkularisierung. Gegenwärtig ist viel stärker von einer Grundlagenkrise der modernen Kultur generell als von einer Krise der Religion die Rede. Diese Grundlagenkrise hat jedenfalls eher mit wachsenden Zweifeln an den säkularen Gewissheiten der modernen Kultur zu tun - und darin sind religiöse Traditionen nur insofern involviert, wie sie diese ins Wanken geratenen säkularen Gewissheiten mit abzustützen schienen.

Zur Krise der säkularen Gewissheiten gehört, dass man immer weniger von einer universal gültigen Vernunft ausgehen zu können meint, deren Evidenz sich allen zwanglos erschloss, die Argumenten zugänglich waren und die sich - nach Kants berühmtem Diktum - ihres eigenen Verstandes mündig zu bedienen wagten. Mit der Mobilität der Lebensverhältnisse und der Globalisierung unseres Informations- und Denkhorizontes sind uns unübersehbar viele unterschiedliche Perspektiven auf die Welt möglich geworden. Um uns in der Pluralität orientieren und verständigen zu können, sind wir zur Übernahme vieler Perspektiven befreit und genötigt. Dahinter führt übrigens kein Weg mehr zurück. Die kulturelle Multiperspektivität ruht auf einem gesellschaftlich so tief verankerten und irreversiblen Strukturwandel auf, dass jeder Versuch, die Sicherheit einer selbstverständlich gültigen und als Wissen habbaren Weltdeutung zurück zu gewinnen, scheitern muss. Der Rückzug in traditionelle Milieus oder in kontextlose kulturelle Lebenswelten mit ihren verhaltensstabilisierenden Gewissheiten und unhinterfragbaren Konventionen ist uns versperrt. Damit aber sind alle weltanschaulichen und religiösen Konzepte nur noch als Deutungen denkbar; sie werden reflexiv, und zwar unabhängig von den intellektuellen Bildungsniveaus, auf denen wir über sie kommunizieren. Der Preis, den wir dafür zu zahlen haben, ist eine tiefgreifende Relativierung vormaliger Gewissheiten: "Pluralismus relativiert ... Die Modernisierung bedeutet einen gewaltigen Wandel von einer Welt, die durch das Schicksal bestimmt ist, zu einer Welt von Optionen."1 Peter L. Berger spricht von einem "Zwang zur Häresie" - so der Titel eines für unser Thema bedeutsamen Buches, in dem der Begriff der "Häresie" (hairesis) auf seine ursprüngliche Bedeutung, nämlich "Wahl" zurückgeführt wird.2 Wir stehen ausnahmslos alle unter einem "häretischen Imperativ", so dass "auch eine Orthodoxie - ja, gerade eine Orthodoxie - (...) heute kein Schicksal mehr (ist), sondern eine Option."3 Noch diejenigen, die sich gegen den Relativierungssog der religiösen Pluralisierung am entschiedensten wehren, die Fundamentalisten unterschiedlichster Provenienz, erkennen den "häretischen Imperativ" unfreiwillig an. Denn die fundamentalistische Reaktion ist überhaupt erst möglich unter den Bedingungen kultureller Modernität: Sie setzt den Verlust religiöser Selbstverständlichkeiten voraus, vor dem zwischen Menschen der gleichen Kultur allenfalls über unterschiedlich rigorose Lebensführungskonsequenzen gestritten werden konnte, nicht aber über den grundsätzlichen Geltungsanspruch einer Wahrheit - jedenfalls nicht innerhalb des Horizontes der Überzeugungen einer gemeinsam geteilten religiöskulturellen Lebenswelt. Die Fundamentalisten stellen mit ihrer Bekehrungs- und Entscheidungsrhetorik gleichsam zugespitzt die Tatsache bloß, dass der Zwang zur Wahl zugleich ein Zwang zur Subjektivität ist. Wenn wir uns zu religiösen Traditionen, von und mit denen wir ja weiterhin leben, nicht indifferent verhalten, sondern sie uns aneignen wollen, müssen sie durchs Nadelöhr subjektiver Aneignung, d. h. aber, sie werden zu subjektiven Interpretationsleistungen, mit denen wir uns selbst und die Welt deuten zu können hoffen - und sie müssen als solche subjektiven Interpretationsleistungen durchschaubar bleiben, samt der dazugehörigen reflexiven Distanznahme, wenn sie nicht in Fundamentalismus umkippen sollen. Die fundamentalistische Reaktion könnte man geradezu dadurch definieren, dass sie sich selbst als subjektive Interpretation undurchschaubar hält - sie verordnet sich selbst in dieser Hinsicht einen blinden Fleck.

Man kann sich die damit umrissene Problematik gut verdeutlichen mit einem Blick auf die Entwicklung der bildenden Kunst in der Moderne: Mit dem Verlust der Zentralperspektive (der Errungenschaft der Neuzeit!) lösen sich die bildnerischen Darstellungen am Beginn unseres Jahrhunderts in lauter Deutungsentwürfe auf, die selber wieder Deutungen evozieren (oder strikte Ablehnungen provozieren). Zum Schluss verlieren sie jeden Bezug aufs Gegenständliche als der vermeintlichen außersubjektiven Sicherheit. Wo nun unter den Vorzeichen der Postmoderne seit einiger Zeit der Gegenstandsbezug wieder gewonnen wird, so geschieht das nur in der ironischen Brechung von Zitaten, im Photorealismus beispielsweise auch im Zitat einer anderen Technik - oder es wird Kitsch. Umberto Eco, der in seinem Roman "Der Name der Rose" ein komplexes Feld von Zeichen und Zitaten mit der zentralperspektivischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts strukturiert, hat die Situation, in der die nachmodernen Menschen sich befinden, einmal so charakterisiert:

"Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, dass er ihr nicht sagen kann: 'Ich liebe dich inniglich', weil er weiß, dass sie weiß (und dass sie weiß, dass er weiß), dass genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: 'Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich!"

Mir liegt daran, den Prozess kultureller Pluralisierung weder zu verteufeln noch zu glorifizieren. Es ist ein ambivalenter Prozess von Chance und Irritation. Er enthält große Freiheitspotentiale und große Risiken. Er beansprucht uns und entlastet uns. Er mutet uns Unsicherheitstoleranz zu und vermittelt uns Zivilisationsgewinne im Umgang mit anderen, fremden Kulturen und Religionen. Er befreit uns aus bornierter Enge, aber überlastet auch unser Wahrnehmungs- und Orientierungsvermögen. Mit den Worten Peter L. Bergers: "Verglichen mit Menschen in traditionellen Gesellschaften ist der moderne Mensch viel freier und viel entfremdeter, und er ist das eine, weil er das andere ist, und umgekehrt."4 Kulturpessimistische Verfallstheorien sind ebenso unangebracht wie fröhlichfrivole Affirmation nach dem Motto "anything goes". Wenn wir die Regression in fundamentalistische Starheit vermeiden wollen, müssen wir freilich auch zur anderen Seite hin Grenzen ziehen. Denn es ist ja wahr, dass Pluralität die Gefahr indifferenter Beliebigkeit birgt. Und unser eines, zudem endliches Leben lässt es nicht zu, dass wir uns im dauernden Schwebezustand (selbst)ironischer Distanz einrichten. Es sei denn, wir wollten uns mit der schwebend reflektierten Art des Redens über sagen wir - die Liebe, wie sie uns im EcoZitat empfohlen wurde, zugleich auch den Ernst der Liebe selbst, die da gestanden wird, dementieren. Anders gesagt: Wenn auch, um beim Beispiel zu bleiben, Liebesbindungen nicht mehr Schicksale, sondern Optionen sind, hat das zwar Rückwirkungen auf die Art und Weise, wie wir sie erleben, sie werden deshalb aber nicht zwangsläufig unernsthafter oder unverbindlicher, höchstens anspruchsvoller und prekärer. Permissivität wäre nur ein problematischer Grenzfall des Wahlverhaltens.



Religion als Konsumangebot?

