Ein Unterrichtsentwurf für die Grundschule
Theologisch-didaktische Überlegungen
Gehört Martin Luther mit all seinen theologiegeschichtlichen Verknüpfungen und spätmittelalterlichen Vorraussetzungen in die Grundschule? Die Entscheidung für die Aufnahme des Themas und der Einheit entstand aus der Erfahrung im Miteinander katholischer und evangelischer Schüler. Die mit Neugierde korrespondierende Unwissenheit über die Konfession der anderen ist ein wichtiger Aspekt.
Im Kontext des Miteinanders der Konfessionen sind die Fragen Martin Luthers "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?", "Wie erfahre ich Gottes Gerechtigkeit?" dem Grundschüler zunächst nicht einleuchtend. Kein Schüler stellt sich diese Frage so oder so ähnlich. Luthers Ausgangsfrage nach dem gnädigen Gott führt zu keiner existentiellen Betroffenheit. Schon vom Stand seiner Entwicklung und seiner Glaubensgeschichte kann ein Grundschüler das Problem nicht verstehen.
Eine menschliche Grunderfahrung wird aber auch für den etwa 10jährigen sichtbar: die Lebensfrage nach dem Angenommensein. Luther trifft im Ergebnis auch die Situation der Schüler. Es ist eine grundlegende Erfahrung, unbedingt geliebt zu werden. Gott hat jeden Menschen lieb. Gott hat jeden Menschen auch in seiner Fehlerhaftigkeit und mit seiner Schlechtigkeit vorab angenommen. Diese Erkenntnis ist sowohl evangelisches wie katholisches Glaubensgut. Es wird den Grundschülern deutlich, dass in Luthers neuem Zugang zu Gott ein Grundsatz wirksam wird der von der Welt sonst nicht ohne weiteres praktiziert wird: die Annahme des Unvollkommenen, des Schwachen, dessen, der versagt hat.
Von dieser Einsicht her kann der Schüler unvermittelt Brücken in die eigene Lebenswirklichkeit bauen. Verhaltensänderungen ergeben sich nicht theoretisch, sondern sind vor Ort gegenüber dem "Dummen", dem "Störer", dem "Schwächling" oder der "Heulsuse" sofort aufzeigbar. Auch als Unterrichtender kann ich hier im Ansatz ganz praktisch Erfahrungen des Angenommenseins in der Klasse weitergeben.
Eine Schwierigkeit allen christlichen Handelns taucht hier auf. Veränderungen im Sozialverhalten auf dem Hintergrund geschenkter Gnade dürfen keinesfalls appellativ beim Schüler ankommen. Der Charakter der Antwort auf eigenes Beschenktsein muss deutlich bleiben!
Grundschüler in der 4. Klasse befinden sich in einem historischen Fragealter. Erstmals werden sie mit Landkarten und der Zeitleiste vertraut gemacht. Wirkliche und phantasierte Welten aus Büchern, Film und Fernsehen können auseinandergehalten und aufeinander bezogen werden. Darum ist das Thema sinnvoll im Zusammenhang mit der Frage nach der Trennung der beiden großen christlichen Konfessionen behandelt. Historische Einschätzungen helfen den Schülern in diesem Lebensabschnitt, Wirklichkeit zu verstehen. Trennung der Konfessionen ist für die Schüler sichtbar. Sie hören von konfessionsverschiedenen Ehen, sehen die unterschiedlichen Kirchengebäude, erleben die Praxis ihres Religionsunterrichts und die Trennung in der kirchlichen Unterweisung, die mit dem Konfirmandenunterricht für sie begonnen hat.
Mit der - wenn auch stark vereinfachten - Lehre von der Rechtfertigung, des Angenommenseins bei Gott sind wir mitten in einem interkonfessionellen Dialog. Die weiterhin gültigen Unterschiede in den Theologien der großen Konfessionen werden weder verschleiert noch ausgeklammert. Der Rechtfertigungsglaube wird aber in der fünften Stunde im Sinne Peschs zum Ausgangspunkt des Suchens der beiden großen Konfessionen nach neuen gemeinsamen Wegen. Damit eröffnet der Unterricht im Ansatz eine erste ökumenische Dimension.
