Jede Kirchengemeinde weiß davon zu berichten, dass es im eigenen Parochialbezirk Menschen gibt, die sich verbitten, den Gemeindebrief in den Briefkasten geworfen zu bekommen, und dass bei Taufen immer häufiger Menschen, die keiner Kirche zugehören, unter den Eltern oder im engeren Familienkreis zu finden sind, bisweilen auch als sogenannte Taufzeugen aufgerufen werden. In der Schule ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler, bei denen keine Konfession vermerkt wurde, unübersehbar – sei es, weil sie noch nicht getauft sind, weil sie keiner Religionsgemeinschaft angehören oder auch nur, weil sie bzw. ihre Eltern nicht möchten, dass ihre Religionszugehörigkeit bekannt wird. Im Wachsen begriffen ist auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die den Ethikunterricht besuchen: Bundesweit waren es im Schuljahr 2015/16 in allen Formen des allgemeinbildenden Schulwesens 983.000 Schülerinnen und Schüler oder 15,2 Prozent. (Zum Vergleich: Am evangelischen Religionsunterricht nahmen 2.215.000 Schülerinnen und Schüler bzw. 35,2 Prozent teil, am katholischen 1.925.000 bzw. 33,6 Prozent.)1
An subjektiven und z.T. objektiven Wahrnehmungen dessen, was gemeinhin „Konfessionslosigkeit“ genannt wird, mangelt es also nicht. Gleichwohl bleibt es alles andere als eindeutig, was und wer mit diesem Stichwort gemeint ist, aus welcher Perspektive der Befund zur Kenntnis interpretiert wird und welche religionspädagogischen Aufgaben damit auf die Agenda rücken.
Wovon reden wir?
Schaut man auf Studien, die auf die Gesamtheit der Jugendlichen in Deutschland bezogen sind, ergibt sich im Blick auf deren Religiosität seit einigen Jahren das Bild einer Torte, die sich in vier etwa gleich große Stücke schneiden lässt. Als Beispiel kann die jüngste, die 17. Shell Jugendstudie dienen. Demnach weiß knapp ein Viertel der Jugendlichen zwischen zwölf und 25 Jahren nicht, was es glauben soll; ein gutes Viertel glaubt nicht, dass es einen persönlichen Gott oder ein übernatürliches Wesen gibt; je ein weiteres Viertel glaubt in „kirchennaher“ Weise, dass es einen persönlichen Gott gibt, oder in „kirchendistanter“ Weise, dass es ein wie auch immer geartetes übernatürliches Wesen gibt (vgl. Abb. 1).2
Nimmt man dieses Item für bestimmte „theo- logische“ Überzeugungen als Gradmesser, wäre also mindestens ein gutes Viertel der Jugendlichen als konfessionslos im wörtlichen Sinne als ohne religiöses Bekenntnis, einzustufen; im Grunde müsste man auch die Unentschiedenen hinzuzählen und käme so auf gut 50 Prozent Konfessionslose – allerdings sind 77 Prozent des Samples nach eigenen Angaben sehr wohl Mitglied einer Religionsgemeinschaft, davon zwei Drittel Mitglied einer Kirche.
Es spricht in Anbetracht solcher Befunde viel dafür, „Konfessionslosigkeit“ als formales Merkmal zu verstehen – wer als „konfessionslos“ bezeichnet wird, ist demnach lediglich kein Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Damit geht mit hoher Wahrscheinlichkeit, jedoch nicht unbedingt und automatisch einher, dass er oder sie nicht an einen persönlich oder übernatürlich-unpersönlich gedachten Gott glaubt.
In diesem Sinne „Ungläubige“ finden sich allerdings auch unter den Mitgliedern von Religionsgemeinschaften. Dies wird deutlich, wenn man in komplementärer Weise auf Studien schaut, die auf jugendliche Mitglieder der Religionsgemeinschaften insgesamt bzw. einer Religionsgemeinschaft in Deutschland bezogen sind. Auch hier ergibt sich im Blick auf deren Religiosität das Bild einer Torte, die sich wiederum in vier Stücke schneiden lässt, deren Stücke allerdings recht ungleichmäßig sind. Als Beispiel kann die jüngste, die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD dienen. Demnach lassen sich unter den evangelischen Jugendlichen vier Typen erkennen: „explizit christliche“, die in kirchennaher Weise Überzeugungen und Praxen pflegen, „religiös musikalische“, „christlich indifferente“ und „nicht religiöse“ (vgl. Abb. 2).3
Nimmt man diese Clusteranalyse als Gradmesser, wären also mindestens zwei Fünftel (wenn nicht sogar zwei Drittel) der jugendlichen evangelischen Kirchenmitglieder zwar Mitglied, aber – gemessen an ihren Überzeugungen und ihren Praxen – „konfessionslos“, d.h. ohne Bekenntnis.