An dieser Stelle nun ist es angebracht, nicht mehr nur über Pluralität, sondern auch über den Markt zu reden. Denn es ist ein Kennzeichen unseres Wahlverhaltens als Konsumenten, dass es anderen, unverbindlicheren Kriterien folgt, als wenn wir uns zwischen verschiedenen Präferenzen hinsichtlich unserer Lebensführung und unserer Weltdeutung entscheiden. Man kann sogar sagen, es sei ein Symptom der Pathologisierung der Lebenswelt, wenn Marktregeln auf die Konzepte übergreifen, mit denen wir unsere Lebensgeschichte zu führen und zu verstehen versuchen.

Ich muss hier zunächst gleich einflechten, dass der Markt nur eine der Ursachen der Vervielfältigung der Angebote ist, dass Pluralität hingegen auch noch mit anderen Aspekten moderner Kultur eng zusammenhängt: Mit der Demokratie, also dem freien Wahlrecht und dem Recht auf Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit; ebenso mit dem Rechtsstaat, der es infolge der Rechtsgleichheit "jedem Bürger erlaubt, seine Mittel so zu verwenden, wie es im beliebt."5 Auch insofern ist klar, dass Pluralität also nicht allein durch die Regeln des Marktes qualifiziert wird.

Aber, ich sagte es schon, dort, wo kulturelle Lebensmuster, wo Moral und Religion nach dem Marktmodell der freien Konsumwahl präferiert werden, wo also die Spielregeln von Nachfrage und Angebot auch auf die Tiefendimensionen unseres Lebens ausgreifen, dort entstehen problematische Folgeprobleme des Pluralismus.

Wahrheitsansprüche machen sich auf andere Weise als die Qualitätsstandards von Waren oder Dienstleistungen geltend. Qualität schafft sich, einen funktionierenden Markt vorausgesetzt, ihre Nachfrage und richtet sich zugleich an der Nachfrage aus. Geltungsansprüche im Kontext von Wahrheitsfragen dagegen zielen zwar auf zwanglose Zustimmungsbereitschaft ab, sie leben aber prinzipiell nicht von der empirischen Zahl der Zustimmungen, die sie sich erwerben; sie stehen nicht zur Disposition von Mehrheitsentscheidungen. Weshalb ja beispielsweise auch die zentralen Grundwerte unserer Verfassung zwar begründungspflichtig und begründungsfähig sind, aber der demokratischen Abstimmbarkeit entzogen sind. Das gilt noch stärker für religiöse Wahrheitsansprüche. Sie verlangen unbedingte Geltung. Unter pluralistischen Bedingungen setzt das zwar die Unterscheidungsbereitschaft voraus, dass das, was für mich unbedingt gilt, nicht auch von anderen geteilt wird. Und es muss unterschieden werden zwischen dem, was für alle gelten soll, und jenem, was jeder nur für sich selbst gelten lässt. Unabhängig von diesen Unterscheidungen aber ist es für das gesellschaftliche Leben von höchster Bedeutung, dass die Zustimmbarkeit religiöser Gehalte nicht an empirischen Kriterien analog zur Konsumentennachfrage bemessen werden darf, wenn denn Wahrheitsfragen nicht ganz verstummen sollen und Pluralität nicht alle Verbindlichkeiten auflösen soll. Deshalb verbietet es sich nicht nur den Religionsgemeinschaften, sich wie Anbieter am Markt zu verhalten, sondern es kann auch nicht im Interesse der Funktionsregeln der Gesellschaft liegen.

Dass Moralen und Religionen trivialisiert zu werden drohen, wenn sie konsumiert werden wie Seifensorten oder Urlaubsziele, ist bereits im 19. Jahrhundert ein Thema der Sozialkritik. Demgegenüber neu ist heute, dass diese Kritik nicht mehr mit elitärer restaurativer Tendenz auf die Abschaffung von Pluralität abzielen kann, sondern unter Anerkennung pluralistischer Lebensverhältnisse formuliert werden muss. Das gilt für die großen christlichen Volkskirchen zumal, weil sie von ihrer inneren Pluralität leben, auch wenn der vom evangelischen Kirchentag bekannte "Markt der Möglichkeiten" die Frage nach Grenzen aufwirft, wenn etwa von der Militärseelsorge bis zum Radikalpazifismus ein irritierend breites Spektrum unter dem gleichen kirchlichen Dach ein Unterkommen findet.

Entscheidend ist, dass die Religionsgemeinschaften dem wichtigsten Kriterium professioneller Vermarktungsstrategien nicht genügen können: dem freien Produktwechsel. Am Markt müssen Renditen erzielt werden. Dabei kann dem Anbieter der konkrete Gebrauchswert seiner Waren letztlich gleichgültig bleiben. Bei Investitionsentscheidungen ist es allenfalls in zweiter Linie wichtig, ob Wanderstiefel oder Hochgeschwindigkeitsreifen vermarktet werden. Wer dagegen an sein Produkt gebunden ist, wie Bahn, Post oder Kirche, kann selbst bei flottester Werbung bestenfalls mitleidige Aufmerksamkeit als Publikumsreaktion erwarten.6 Der professionelle Marktanbieter glaubt weder an seine Produkte noch an deren Verpackung, sondern allein an die Marktgesetze. Dem Geld sieht man nicht an, womit es verdient wird. Auch die Tatsache, dass die Werbung zunehmend - mit ironisierender Brechung - religiöse Motive verwendet, mag zwar als Symptom und vielleicht auch als Verstärkung religiösen Wahlverhaltens interpretiert werden. Aber unzulässig ist der Umkehrschluss, dass es religiöse Angebote schadlos überstehen, wenn für sie um Konsumnachfrage geworben wird. Denn das zwingt zu Konzessionen. Wenn man die religiöse Tradition rekonstruiert, um sie marktfähig zu machen, muss man Glauben, Theologie und Kirche so darstellen, wie man glaubt, dass moderne Menschen das heute anstandslos plausibel oder relevant finden würden. Als marktfähiges Produkt wird der Glaube unter dieser Vorgabe leicht ununterscheidbar von anderen gängigen Ideologien, wird die Kirche ununterscheidbar von anderen Institutionen. Am Ende stünde die Selbstauflösung. Jetzt schon ist in der Kirche viel zu oft ein Anpassungsverhalten zu beobachten, das Fulbert Steffensky einmal als "vorauseilende Selbstverundeutlichung" bezeichnet hat. Damit läuft man in eine Falle: Indem man die Botschaft so formuliert, wie man sie dem Publikumsgeschmack nur noch zumuten zu können glaubt, verliert das Publikum das letzte Interesse, denn es besteht zu Recht auf einem identifizierbaren Profil der Botschaft, und zwar auch und gerade dann, wenn sie gegenüber dem, was alle sagen, befremdet. Die Kirche schuldet den Menschen die Fremdheit und die Widerständigkeit ihrer Tradition, ihrer Geschichten wie ihrer Liturgien, aber als um den höchsten Zuschlag werbende Anbieter bleiben wir das schuldig, was die Menschen von uns erwarten dürfen. Das lässt sich auch lerntheoretisch formulieren: Lernen geschieht immer durch Irritation von Vertrautem, durch kognitive Dissonanz. Auch deshalb können Lerninhalte nicht wie Waren vermittelt werden. Die Fremdheit von Lerninhalten entfaltet ihren Reiz erst nach Überwindung einer Lernanstrengung, nicht aber als dem Lernprozess vorausliegender Kaufanreiz. Freilich setzen Fremdheitserfahrungen Vertrautheiten voraus, weil Fremdes gar nicht anders als Fremdes wahrnehmbar ist. Dies ist - nebenbei bemerkt - ein starkes didaktisches Argument für Religionsunterricht mit Bezug auf eine bestimmte, nach Möglichkeit die eigene, Religion, in der das Wechselspiel von Fremdheit und Vertrautheit am besten zum Zuge kommen kann.