Die christliche Lehre von der Rechtfertigung des Sünders zeigt darüber hinaus ein Gegenmodell zum gesellschaftlichen Umgang mit Schuld und Sühne auf. Der Anfragecharakter: "Ist das bei uns auch so?" ist gewollt und wird für die Schüler mit zunehmendem Alter noch an Bedeutung gewinnen.
Die von Günther Klages hergestellte Verbindung der Frage nach dem gütigen Gott mit der aktuellen Frage nach einer Sinnerfüllung unseres Lebens halte ich prinzipiell für angemessen und praktikabel. Von einer 4. Grundschulklasse ist dieser Transfer jedoch noch nicht zu leisten und muss einer späteren Jahrgangsstufe vorbehalten bleiben. Die Sinnfrage ist den 10jährigen so noch nicht nahe zu bringen.
Die Arbeit mit Symbolen spielt in der religionspädagogischen Diskussion eine immer größere Rolle. Im Unterricht wird versucht, Anregungen aus der Symboldidaktik aufzunehmen und den zentralen Begriff der Rechtfertigung über ein Symbol zu erarbeiten. Die Annahme des Sünders, die Rechtfertigung ohne eigenes Verdienst, wird im Symbol der Brücke aufgenommen. Die Brücke taucht in der Lebens- und Erfahrungswelt der Schüler auf. Im "Nassen Dreieck" an der Unterelbe haben die Kinder mit Brücken Erfahrungen gemacht, wissen, dass sie Übergänge ermöglichen und wichtig sind. Die Brücke wird verbal nicht weiter erklärt. Ihr Bau wird im Verlauf der Stunde inszeniert, um einen vertiefenden Einblick in ihre Symbolik zu geben.
Lernziele
In der Einheit Evangelisch-Katholisch stehen für das Thema Martin Luther zwei Stunden zur Verfügung.
In der ersten dieser beiden Stunden haben die Schüler in Geschichtserzählung und zeitgenössischen Bildern von Luther und seiner Zeit erfahren. Sie haben sozialgeschichtliche Informationen erhalten. Es wurden Angst und Bedrohungen auch vor dem zornigen Gott kennengelernt. Die Schüler haben anhand der Materialien Lösungsversuche Luthers und seiner Zeitgenossen bei der Suche nach einem gnädigen Gott herausgefunden und schriftlich festgehalten.
In der zweiten Stunde über Martin Luther sollen die Schüler
- die Untauglichkeit der eingeschlagenen Wege im Gespräch herausfinden,
- die Vergleichbarkeit der Liebe Gottes und der Liebe ihrer Eltern entdecken,
- den Weg von der Angst und der Anfechtung Luthers hin zum Vertrauen auf die Gnade Gottes nachvollziehen,
- von der befreienden Wirkung des reformatorischen Durchbruchs bei Martin Luther hören.
In der abschließenden Stunde sollen die Schüler die Gerechtigkeit in ihrer Lebenswelt übertragen und die Gottesgerechtigkeit als Anfrage an unsere Lebenspraxis erkennen. Vom gemeinsamen Ursprung der Kirchen her soll ein Ausblick in die Zukunft versucht werden.
Methodische Überlegungen
Die Methoden zur Behandlung des Themas unterscheiden sich von denen, die sonst im Kirchen- und Profangeschichtsunterricht verwendet werden. Für die Grundschule werden andere Schwerpunkte gesetzt. Es wird überdies versucht, Elemente des handlungsorientierten Unterrichts aufzunehmen. Der Altersstufe kommt die Geschichtserzählung sehr entgegen. Fakten werden in Handlungen und Motive übersetzt. Personalisierte, aktionsreiche Berichte erklären vielschichtige Begriffe, Zustände und Konflikte.
Forschungsergebnisse werden so in ihre Entstehungsabläufe zurückversetzt und durch notwendiges Hintergrundwissen ergänzt. Die durch Luther vorgezeichnete Personalisierung des Zusammenhangs bietet altersgemäß die Möglichkeit der Identifikation und motiviert. Die Leseszene ist in dieser Stunde nur eine Variante der Geschichtserzählung. Sie spricht durch Beteiligung mehrerer Personen noch direkter als Bild und Erzählung an und beteiligt mehrere Personen.