Man wird also nicht umhin können, einen doppelten Begriff von Konfessionslosigkeit zu pflegen: Zunächst einmal sind mit dem Ausdruck „Konfessionslose“ diejenigen gemeint, die nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft sind („konfessionslos sein“). Sodann sind es diejenigen, deren Selbstverständnis religiöse Überzeugungen, etwa den Glauben an einen Gott, ausschließt („sich als konfessionslos verstehen“).
Die Kreise derer, die (bezogen auf Jugendliche zwischen zwölf und 25 Jahren) unter den jeweiligen Begriff fallen, sind nicht deckungsgleich, wohl aber überschneiden sie sich. Wer kein Mitglied einer Religionsgemeinschaft ist, lehnt in drei von vier Fällen auch religiöse Überzeugungen für sich ab. Wer Mitglied der evangelischen Kirche ist, bejaht in drei von fünf Fällen auch religiöse Überzeugungen.4
Aus welcher Perspektive reden wir?
Die so empirisch beschreibbare „Konfessionslosigkeit“ lässt sich nun aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Einige greife ich heraus, um am Ende dann die theologische zu betonen.
Die religionssoziologische Perspektive, derer ich mich bisher bereits bedient habe, hilft, die Beschreibung und die Interpretation des Phänomens „Konfessionslosigkeit“ zu differenzieren und thetische Behauptungen (selbst-)kritisch zu prüfen. Sie ist insofern schlechterdings unverzichtbar.
Nicht minder basal ist die rechtliche Perspektive: Nach Art. 4 GG wird in Deutschland sowohl die positive als auch die negative Religionsfreiheit garantiert (und mit Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gilt dies weltweit). Anders gesagt: „Konfessionslos“ zu sein und sich so zu verstehen, ist also ebenso legal wie religiös zu sein oder sich so zu verstehen – es ist auch legal, sich so oder so öffentlich zu betätigen. Beides ist ein gutes Recht und den Personen, die es wahrnehmen, gebührt Respekt. Selbstredend dürfen mit Konfessionslosigkeit keine Nachteile im gesellschaftlichen Leben verbunden werden (Art. 3 GG; Art. 2 AEMR).
Eine gewisse Brisanz hat sodann die politische bzw. soziologische Perspektive. Brisant deshalb, weil die „Werte“, die sich in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und in der politischen Ordnung unseres Landes niederschlagen, teils aus der religiösen, näherhin: der christlich-jüdischen Tradition stammen, teils aus der säkularen, religionskritischen Tradition der Aufklärung. Die sogenannte hinkende Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften bzw. das kooperative Verhältnis beider weist auf ein gewisses Prae der religiösen Tradition hin – ein weiterer signifikanter Anstieg der Konfessionslosigkeit (derzeit liegt die Quote derer, die konfessionslos sind, bundesweit bei etwa 30 Prozent) wird deshalb über kurz oder lang zu einer kritischen Prüfung und ggf. Neujustierung solcher grundlegender, z.T. über Jahrhunderte gepflegter Verhältnisbestimmungen führen.