Schwierigkeiten des problemorientierten Religionsunterrichts

Der problemorientierte Religionsunterricht der vergangenen Jahrzehnte konnte dieser Problemlage nicht gut genug begegnen, weil sein korrelationsdidaktisches Modell die Wahrheitsfrage immer wieder zugunsten von Aktualitätsfragen zurückzustellen drohte. Motive der christlichen Überlieferung wurden mit lebensweltlichen Problem so korreliert, dass sich ein Schnittfeld von Gemeinsamkeiten ergab. Dieses Modell funktionierte aufgrund der Annahme, dass Grundpositionen einer aufgeklärten, an Menschenrechten und Emanzipation orientierten Moderne mit den Grundmotiven der christlichen Überlieferung sachlich zur Deckung zu bringen sind. Daran ist sicher richtig, dass das Christentum in die Geschichte der modernen Freiheitsbewegung intensiv involviert ist. In den Masken der Zeit begegnet das Christentum immer wieder sich selbst und seiner eigenen Problematik. Unter der Hand wurden aber damit die Normen und Zeitdiagnosen einer aufgeklärt-modernen Weltanschauung zum Begründungshorizont der Themen des Religionsunterrichts. Die christliche Überlieferung kam nur ins Spiel, insofern sie mit den Positionen moderner Vernunft übereinstimmte. Der Religionsunterricht entlastete sich von eigenen Begründungspflichten, indem er gewissermaßen im Windschatten der positiven Voreingenommenheiten segelte, in deren Sichtweise aufgeklärte Vernunft selbst nicht mehr begründungsbedürftig ist. Das Fremde und Abgründige der Religion, die vernunftkritischen, humanismuskritischen, fortschrittskritischen Aspekte der christlichen Überlieferung mussten ausgeblendet werden - als gäbe es gar keine Wahrheitskonkurrenz zwischen dem christlichen Glauben und einer autonomen menschlichen Vernunft, die sich selbst begründen zu können meint.

Um es zugespitzt zu sagen: Der problemorientierte Religionsunterricht stand - übrigens eher in der Praxis als in seinen konzeptionellen Entwürfen - in der Gefahr, an den Zeitdiagnosen säkularer Human- und Sozialwissenschaften zu schmarotzen, statt sich um eigene christliche, theologischreflektierte Zeitdiagnosen zu bemühen. Damit wären hohe Ansprüche an die theologische Kompetenz der Religionslehrerinnen und Religionslehrer gestellt, und zwar ausdrücklich nicht einfach an den Umfang und die Systematik ihres theologischen Wissens, sondern daran, elementare theologische Grundmotive zeitdiagnostisch fruchtbar werden zu lassen; wenn Sie so wollen: problemorientiert aufzuschlüsseln. Im Grund genommen handelt es sich hierbei darum, Schluss zu machen mit der funktionalen Indienststellung von Religion, der Instrumentalisierung von Religion im Sinne bestimmter politisch-weltanschaulicher Konzepte. Damit wurde nämlich - oft noch dazu im Gewande von Religionskritik - genau der religionskritischen Karikatur von Religion entsprochen, wonach Religion immer im Dienst bestimmter politischweltanschaulicher Interessen stehe. Es entbehrt ja nicht einer gewissen Ironie, dass heute dem Religionsunterricht unter umgekehrten, konservativ-restaurativen Vorzeichen das gleiche zugemutet wird: mittels Werteerziehung den ideologischen Kitt zu liefern, der unsere Gesellschaft zusammenhält.



Religion unter dem Zwang zur Subjektivität

Wie nun lässt sich die christliche Religion unter Anerkennung pluralistischer Bedingungen und aufgrund der genannten guten didaktischen Gründe - nämlich auf subjektive Aneignung abzielen zu müssen - als Angebot darstellen, ohne sich den Regeln der freien Konsumwahl anzupassen - ohne also nur unkritisch eine Nachfrage mit dem Ziel des höchsten Verkaufserfolges zu bedienen?

Jede religiöse Orientierung steht heute, so sagte ich, unter dem Vorzeichen einer Wahl. Religions- und Jugendsoziologen sprechen im Hinblick auf das Wahlverhalten von Jugendlichen von "Patchwork-Identitäten", davon also, dass sich die Subjekte die Deutungskonzepte, mit denen sie sich und die Welt zu begreifen versuchen, collageartig "zusammenbasteln", indem sie sich aus den unterschiedlichsten Angeboten bedienen. Als Kriterium dient dabei nunmehr nur noch subjektive Evidenz. Tendenziell entstehen dabei so viele verschiedene Religionen wie es Individuen gibt. Damit wächst indessen die Begründungspflicht - von keiner traditionellen Selbstverständlichkeit, von keiner konventionellen Orientierungsstruktur mehr entlastet - ins Unermessliche. Der Gewinn, sich nicht mehr ohne Begründung unter eine Tradition beugen zu müssen, wird erkauft mit dem Preis permanenter Selbstüberforderung. Deshalb zielt der in Zusammenhang mit der Diagnose solcher "Bastelreligionen" oft zu hörende unterschwellige Vorwurf ins Leere, hier werde frei von jeder Denkanstrengung eine Selbstbedienungsmentalität sichtbar, mit der einfach nur fröhlich alle möglichen Traditionen geplündert werden. Die Bastelarbeit ist vielmehr höchst anstrengend, und die Anstrengung ist prinzipiell unabschließbar, weil keines ihrer Ergebnisse halten kann, was man sich von ihm verspricht. So wird vielleicht verständlich, dass die Begründungspflichtigen versuchen, vor argumentativen Ansprüchen auszuweichen in einen Erlebnis- und Betroffenheitskult, in subjektive Evidenzen also, die einem rationalen Diskurs entzogen sind, weil in ihnen Gefühlsintensitäten und nicht gedankliche Nachvollziehbarkeiten (intersubjektive Gültigkeit) die Maßstäbe liefern. Aber diese Intensitäten sind flüchtig. Nach ihnen folgt oft Katerstimmung wie nach verflogenem Rausch - und die Suche nach neuen Reizen wird unablässig neu stimuliert, wenn sie nicht in resignativer Indifferenz ganz aufgegeben wird.
Wahlzwang ist, das erleben gegenwärtig Erwachsene wie Jugendliche, anstrengend und ergebnisarm. Das gilt für  alle Dimensionen des Lebensalltags.7 Alle Wege stehen in der Schule, im Beruf, im Privatleben, im Hinblick auf meine psychische und physische Gesundheit offen. Wenn ich die Chancen nicht nutze, ist es allein meine Schuld. Alles ist möglich, und alles, was unmöglich ist, ist nur mir unmöglich. Schauen Sie einmal in die einschlägigen Ratgeber der Jugendzeitschriften: Da wird im Tonfall plappernder Leichtigkeit der rigideste Leistungsdruck verbreitet. Ich bin zu unattraktiv oder gar zu dick? Das muss nicht sein, ich habe nur noch nicht das passende Out-fit oder Diät-Programm gewählt. Und wenn sich beim ersten Zärtlichkeitsaustausch in der Pubertät nicht gleich jenes Gefühl einstellt, das neulich in der "Bravo" als dazugehörig beschrieben wurde, habe ich mich wohl zu dumm angestellt. Nicht sündig zu sein, sondern nicht gut genug zu sein gegenüber den strengen Anforderungen der Individualitätskultur, das ist das damit verbundene Belastungserlebnis. Die Erlebnisform von Sünde, so könnte man sagen, ist nicht mehr die Übertretung einer moralischen Norm, sondern das Verpassen einer Chance zur eigenen Identitätsfindung, zur Attraktivitäts- und Individualitätssteigerung. Dieses Verpassen ist allerdings fest programmiert, denn wo ein Zwang zur Individualität herrscht, streicht sie sich selbst durch, wird sie systematisch verfehlt. "Du hast keine Chance, aber nutze sie!" - Das ist die trotzig-realistische Entgegnung von Jugendlichen auf die Unbarmherzigkeiten der Wahlzwänge.