Sehr geeignet erscheint mir die Verwendung zeitgenössischen Bildmaterials, besonders der thematischen Holzschnitte. Sie werden in der ersten Stunde über Martin Luther eingesetzt. Es werden hier vergleichbar mit heutiger Comic-Literatur Bildgeschichten erzählt, die mit wenigen erläuternden Worten auskommen. Diese Erläuterungen liefern die Holzschnitte und selbst Altarbilder oftmals mit.
Hinführung zum Thema
Als Einstieg dient der Klasse ein Puzzle. Die Schüler finden sich in Gruppen zu viert oder fünft zusammen und erhalten je Gruppe ein Arbeitsblatt. Darauf ist ein Weg angedeutet, der durch einen tiefen Graben unterbrochen ist. Auf der linken Bildseite steht ein Mann in schwarzem Gewand mit auffallender Frisur. Die Schüler erkennen ihn an Haartracht und Bekleidung als den Mönch Martin Luther. Sie haben in der vorausgehenden Stunde von ihm gehört. Auf der rechten Bildseite ruht über dem Weg eine Wolke, die den Schriftzug "Gott unser Vater" trägt.
Zur Erläuterung des Arbeitsauftrages dient die Ergebnissicherung der vorangegangenen Stunde. In jener Stunde wurde ein Einblick in die Zeit des ausgehenden Mittelalters gegeben. Es wurde von den Bedrohungen und Ängsten der Menschen gesprochen. Die Schüler haben von der Angst vor dem zornigen Gott erfahren und von den Versuchen, Gottes Liebe, Gnade und Vergebung zu erlangen. Erst jetzt werden Puzzleteile ausgegeben. Diese tragen die Bezeichnung eben jener Lösungsversuche, die jeder Schüler als Ergebnis in seiner Religionsmappe vorliegen hat: Beichten, Fasten, Wallfahrten, Almosengeben, Klosterleben. Der Arbeitsauftrag lautet, aus dem Puzzleteilen eine Brücke zu bauen, die zu Gott hinüberführt.
Erarbeitung
Nach einigen Minuten werden die Arbeitsgruppen zu dem Ergebnis kommen, dass die Puzzleteile nicht ausreichen. Wir unterbrechen das Puzzle und führen über das Fehlen der Teile ein Gespräch. Wir vollziehen nach, was Luther in seinen Anfechtungen erlebt hat, wenn wir das Unvermögen erkennen, mit den beschriebenen Bausteinen eine Brücke zu schlagen. Spielerisch erfahren die Schüler: Der Mensch kann viel tun, um "zu Gott zu gelangen", er wird sich jedoch selbst keinen Zugang schaffen. Nimmt das Gespräch nicht die gewünschte Richtung hilft der Hinweis auf die Liebe der Eltern. Vater oder Mutter lieben auch das unvollkommene, auch das ungezogene Kind. Elterliche Liebe und Vergebung kann ebenso wenig wie die Liebe, Gnade und Vergebung Gottes erworben werden, sie wird geschenkt. Schüler aus relativ stabilen familiären Verhältnissen können hier an die eigenen Erfahrungen anknüpfen. Der Vergleich mit der Elternliebe wird im nächsten Abschnitt explizit wieder aufgenommen.
Es schließt sich eine Leseszene aus dem Kloster an. Eine mit verteilten Rollen vorgetragene Geschichtserzählung bietet den reformatorischen Durchbruch Luthers in kindgerechter Form. Die Behauptung eines "Turmerlebnisses" halte ich in dieser Form für legitim. Die Schüler lesen bzw. hören noch einmal, dass Liebe Gottes und Liebe der Eltern stets Geschenke sind.
Luthers Erkenntnis, unser Stundenergebnis hat Konsequenzen. Erneut werden Puzzleteile an die Arbeitsgruppen ausgegeben. Die Brücke zu Gott, der Weg hinüber kann vollendet werden. Der Brückenschlag erfolgt von der Seite Gottes her. Die neuen Bausteine tragen Namen der "Brückenschläge Gottes" in unsere Welt: "Jesus, Gottes Sohn; Gottes Vergebung unserer Schuld; Gottes Liebe, Gewissheit im Glauben; Mut zum Leben. Nachdem zusammen mit den ersten Puzzleteilen eine Brückenkonstruktion zwischen Gott und Mensch möglich ist, werden die Einzelteile auf das Arbeitsblatt aufgeklebt. Hilfestellung leisten Folien am Overheadprojektor. Es wird bildhaft deutlich, dass die Verbindung zwischen Gott und den Menschen allein durch die Werke Gottes hergestellt werden kann.