Dies ist nicht nur in abstrakten Höhen institutioneller Zuordnungen von Bedeutung, sondern auch im Blick auf das sogenannte soziale Kapital unserer Gesellschaft. Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen etwa gilt, dass evangelische etwas stärker als konfessionslose (in Hilfsorganisationen, Vereinen oder NGOs, zudem auch in kirchlichen bzw. religiösen Gruppen) sozial engagiert sind. Mitgliedschaft in einer solchen Religionsgemeinschaft und /oder religiöse Überzeugung kann somit als eine „Quelle für soziales Vertrauen“ gelten, auf das eine demokratische und freiheitlich verfasste Gesellschaft angewiesen ist – eine Quelle, die derzeit schwächer zu sprudeln droht.5
Schließlich sei kurz die theologische Perspektive erwähnt. Diese besteht – kurz gefasst – darin, empirische Befunde „im Licht des Evangeliums“ zu deuten. Ihre Qualität bemisst sich sowohl daran, ob es gelingt, diese Perspektive wirklichkeitserhellend zur Geltung zu bringen, als auch daran, ob sie sie mit anderen Perspektiven zu verbinden und plausibel dargestellt zu werden vermag.6 „Evangelisch“ ist diese theologische Perspektive nicht zuerst im Sinne der entsprechenden Konfessionszughörigkeit, sondern im Bemühen um selbstkritische Orientierung am Evangelium: „Das Evangelium, nicht die Kirche […] ist der maßgebliche Bezugspunkt evangelischer Theologie“; ihre Leitfrage lautet, wie eine das Christliche in Anspruch nehmende Praxis „deutlicher evangelisch“ werden könnte.7 Die Theologie als Wissenschaft trägt dazu bei, das Reden vom Evangelium auf sachliche, methodische und semantische Stimmigkeit (Paul Tillich) oder auf „Verständlichkeit, Kohärenz und Flexibilität“ hin zu prüfen.8Theologie steht somit dem Phänomen Konfessionslosigkeit nicht neutral gegenüber – sie muss sie vielmehr als Gegenposition bzw. als Alternative zu einer theologisch imprägnierten Lebensführung und -deutung verstehen und insofern die kritische Auseinandersetzung sowie den Wettstreit um Erschließungskraft und Plausibilität suchen.
Welche religionspädagogischen Desiderate ergeben sich?
Es ist nicht selbstverständlich, für diese Auseinandersetzung und diesen Wettstreit überhaupt Foren zu finden – religionspädagogisches Handeln in der Schule gehört zu den wichtigsten solcher Foren, mit Einschränkungen auch gemeindepädagogisches Handeln. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, hier auf indifferente, überzeugte oder gar offensiv religionskritische Konfessionslose zu treffen, bei weitem geringer als im Religionsunterricht oder im Feld von „Religion im Schulleben“.
Wo immer sich ein Forum bietet, bedarf es öffnender und ebenso auch intensivierender Schritte. Programmatisch gewendet lassen sie sich auf vier Linien bringen:
- den Raum für Auseinandersetzung eröffnen,
- die Relevanz des Evangeliums erschließen,
- die Lebensdienlichkeit des Evangeliums ausweisen,
- die Glaubwürdigkeit der Kirche verbessern.
Mit der Wahl dieser vier Ziele, die nicht nur, aber eben auch im Medium religionspädagogischen Handelns angestrebt werden sollten, ist implizit auch gesagt, dass es im Bereich religionspädagogisch zu reflektierenden Handelns nicht primär darum gehen kann und soll, konfessionslose Menschen für den (Wieder-) Eintritt in die evangelische Kirche zu gewinnen. Zwar ist zu wünschen, dass Menschen das Evangelium als Orientierung für ihre Lebensführung und -deutung erfahren und sich zur Taufe bzw. zum Wiedereintritt in die Kirche entschließen. Doch die „Gewinnbarkeit“ Konfessionsloser ist nicht nur nach menschlichem Ermessen unwahrscheinlich; sie als vorrangiges Ziel zu betrachten, verbietet sich auch aufgrund theologischer und kommunikativer Einsichten: Der Respekt vor der Entscheidung des Subjekts wurzelt in der Überzeugung, dass Glauben und eine diesen anbahnende menschliche Kommunikation stets ergebnisoffen verläuft; sie mit vorab feststehenden Zielen aufzunehmen und ihr Gelingen am Erreichen solcher Ziele zu messen, ist deshalb nicht sinnvoll.
Gleichwohl ist es ein theologisch legitimes Interesse der Kirche und auch der Theologie, sich selbst und vor allem die Kommunikation des Evangeliums gerade gegenüber skeptischen, kritischen oder auch wenig informierten Menschen positiv zu präsentieren. Ziel der Begegnung ist es dann, Vorurteile abzubauen, theologische Einsichten ins Gespräch zu bringen, Menschen durch neue Perspektiven auf ihr Leben zu fördern – und nicht zuletzt in einem guten Sinne ‚an sich selbst zu arbeiten‘. Im Kern geht es darum, auch konfessionslose Menschen das Potential christlicher Religion erfahren zu lassen, anders gesagt: zu erschließen, was es heißt „als Christ/in in unserer Zeit zu leben“ (Weert Flemmig). Insofern zielt die Kommunikation des Evangeliums mit Konfessionslosen auf nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Initiierung eines Prozesses, indem sie idealerweise Ausdrucksformen christlicher Religion erschließen, Erfahrungen in neuem Licht sehen lernen, Einstellungen ändern – dies alles freilich mit offenem, für die Kirche unverfügbarem Ausgang.