In den Paradoxien des jugendlichen Lebensalltags spiegelt sich genau wieder, was seit einiger Zeit als Krise neuzeitlicher Subjektivität verhandelt wird: Wo das Subjekt sich als Sinnkonstrukteur begreift, verfehlt es systematisch Sinn. Am Ende seiner hochgreifenden Aufbrüche ist das Subjekt von massiven Selbstzweifeln geplagt, schwankend zwischen Allmachtsanspruch und Ohnmachtsgefühl - es kann und soll alles leisten, und sieht sich nicht in der Lage, irgend etwas wesentliches zu verändern.

Vor diesem Hintergrund greift die Kritik an der Bastelmentalität zu kurz, wenn damit das Prinzip subjektiver Aneignung nicht zugleich anerkannt und problematisiert wird. Es reicht nicht aus, den Synkretismus der religiösen Selbstkonzepte zu kritisieren, indem ihnen fertige Gestalten von Religion als geschlossene Alternativen entgegengesetzt werden. Denn da jede angeeignete Weltdeutung den Charakter des Gewählten und des damit potentiell Ablehnbaren erhält, würde damit der Wahlzwang nicht unterlaufen, sondern nur verschärft werden. Es käme unter der Vielzahl der Optionen nur eine weitere Option ins Spiel - und sei es die durch die eigene Kulturgeschichte besonders nahe liegende des Christentums -, und zwar mit ihrem besonderen Geltungsanspruch und ihrer besonderen Geschlossenheit und ihrem besonderen Stoffreichtum.

Da, wenn wir an den schulischen Religionsunterricht denken, die "Erlebnisnachfrage", also die selektive Wahrnehmung von Evidenzen nach den Kriterien des Intensitätshungers, kaum zu bedienen ist, hätte dieses Angebot nicht mit besonderer Aufmerksamkeit zu rechnen. Bestenfalls würde das in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler entstehende Patchwork etwas vielgestaltiger, womöglich auch von christlichen Versatzstücken dominiert. Das wäre nicht nichts, aber weder käme eine Kritik der Bastelmentalität auf diese Weise zum Zuge, noch würde an den synkretistischen Gestalten der individualisierten Religionen sich grundsätzlich etwas ändern.



Lernziel des Religionsunterrichts: Veränderung der Weltwahrnehmung

Der christliche Glaube hat unter diesen Voraussetzungen seine Chance also nicht als besonders gutes Angebot, als Superangebot, auch nicht als subventioniertes, also von Konkurrenz entlastetes Angebot, nicht als Lösung der Fragen nach Selbst- und Weltdeutungen, sondern als ein Vorschlag zur Problemformulierung. Religionsunterricht muss angeleitet sein von einer elementaren Theologie, die helfen kann, die geschilderten lebensweltlichen Probleme erst einmal neu und anders zu analysieren, bevor sie sich damit überhebt, Problemlösungen anzubieten. Dann dürften aber nicht Traditionsstoffe unverbunden neben der Lebensweltanalyse stehen, sondern müsste ihr ideologiekritisches Potential immer auch zeitdiagnostisch entfaltet werden. Die überforderten und sich überfordernden Subjekte müssten allererst als solche ernst genommen werden, statt dass die Untauglichkeit ihrer Versuche, sich in der Pluralität zu orientieren, denunziert wird - und sei es auch nur unterschwellig durch einen Überlegenheitsanspruch gegenüber der Patchwork-Religiosität.

Wenn gegenwärtig viel von Werteverfall und Werteschwund die Rede ist, wird zumeist verkannt, dass nicht zu wenig, sondern zu viel Werte im Sinne der Pluralität von Lebensführungspräferenzen zur Wahl stehen. Das Problem ist, dass Werte immer weniger zum einigenden Band einer Kultur taugen, sie werden vielmehr zum Unterscheidungsmerkmal der Individuen. Jedes Angebot, und sei es auch privilegiert durch besondere Relevanz wie das Christentum, verschärft nur die Konkurrenz, erweitert im besten Fall die Optionen der Bastelarbeit und trägt im nicht unwahrscheinlichen schlechtesten Fall zur Orientierungsunsicherheit durch Pluralitätszuwachs bei. Darüber hinaus sind übrigens Werte keine Handlungsregulative, sondern Kommunikationsmedien, Strukturierungshilfen bei moralischen Kommunikationen. Alle Untersuchungen zeigen, dass Einstellungen von Personen und ihr faktisches Verhalten kaum korrelieren. Werte sind viel zu flüchtig und zu opak, als dass man darauf eine Gesellschaft gründen könnte, die doch durch allgemeine und deshalb abstrakte Regeln zusammengehalten wird: Recht, Macht, Geld - aber auch Anerkennungsbereitschaft und Liebe. Die Alternativen für den Religionsunterricht liegen deshalb gar nicht auf der Ebene, religiöse Konzepte anzubieten; weder nach dem Modell des Warenhauses mit breiter Angebotspalette, noch nach dem Modell des staatlich lizensierten Monopolanbieters auf einem protektionistisch geschützten Markt. Vielmehr muss im Religionsunterricht eine orientierende Perspektive eröffnet werden, eine Blickrichtung auf die Pluralität, die diese nicht negiert, nicht selektiert, sondern ordnet und damit lebbar macht. Religionsunterricht zielt so verstanden ab auf Lebensführungskompetenz unter den Zumutungen von Pluralität. Darin liegt sein Bildungsgehalt: Nicht als ein Bildungsstoff unter anderen Bildungsstoffen, also auch nicht als fertiges Deutungssystem, sondern als Angebot einer Hypothese, in deren Licht sich die Welt und meine Stellung in der Welt neu darstellt und ordnet. Kein Lerngegenstand, sondern eine Wahrnehmungsperspektive ist das Angebot des Religionsunterrichts.

Ein Probedenken, mit dem sich - in einem anderen Bilde formuliert - wie unter den Wirkungen eines Magnetfeldes die Konfigurationen der Dinge des Lebens neu strukturieren. Nicht nur der Magnet selber wäre das Thema, sondern vor allem seine Wirkungen. Der Wandel der lebensweltlichen Konstellationen im Licht der vorgeschlagenen Hypothese böte dann Evidenzkriterien, die freilich die Unterrichtenden wie die Lernenden nötigen würden, Alltagswissen neu zu rekonstruieren, Religion als Deutungshaltung zu erschließen und nicht als ein vom Alltagsleben abgesondertes kulturelles Material. Religionsunterricht ohne lebenspraktischen Bezug hat wenig Sinn, gelingender Religionsunterricht soll die Möglichkeit eröffnen, mich, mein Leben und die Welt um mich herum anders zu sehen als vorher. Metanoia Sinneswandel, Umkehr - es hat gute Gründe, nicht vorschnell auf solche Begriffe aus der christlichen Verkündigungspraxis zurückzugreifen. Aber der von Heinz Schmidt vorgeschlagene Begriff der „Transformation“8 hat damit durchaus etwas zu tun. Schüler sollen im Religionsunterricht bestimmte konventionelle, als selbstverständlich geltende Anschauungen und Verhaltensregeln verlernen und einen neuen Blick auf sich und die Welt erlernen. Zumindest soll das, was sie vorher über sich und die Welt sagen zu können glaubten, nicht mehr in einem platten Sinne selbstverständlich sein. „Muss man das so sehen?“ - das ist wohl die zentrale methodische Frage im Religionsunterricht gegenüber den Weltsichten, die ihren eigenen hohen wertenden Gehalt und Deutungsgehalt dadurch verbergen, dass sie sich als empirisches Wissen darstellen. Es soll sich erweisen können, dass die Vorhaltungen, die der säkulare Vernunftglaube gegen die Religion einwendet, auf ihn selbst zurückfallen: seine heiligen Dogmen zu immunisieren, indem er sie einer Letztbegründungspflicht entzieht. Das „Transformationspotential“ des christlichen Glaubens kommt nur zur Geltung, indem es nicht abstrakt deduziert wird - das können sich allenfalls Lehrbücher der Systematischen Theologie erlauben -, sondern immer schon an lebensweltlich gehaltvollen Themen- und Problemkonstellationen dargestellt und entfaltet wird. Im lebensweltlichen Bezug findet der Religionsunterricht allererst seine „Stoffe“. Soweit hatte das Konzept des problemorientierten Religionsunterrichts durchaus recht.9