Die bildhafte Darstellung dieser reformatorischen Erkenntnis Martin Luthers birgt eine Gefahr in sich. Die Brücke unsere Puzzles wird vollständig auch durch die guten Werke auf der linken Brückenhälfte. Es liegt hier das Missverständnis verborgen, dass eben doch eigenes Tun die Verbindung zu Gott mitgestaltet. Um diese Gefahr wissend müssen die Beiträge der Schüler aufmerksam gehört und eventuell korrigiert werden. Auch der bildliche Brückenschlag muss deshalb ohne jene missverständlichen Teile auskommen und über den Graben hinüberführen. Aus diesem Grund sind die drei zentralen Brückenteile auffallend groß gewählt.
Ergebnissicherung
Eine Ergebnissicherung wird zum Ende der Stunde mit der Bearbeitung eines Lückentextes versucht. Die Schüler übertragen den Stoff von der Bildebene zurück auf die Sachebene. Die Sozialform wird gewechselt. Lückentexte sind bei den Schülern überaus beliebt und werden in aller Regel sachgerecht bearbeitet. Der Lückentext bietet am Ende der Stunde die Möglichkeit, den unberechenbaren Zeitfaktor auszugleichen. Der Text kann ganz bearbeitet oder als Hausaufgabe aufgegeben werden.
| Lernschritte / Phasen | Inhalt | Methoden: Lern- verhalten | Schüler- verhalten | Medien | Be- merkungen |
10
| Hin- | wir bauen eine Brücke/ trial and error | erklärt | ordnen zu (Gruppen-arbeit) | Puzzle, Ergebnis- blatt der voraus- gehenden Stunde | |
10
| Er- arbeitung | Vergebung trial and error | leitet das Gespräch (Impuls: "Liebe der Eltern") | äußern Über- legungen | ||
5
| Er- arbeitung | Leseszene: Ent- deckung im Kloster | lesen mit ver- teilten Rollen | Textblatt | ||
10
| Ver- tiefung | Gott baut die Brücke | gibt Hilfe- stellung | ordnen zu und kleben auf | ||
10
| Ergebnis- sicherung | von der Angst zum Ver- trauen | bearbeiten Textblatt (Einzel- arbeit) | Arbeits- blatt | je nach Fortgang wird mit Be- arbeitung begonnen bzw. Haus- aufgabe erklärt |
Stundenverlauf:
Thema der Einheit: Evangelisch-Katholisch
Thema der Stunde: Martin Luther - Von der Angst zum Vertrauen
Literaturverzeichnis
- Greiner, Albert: Martin Luther. Sein Leben für Kinder erzählt, Verlag Ernst Kaufmann, Lahr 1986.
- Kirchenkanzlei der EKD, in: Zusammenarbeit mit dem Comenius-Institut, Münster/Westfalen, und dem Konffesionskundlichen Institut, Bensheim (Hg.): Doctor Martinus. Ein Lutherbuch mit Materialien und Anregungen für die religionspädagogische Arbeit im Elementarbereich und in der Primarstufe, 2. Auflage, Verlag Ernst Kaufmann, Lahr 1983.
- Klages, Günther: Martin Luther im Unterricht. Didaktische Begründung - theologische Information. Hilfen für den Unterricht. Lutherhaus-Verlag, Hannover 1984.
- Pesch, Otto Hermann: Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, in: Walberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie, hg. von D. Arenhoevel, A. Fries, Oh.H. Pesch, Band 4, Mainz 1967.
- Ders.: Lehren aus dem Luther-Jahr/Sein Ertrag für die Ökumene, in: Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg. Hg.: Dietmar Bader, München/Zürich 1984.
- Spiel, Walter: Phasen der kindlichen Entwicklung, in: Kleine Vandenhoeck Reihe, Göttingen 1974.
- Steinwede, Dietrich: Martin Luther. Leben und Wirken des Reformators, 1483-1546, Verlag Ernst Kaufmann, Lahr 1983.