Soll religionspädagogisches Handeln in dieser Richtung wirksam werden, bedarf es entsprechender organisatorischer, perspektivischer und thematischer Weichenstellungen. Am Beispiel des Religionsunterrichts seien sie kurz angesprochen.
Zu den organisatorischen Weichenstellungen gehört neben der schon seit 1994 für alle Schulformen und -stufen erklärten Offenheit des Religionsunterrichts für konfessionslose Schülerinnen und Schüler ein verstärktes Bemühen um Kooperation mit dem „Ersatz-“ oder „Alternativfach“ Werte und Normen bzw. Ethik.9 Auch die Extensivierung und Intensivierung des religionsbezogenen Unterrichtsanteils im Ersatz- bzw. Alternativfach und die Stärkung der religionswissenschaftlichen Aus- und Fortbildung zukünftiger Ethiklehrender gehört hierher.
Zu den perspektivischen Weichenstellungen gehört, dass namentlich die Lehrenden konfessionslose Schülerinnen und Schüler als lernbereit wahrnehmen und sie als Adressaten des Unterrichts berücksichtigen.
Zu den thematischen Weichenstellungen gehört es – allgemein formuliert – „religioide“ Themen und Anliegen (Georg Simmel) konfessionsloser Schülerinnen und Schüler zu identifizieren und theologisch zu bearbeiten. Das könnte heißen, Religionskritik und (neuen) Atheismus, Dynamiken der religiösen Landschaften weltweit oder auch Sinnfragen auf die Agenda zu rücken. Religionsunterricht muss in alldem so deutlich wie möglich werden lassen, was Interpretamente, Praxen und Traditionen evangelischer Provenienz für die Lebensführung und -deutung von Menschen bedeuten (können). Die Stunde des „trägen Wissens“ ist angesichts der religionspluralen Herausforderungen vollends vorbei.
Was andere Handlungsfelder angeht, so sei hier nur betont, dass in Wahrnehmung kirchlicher Bildungs(mit)verantwortung eine Bildungslandschaft zu entwickeln ist, die im Blick auf verschiedene Lebensphasen und -konstellationen Kirchenmitgliedern wie Konfessionslosen Räume und Gelegenheiten bietet, sich auch nach Phasen der Abstinenz aufs Neue auf religiöse oder religionsbezogene Lernprozesse einzulassen.
Anmerkungen:
- Sekretariat KMK (Hg.): Auswertung Religionsunterricht Schuljahr 2015, 166.
- Shell Deutschland Holding (Hg.): 17. Shell Jugendstudie: Jugend 2015, 253.
- Riegel / Hallwaß: Zur Reichweite konfessioneller Positionen, 82f. und 90.
- Vgl. Schröder: Schülerinnen und Schüler und ihr Verhältnis zur (christlichen) Religion.
- Vgl. Bücker: Soziales Vertrauen und Religion bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, 138f.
- Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, 11f. 61.
- Ebd., 20f.
- Ritschl: Zur Logik der Theologie, 22, 55-71.
- Dazu Schröder / Emmelmann (Hg.): Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation.
Literatur
- Bücker, Nicola: Soziales Vertrauen und Religion bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in: Schröder u.a. (Hg.): Jugendliche und Religion, 129-146
- Dalferth, Ingolf U.: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (ThLZ.F 11/12), Leipzig 2004
- Riegel, Ulrich / Hallwaß, Anne E.: Zur Reichweite konfessioneller Positionen im individuellen Glauben Jugendlicher und junger Erwachsener, in: Schröder u.a. (Hg.): Jugendliche und Religion, 75-94
- Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie, München 1884
- Schröder, Bernd: Schülerinnen und Schüler und ihr Verhältnis zur (christlichen) Religion – die einschlägigen Ergebnisse der V. KMU im Vergleich zu Resultaten anderer schulbezogener empirischer Studien der Jahre 2006-2016, in: ders. u.a. (Hg.): Jugendliche und Religion, 203-234
- Schröder, Bernd / Hermelink, Jan / Leonhard, Silke (Hg.): Jugendliche und Religion. Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017
- Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Auswertung Religionsunterricht Schuljahr 2015/16, Berlin 2016
- Schröder, Bernd / Emmelmann, Moritz (Hg.): Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation, Göttingen 2018
- Shell Deutschland Holding (Hg.): 17. Shell Jugendstudie: Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt 2015