Der Bildungsgewinn der Lernenden bestünde darin, dass sie in ihrer Deutungskompetenz gefördert und in ihrer Deutungsarbeit entlastet werden. Jedenfalls würden die Belastungen durch den auf Dauer gestellten Wahlzwang selbst zu den Themen gehören: Muss ich mich unter dem Anspruch sehen, mich dauernd als Individuum selbst rechtfertigen zu müssen? Wie könnte ich mich unter der Perspektive verstehen, dass ich mich nicht mir selbst verdanke? Was bedeutet die Erfahrung, dass uns das Leben - mit all unserem Wissen - von uns aus nicht gelingt? Bietet die im Biologieunterricht gelernte und inzwischen als Weltanschauung übermächtig gewordene Deutung der Welt als ein anonymes Evolutionsgeschehen die einzige mögliche Perspektive, oder hat sie ihre Erklärungsgrenzen, jenseits derer die Welt als Schöpfung Gottes weiter trägt und plausibler erscheint? Lässt sich die ganze Welt, mich eingeschlossen, als System mathematisch berechenbarer Mechanismen erfassen, oder bietet nicht das aus der Bibel ablesbare Spiel poetischer Metaphern ein reicheres und angemesseneres Sprachangebot für meine Lebenserfahrungen? Ist das resignierte Einverständnis mit der Ungerechtigkeit einer Welt, in der der Tod das letzte Wort hat, mit meinen Lebenshoffnungen vereinbar, oder setzen diese nicht Gott voraus?

Religion10 ist nicht nur, wie sie sich unter soziologischer Perspektive darstellt, ein Teilbereich menschlichen Lebens, ein "kulturelles Teilsystem", sondern christliche Religion ist eine Hypothese, unter der das gesamte Leben, alle kulturellen Teilbereiche insgesamt kritisch wahrgenommen werden können. Für den Religionsunterricht erklärt sich daraus hinsichtlich der Normierungsprobleme seine Sonderstellung nach Art. 7,3 GG: Ein kultureller Teilbereich, die Kirche, beansprucht ein eigenständiges, vom Staat unabhängiges Interpretationsrecht aller kulturellen Teilbereiche einschließlich der staatlichen Grundordnungen und Grundwerte. Um aber die von gesellschaftlichen Übereinkünften unabhängige und nur so kritisch wirksame normierende Kraft der Religion didaktisch zur Geltung zu bringen, kann sie nicht einfach wie ein Faktum, wie ein materialer Stoff dargestellt werden. Religionsunterricht kann nicht ausgehen von der Feststellung "deus datur" (es gibt Gott); er darf sich aber auch nicht - wie es leider oft geschieht - den Bedingungen wissenschaftlicher Plausibilität unterwerfen, wie sie in allen anderen Fächern mit der Arbeitshypothese des methodischen Atheismus gilt: "etsi deus non daretur" (als ob es Gott nicht gäbe); im Religionsunterricht wird vielmehr gelernt, was es bedeuten könnte, die Welt wahrzunehmen, "etsi deus daretur" (als wenn es Gott gäbe).11 Eben darin beruht die Möglichkeit kritischer Wahrnehmung, dass die uns gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangene kulturelle Übereinkunft durchbrochen wird, wonach unser Wissen über die Welt ohne Gott funktioniert und wir dementsprechend in den Regelfällen des Lebens gottlos kommunizieren. Mit diesem kritischen Perspektivwechsel kommt allererst das Fremde der Religion zur Geltung, das, was die modernen Subjekte sich nicht leichthin einverleiben können. Das wäre nur unzureichend möglich, wenn Religion nur als kulturelles Anschauungsmaterial begegnen würde - also in der Perspektive einer neutralen Religionskunde, die ja gerade jenen Standards des Wissens unterliegt, die ohnehin gelten und in deren Licht sich die Welt so darstellt, wie wir sie immer schon wahrzunehmen gewohnt sind. Ein religionskundlicher Unterricht kann Wissensangebote machen, kann gewissermaßen den Markt der religiösen Angebote bestenfalls wie eine Verbraucherberatung überblicken und sortieren helfen; er kann aber nicht Religion mit lebensinterpretierender Kompetenz in die Schule einbringen. Nur so aber könnte eine Religion erschlossen werden, könnte wenigstens eine Ahnung ihres Vollzugssinns gewonnen werden.

Für den Religionsunterricht bedeutet das nicht nur einen hohen Anspruch, sondern auch eine strikte Bescheidung: Er zielt nicht auf Glauben ab. Der Glaube an Gott ist zwar lehr- und lernbar, soweit es Anschauungsformen betrifft. Der Vorbehalt des Heiligen Geistes darf hier nicht zu früh eingewandt werden. Ob aber Lernende sich von der probeweise angenommenen Hypothese eines Blicks auf die Welt aus der Sicht des christlichen Glaubens so überzeugen lassen, dass ihnen daraus eine ihr Leben tragende und ihr Leben verändernde Kraft erwächst, liegt nicht in der Reichweite didaktisch operationalisierbarer Intentionen. Insofern macht der Religionsunterricht "nur" ein Angebot. Man kann sagen, der Religionsunterricht intendiert nicht Glauben, er zielt auf Bildung ab, denn Bildung besteht nicht in der Anhäufung von Wissensstoff, sondern im Erwerb von Lebensführungskompetenz. Dazu gehört die Fähigkeit, die eigene Lebensgeschichte und die sie umgreifende Welt auch an den Grenzen dessen, was wir davon wissen können, zu deuten. Und zu Bildung in diesem Sinn gehört die Fähigkeit zu reflexiver Distanznahme. Erst im Abstand reflexiver Distanz gewinne ich ja ein Blickfeld. Ich muss dazu aber wissen, dass ich eine Blickrichtung einnehme und von wo aus ich blicke. Religionsunterricht, so kann man deshalb weiter sagen, unterrichtet aus einem Glauben heraus - und er legt diese Tatsache offen. Er soll deshalb von Seiten des Perspektivangebotes - der Lehrenden und der Lehre - bekenntnisgebunden sein, gerade um für die Lernenden bekenntnisoffen bleiben zu können. Wenn Glaube nicht das Ziel ist, so ist er doch Ausgangspunkt: Glaube wird nicht gebildet, sondern Glaube bildet. Religionsunterricht ist Glaubensunterricht nicht im Sinne eines genitivus objectivus, sondern eines genitivus subjectivus.12



Religion ist mehr als Ethik

Ich habe damit implizit schon einige Gründe mit genannt, warum es sinnvoll und sachangemessen ist, den Religionsunterricht auch an staatlichen Schulen nicht ohne Mitgestaltungsrechte der Religionsgemeinschaften anzubieten, was dann konsequenter Weise das Recht auf Verweigerung der Annahme dieses Angebotes, also auf Abmeldung vom Religionsunterricht einschließt, weil sonst Pluralität nicht ernst genommen wird. Ich kann die Gründe für die konfessionelle Gestaltung des Religionsunterrichts hier nicht weiter umfassend und systematisch ausführen, sondern nur in der eingeschlagenen Gedankenrichtung noch deutlicher machen, warum das Angebot einer Perspektive nur gelingen kann, wenn die Unterrichtenden ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ausweisen und die Lernenden sich - mit den nötigen Distanzierungsspielräumen - auf die Erschließung einer Religion einzulassen bereit sind. Religion schließt mehr ein als moralische Regeln und Mechanismen zur sozialen Integration. Gerade als hypothetisch einnehmbare Deutungsperspektive spricht Religion Orientierungsbedürfnisse an, die allen handlungspraktischen Fragen vorausliegen.

Gegenüber der fortschrittlichen Aufbruchstimmung vor über 20 Jahren mit ihren Reformimpulsen für Veränderungspraxis stehen heute Probleme eines Bewahrungsverhaltens im Mittelpunkt. Damit wird aber auch der ethische Reduktionismus fragwürdig, mit dem die Themen des Religionsunterrichts häufig auf problemlösendes Handeln gefluchtet wurden. Im Lichte der gegenwärtigen Krise kann die Welt nicht mehr so optimistisch verändert werden, ohne sie dauernd retten zu müssen. Ein auf Ethik reduzierter Religionsunterricht würde in dieser Situation sich und die Schüler mit einem überanstrengten Moralismus unentwegt überfordern. Und er würde sich übrigens auch unehrlich machen, weil Ratlosigkeit in ihm keinen Platz hätte.

An dieser Stelle komme ich auf die Beobachtungen über die veränderte Situation an den Schulen zurück. Ich sagte, Religion boomt. Man muss sich davor hüten, die Wiederkehr des Religiösen als eine konjunkturelle Zeitmode zu interpretieren. Es gibt gute Gründe, darin vielmehr das Symptom eines viel epochaleren Wandels zu sehen, der eng mit der angesprochenen kulturellen Krise zusammenhängt. Der Fortschrittsoptimismus des Zeitalters der Aufklärung hat sich am Ende unseres Jahrhunderts erschöpft - gleich, ob in seiner utopisch-enthusiastischen oder in seiner nüchtern-pragmatischen Variante. Dieser Fortschrittsoptismus war an zwei weltanschauliche Voraussetzungen gebunden: den Glauben an die Autonomie des Menschen (als Individuum wie als Menschheit) und den Glauben an die Machbarkeit unserer Lebensbedingungen. Autonomie und Machbarkeitsglaube werden vor unseren Augen bodenlos und darin in ihrer Begrenztheit kenntlich. Autonomie und Machbarkeitsglaube lebten davon, die Grenze zwischen dem, über was wir Menschen verfügen können, und dem Unverfügbaren einzuebnen. Nicht nur im Sinne des technisch Möglichen, sondern auch im Sinne des moralisch Erlaubten. Pointiert gesagt: Nichts blieb mehr heilig.

An dieser Stelle ist heute die Frage nach Gott öffentlich neu aufzuwerfen: Es ist notwendig, sie neu aufzuwerfen, und es ist möglich, sie neu aufzuwerfen. In einem die christliche Religion einschließenden aber durchaus übergreifenden Sinne kann man sagen, dass uns heute der Mangel an einer Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren schmerzlich bewusst wird, und damit der Mangel an Religion.13 Die christliche Religion hat in diese Zeitkonstellation (wie die zwei Brennpunkte einer Ellipse) den Glauben an Gott den Schöpfer und den Glauben an Gottes Versöhnungshandeln in Jesus Christus neu einzubringen und durchzubuchstabieren: Die scharfe Grenze unserer Autonomie und unseres Machbarkeitsglaubens ist dadurch gezogen, dass wir uns nicht uns selbst verdanken (und daher auch nicht autonom begründen können) und dass wir unser Leben nicht selbst heil machen können (und daher auch vor Gott nicht rechtfertigen können). Es ist ja nebenbei bemerkt schon erstaunlich, wie haarscharf an die Einsichten der angeblich obsolet gewordenen Sünden- und Rechtfertigungslehre heute beispielsweise psychoanalytisch orientierte Reflexionen über die Zwänge menschlicher Selbstverwirklichung heranreichen.

Indem in religiöser Perspektive gerade das Unverfügbare als Handlungs- und Wissensgrenze in den Blick kommt, schließt jede verstehende Aneignung von Religion nicht nur Gedankenfiguren, diskursiv zu behandelnde Gründe und Gesichtspunkte ein, in denen ausgeblendet bleibt, dass Religionen durch Formen symbolischer Gestaltung und feierlicher Begehung konstituiert werden, durch Formen der Kommunikation mit dem oder angesichts des Heiligen: Gebet, Ritual und Liturgie, Erzähl- und Erinnerungskultur, Gemeinschaftsformen, Zeichen und Gebärden, deren künstlerische Gestaltung usw.. Aspekte von Religion lassen sich zwar bis zu einem gewissen Grade auch im Gespräch über Religion diskutieren, d.h. sprachlich nach Regeln argumentativer Schlüssigkeit, logischer Widerspruchsfreiheit, wechselseitiger Anerkennung der Diskutierenden behandeln. Sie lassen sich so aber nicht erschöpfend behandeln. Warum wir beten oder nicht beten, mit welchem inneren Erleben und mit welchen Deutungen wir an einer Abendmahlsfeier teilnehmen oder die Teilnahme daran ablehnen, warum und in welchen Situationen ich einen Kniefall für angemessen oder für beschämend und peinlich halte, warum ich als Muslimin die Teilnahme am Sportunterricht in einer koedukativen Lerngruppe für unzumutbar halte, warum wir den Feiertag heiligen oder ihn zur Disposition wirtschaftlicher Kostenrechnungen stellen oder der Freizeitindustrie zum Opfer darbringen wollen, warum wir Leben für unantastbar, für heilig halten oder davon Ausnahmen nach Kriterien der Lebensqualität zulassen wollen - das sind Themen, die sich nicht ohne Substanzverlust in die Sprachformen und Sprachregeln eines rationalen Diskurses übersetzen lassen. Das hat zum einen mit der Tatsache zu tun, dass religiöse Sprachformen, Zeichen und Metaphern nach eigenen Kommunikationsregeln funktionieren. Zum anderen damit, dass jeder Diskurs - zumindest im Idealfall - auf einen Konsens abzielt, und wo dieser nicht erreichbar ist, auf Mehrheitsentscheidungen. Es ist aber mein Recht, dass ich das, was mir heilig ist, meinen religiösen Glauben, nicht zur Disposition eines öffentlichen Konsenses stellen muss.

Freilich: Religiöse Bildung wird nicht dadurch überflüssig, dass sich die in ihr anzusprechenden Themen - wohlgemerkt: nicht vollständig - rationaler Argumentation entziehen. Sie hat vielmehr zur Aufgabe, den richtigen, sachangemessenen, durchaus regelrechten Gebrauch (oder die sachangemessene Verweigerung des Gebrauchs) religiöser Sprachformen, Zeichen, Kodierungen zu erschließen. Sie hat z. B. nachvollziehbar zu machen, dass die Metaphern: "Dieser Mensch ist der Sohn Gottes", oder "Die Welt ist Gottes Schöpfung" nicht nach Regeln empirischer Tatsachenfeststellungen funktionieren. Sie hat z. B. auf Kohärenzregeln hinzuweisen, also auf innere Stimmigkeit des Zeichengebrauches. Stimmigkeitskriterien helfen nun aber, die Urteilsfähigkeit gegenüber den Patchwork-Religionen zu entwickeln, ohne vorschnell mit einem materialen Kanon, einem Bestand an Lehraussagen, die individuelle Religion als Resultat freier Komposition massiv zu kritisieren. Auch so wird der puren Beliebigkeit gewehrt, aber die Grenze der Beliebigkeit wird nun an Evidenzkriterien deutlich, die Jugendliche auch ohne religiöses Hintergrundwissen verstehen können - und sei es auf einer ästhetischen Ebene. So kann dann vielleicht ein Verständnis dafür langsam wieder wachsen, dass es verpflichtende Traditionen gibt, die ein Ethos weiter tragen, das nicht ohne bestimmte Erzählgemeinschaften und Erinnerungskulturen überlebt. Mit der Tradition kann ich streiten, aber ich kann sie nicht beliebig sortieren und plündern. Das wäre gewissermaßen ein Ziel: Das unvermeidbare Wahlverhalten zu transformieren in einen Respekt vor Traditionen, die von mir nicht verlangen, mich ihnen zu unterwerfen, denen gegenüber ich aber nicht schon deshalb klüger bin, weil ich sie nicht verstehe. Fragen nach Kohärenzregeln könnten beispielsweise so lauten: Wo kann ein Kniefall angemessen sein? Warum lässt sich der Auferstehungsglaube nicht als Reinkarnationshoffnung denken? Warum sind Gebet und okkultes Gläserrücken unvereinbar? Warum beißt es sich, wenn ich am gleichen Halskettchen das Kreuz und das Ying- und Yang-Zeichen trage? Wo verletze ich die Gefühle eines Moslems, wenn ich ihm Lebensregeln unseres Kulturkreises aufnötige? Es wird hierbei u. a. auch ganz schlicht darum gehen, Geschmacksbildung zu betreiben, die umso nötiger ist, wenn man sieht, wie etwa im Konsum naturreligiöser oder ostasiatischer Exotika eine Art "Umarmungskitsch" entsteht, der die tiefe Missachtung des angeblich so geschätzten Fremden augenscheinlich werden lässt. Unter dem Vorzeichen der Frage nach Kohärenzregeln und Stimmigkeitskriterien liegt ein Vergleich nahe: Das Erlernen einer Fremdsprache ist sicher nicht möglich allein am Stoff grammatischer Regeln, sondern nur "problemorientiert", also in konkreten Gebrauchssituationen. Grammatisches Regelwissen ist aber unverzichtbar. Im Religionsunterricht ist sozusagen an Beispielen des "problemorientierten" Gebrauches die Grammatik des religiösen Zeichengebrauchs zu lernen. Die genannten Fragen deuten zugleich darauf hin, dass religiöse Bildung auch die Einsicht vermitteln soll, dass ich mit meinen religiösen Fragen und Antworten, mit meiner religiösen Praxis wie mit meinem Verzicht auf religiöse Praxis mich immer schon in einem bestimmten Traditionsstrom vorfinde. Bei allem Zwang zu subjektiver Entscheidung: Ich kann meine Religion nicht individuell machen, sondern habe Religion oder lehne Religion ab innerhalb angeeigneter, d.h. nicht selbst ausgedachter Regeln und Formen. Und darin liegt durchaus nicht notwendig ein Zwang, der einengender ist als der Zwang zur individuellen Wahl.

In der Schule wird die Erschließung einer Religion sorgfältig von der Einübung in eine Religion unterschieden werden müssen. Reflexive Distanznahme - und zwar nach Regeln und nicht nur in ironischer Brechung - muss jedem Schüler in jeder Unterrichtssituation möglich sein. In der empirischen Sozialforschung gibt es die Methode der teilnehmenden Beobachtung. Schülern mit einem unkritisch-undistanzierten Verhältnis zur eigenen Religion - sofern es das noch gibt - wäre zumindest so etwas wie beobachtende Teilnahme an der Praxis ihrer Religion im Unterricht zu offerieren. Ich darf im Unterricht z. B. die Erwartungen von Jugendlichen an die Zukunft in Bitten umformulieren lassen und daran die Aufgabe der angemessenen Gestaltung einer liturgischen Form oder eines Gebetstextes experimentell anschließen. Das ist deutlich zu unterscheiden von gemeinsamem Beten. Aber auch das geht nicht von einem metatheoretischen oder einem religionswissenschaftlich-neutralem Standpunkt aus. Religiöse Kommunikationspraxis und religiöser Zeichengebrauch lassen sich nicht an der Konstruktion einer "allgemeinen Religion" lernen, sondern nur am Beispiel einer konkreten, empirischen Religion, an unseren Schulen noch überwiegend die christliche Religion. Aus der Bildungstheorie wissen wir, dass das Allgemeine in der Bildung nicht direkt und unmittelbar zugänglich ist, sondern sich nur im und am Besonderen erschließt. Dem entspricht, dass auch in Gesellschaften, die auf allgemeinen, univeral gültigen Regeln beruhen, die Motivationskraft dafür nur in der Pluralität der überschaubaren Formen besonderer "communities" entsteht. Das ist eine Entdeckung des seit ca. einem halben Jahrzehnt aus den USA in den westeuropäischen Sozialwissenschaften rezipierten "Kommunitarismus".14 Menschliche Normen und Lebensperspektiven, das hat der Kommunitarismus gezeigt, wachsen in einer Tradition und nicht über ihr - und so ist Konfessionslosigkeit gerade nicht die Voraussetzung einer allgemeinen humanistischen und konfessionsneutralen Perspektive, wie es in Europa eigentlich immer vom Standpunkt der Aufklärung insinuiert wurde. Multikulturalismus ist kein Pluralismus von individuellen Menschen, sondern von religiösen und kulturellen Milieus.

Ohne Teilnahme an der Praxis und der Lebensform einer konkreten Religion werde ich auch die fremde Religion anderer Menschen nicht wirklich achten können, geschweige denn verstehen - wenn das überhaupt möglich ist. Die Reflexion der Erfahrungen des sog. interreligiösen Dialogs stimmen hier zunehmend skeptisch. Der Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel hat neulich in einer polemischen Auseinandersetzung mit der Forderung nach einem allgemeinen Religionsunterricht für alle eingewandt, dass ja auch niemand auf die Idee komme, weil in unseren Schulen viele Sprachen gesprochen werden, anstelle von Deutsch oder Englisch nur noch Esperanto zu lehren oder es gleich bei Piktogrammen, Logos und Graffitis zu belassen.15 D. h. im Hinblick auf die Religionslehrer, dass ihre Kompetenz sich nicht auf pädagogisch-didaktisches Geschick und auf theologisches Reflexionswissen beschränken darf, sondern zudem eigener kommunizierender Teilhabe an einer Religion bedarf. Ich muss hier nicht weiter ausführen, dass sich beispielsweise für den Musikunterricht ähnliches sagen lässt: Nur durch musikhistorisches Wissen und die Fähigkeit, Partituren zu lesen, ohne also Musik auch zu hören, lässt sich weder lehren noch lernen, was Musik bedeutet.

Für die christliche Religion, über die ich teilweise nur unter der Hand mitgesprochen habe, galt schon immer, dass sie die Praxis eines Glaubens ist, der erst dann möglich wird, wenn die Selbstverständlichkeit der Welt ins Wanken kommt. Schon in der hebräischen Bibel führt Gott sein Volk zu einer neuen Freiheit gegenüber allen falschen Geborgenheiten der Welt. Die Fleischtöpfe des Sklavenhauses Ägypten waren umso attraktiver, je zweifelhafter es wurde, ob der Weg durch die Wüste denn auch wirklich ins gelobte Land führen würde. Der "Mut, Unsicherheiten auszuhalten"16 , kennzeichnet die Religionen der jüdisch-christlichen Tradition mehr als die Suche nach innerweltlichen Sicherheiten und Geborgenheiten. Insbesondere der evangelische Religionsunterricht, der der reformatorischen individuellen Freiheit des Glaubens verpflichtet bleibt, enthält ein Angebot, "Unsicherheitstoleranz" gegenüber dem Irritationspotential unübersichtlicher Lebenswirklichkeiten zu erweitern, statt die plurale Vielfalt trotzig zugunsten eines zweifelhaften Sicherheitsbedürfnisses auszublenden.



Religionsunterricht als Wahlpflicht-Angebot?

Ich will zum Schluss nur noch einen kurzen Blick auf die organisatorischen Formen werfen, in denen der Religionsunterricht als "Angebot unter Angeboten" zu stehen käme, ohne sich in der Abstraktheit allgemeiner Religiosität oder allgemeinen religionskundlichen Wissens zu verlieren, aber auch ohne sich unter der Form des Angebotes unkenntlich zu machen und den Wünschen der Konsumentennachfrage auszuliefern. Art. 7,3 GG zieht staatlichen Normierungen eine strikte Grenze und unterbindet den Ansatz abstrakt-allgemeiner Religionskunde für alle, ohne Abmelderecht. Eine staatliche Zivilreligion hat ohnehin keinen Rückhalt im bundesrepublikanischen Verfassungsverständnis. Gewiss trägt diese Regelung, ohne dass das 1949 so schon absehbar war, auch den Bedingungen von Pluralität in hohem Maße Rechnung. Dass im Rahmen dieser Regelung ein Ersatzfach ermöglicht wurde - Ethikunterricht bzw. das Fach Werte und Normen -, war 1949 nicht ausdrücklich bedacht, läuft aber durchaus dem Sinn dieser Konstruktion nicht zuwider. Dennoch: Das damit intendierte "Standardmodell" entspricht in absehbarer Zeit nicht mehr der pluralen Wirklichkeit. Das gilt jetzt schon weitgehend für die neuen Bundesländer. Nach diesem Standardmodell versammeln sich die Angehörigen der beiden großen christlichen Konfessionen zu ihrem jeweiligen Religionsunterricht und eine Minderheit meldet sich ab. Dieser Religionsunterricht war und ist insofern nicht "Kirche in der Schule", als sich in ihm keine Kultusgemeinde bildet, sondern eine Lerngruppe zum Zweck einer Bildungsveranstaltung. Nun aber sind Situationen in Rechnung zu stellen, in denen Schülermehrheiten nicht mehr einer der beiden christlichen Religionen angehören. Wir stehen vor einer Erosion nicht mehr nur der konfessionellen Zugehörigkeit, sondern auch der Zugehörigkeits-Verbindlichkeit. Bereits 1971 hat der Rat der EKD betont, dass der Regelfall Ausnahmen zulässt:

Im evangelischen Religionsunterricht können ungetaufte Schüler ebenso teilnehmen wie Angehörige anderer Religionsgemeinschaften. Die konfessionelle Homogenität der Lerngruppen wird nicht länger als Bedingung der konfessionellen Positionalität gedacht. Damit wird anerkannt, dass im Religionsunterricht nicht mehr nur eine vorgefundene Praxis nachträglich reflektiert wird. Die Fähigkeit, Religion zu reflektieren, ist dann nicht mehr nur als eine im Religionsunterricht zu erwartende Kompetenz zu entwickeln. Reflexivität ist eine der Entscheidung für einen Religionsunterricht - oder für das Ersatzfach - immer schon vorausgehende Nötigung. Zudem wächst aber in einer Immigrationsgesellschaft die Notwendigkeit, Religionsunterricht auch für andere Religionsgemeinschaften einzurichten. Das gilt in erster Linie für den Islam. Es ist ein 1949 nicht absehbares Glück, dass in einigen deutschen Großstädten bereits jüdischer Religionsunterricht wieder stattfinden kann. Auch nach der geltenden Rechtslage ist ohne weiteres das Nebeneinander von mehreren Religionsunterrichten und einem konfessionell nicht gebundenen Ersatzfach möglich. Es ist aber fraglich, ob die dieser Rechtslage zugrunde liegenden Begründungen noch stimmig bleiben können, wenn - sagen wir - 80 % der Schülerschaft konfessionell ungebunden ist und sich in hohem Mdasse für das Ersatzfach entscheidet, und eine Minderheit sich in die nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilten Unterrichtsangebote aufteilt. Unter der Hand wird dann doch ein vom Staat zu normierendes Angebot zum Regelfall. Inhaltlich stellt sich dann die Frage, wie auch dieser Mehrheit Religionen zugänglich gemacht werden können - wenn denn die Gesprächsfähigkeit gegenüber anderen Religionen eine Voraussetzung für das Zusammenleben von Menschen in einer multireligiösen Gesellschaft ist. Organisatorisch stellt sich die Frage, wie eine Versäulung nebeneinander unverbundener Unterrichtsangebote verhindert werden kann. Das von der Denkschrift der EKD ("Identität und Verständigung") vorgeschlagene Modell einer Fächergruppe "Religion - Ethik - Philosophie" bietet die Möglichkeit, in einem Wahlpflichtbereich die Angebote verschiedener Religionsgemeinschaften in obligatorischen Differenzierungsphasen wahrzunehmen - neben Integrationsphasen gemeinsamen Lernens, aber auch gemeinsamen handlungspraktischen Gestaltens des innerschulischen Zusammenlebens. In diesem Verbund kann der evangelische Religionsunterricht ein "Angebot unter Angeboten" sein, ohne sein eigenständiges Profil zu verlieren.


*Überarbeitete Fassung meines Vortrags vor der 46. Loccumer Schulrätekonferenz im Mai 1996
Schließlich erkennt, wer ein Angebot macht, Pluralität als positive Bedingung unserer Lebensverhältnisse an: Nur wenn es keine Wahrheitskonkurrenz gäbe, dürfte eine Wahrheit sich als einzige Möglichkeit aufdrängen. Unsere Themen ("Religion im Angebot" und "Angebot unter Angeboten") verweisen uns also auf die Begriffe "Markt" und "Pluralität" als zwei konstitutiven Aspekten moderner Kultur.
Bevor ich dem weiter nachgehe, will ich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit und analytische Kohärenz - einige Schlaglichter zum Religionsunterricht voranstellen, damit wenigstens andeutungsweise erkennbar wird, in Bezug auf welchen religionspädagogischen Kontext das Problem wachsender Pluralität bedacht werden soll.

 

Anmerkungen

  1. Peter L. Berger: Pluralistische Angebote. Kirche auf dem Markt; in: Leben im Angebot. Das Angebot des Lebens. Protestantische Orientierung in der modernen Welt, hrg. vom Kirchenamt der EKD im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 1994, S. 38.
  2. Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1980
  3. Peter L. Berger: Pluralistische Angebote, a.a.O., S. 40.
  4. Umberto Eco: Nachschrift zum "Namen der Rose", München 1984, S. 78f.
  5. Peter L. Berger: A.a.O., S. 38.
  6. A.a.O., S. 35.
  7. Vgl. Kurt Hennl: Apostatische Postmodernismen; in: Arbeitshilfe f. d. ev. RRU an Gymnasien, Aktuelle Information, Folge 26, Erlangen 1991.
  8. Zum folgenden vgl. Michael Meyer-Blanck: Last der Freiheit. Konfirmanden zwischen Individualität und Beheimatung; in: Lutherische Monatshefte 12/1994, S. 12-16.
  9. Heinz Schmidt: Brennpunkte des Religionsunterrichts. Sinn, Person, Erfahrung; in: AfdeRG („Rote Hefte“) 49, Hannover 1991, S. 61ff. Siehe auch: Religion, Bildung und Religionspädagogik - Loccumer Thesen, in: „Loccumer Pelikan“ 3/94, S. 35-39 (hier bes.: These 9).
  10. Vgl. Loccumer Thesen, a.a.O.; hier: These 10.
  11. Folgender Gedankengang lehnt sich eng an Ausführungen von Michael Meyer-Blanck an (Religion und Leben. Der Streit um „LER“ und der künftige Religionsunterricht; in „Loccumer Pelikan“ 4/95, S. 156), die wiederum die Spuren eines intensiven Gedankenaustausches im Dozentenkollegium des RPI Loccum nicht verbergen können.
  12. Vgl. Michael Meyer-Blanck: Jugend - Theologie - Bekenntnis. Theologisches Denken bei Lehrenden und Lernenden in der Konfirmandenarbeit, in: „Loccumer Pelikan“ 1/96, S. 37.
  13. Michael Meyer-Blanck: Religion und Leben, a.a.O., S. 156.
  14. Hermann Lübbe definiert, im Unterschied zu seinem bekannter gewordenen Diktum von der „Kontingenzbewältigung“, Religion als dasjenige Verhalten, das sich zur Dimension der Unverfügbarkeit des Lebens verhält; vgl. ders.: Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986, S. 149.
  15. Vgl. dazu Hermann Pius Siller: Konfessionalität und Perspektivenübernahme. Der Beitrag des katholischen Religionsunterrichts zur Allgemeinbildung; in: Schule und Kirche. Informationen für katholische Lehrerinnen und Lehrer in Hessen, Nr. 1/1995, S. 3. Zum Kommunitarismus siehe auch Christel Zahlmann (Hg.): Kommunitarismus in der Diskussion, o.O. (Rotbuch-Verlag) 1992.
  16. Rainer Winkel: LER bleibt leer, DLZ 23/1995, S. 1.
  17. Peter L. Berger: A.a.O., S. 46

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1996

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