Vorüberlegungen zum Thema
Nach der anfangs überschwänglichen Willkommenskultur dominiert in den Medien momentan eine problemorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Zuflucht. Meldungen über Kriminaldelikte von Flüchtlingen, Ängste, Konflikte und die Frage nach deren finanziell möglichst wenig belastenden Lösungen prägen die mediale Debatte. Umso wichtiger ist es, den empathischen Blick auf die persönlichen Schicksale der Menschen, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten, sowie auf das weiterhin geleistete Engagement zahlreicher Ehrenamtlicher nicht zu verlieren. So benennt bzw. fordert der Rat der EKD in seiner Stellungnahme zur Situation von Flüchtlingen vom 22.1. 2016 ebendies:
„Die enormen Anstrengungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen, die bereits geleistet wurden, sind Ausdruck einer Gesellschaft, deren Werte in ihren Wurzeln tief in der christlichen Tradition verankert sind. Der Satz Jesu „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihnen auch“ (Matthäus 7, 12) aus der Bergpredigt formuliert einen Grundsatz der Empathie, der weit über die christliche Tradition hinaus anerkannt wird. Empathie darf nicht unter dem Eindruck einer belastenden Situation zur Disposition gestellt werden. Geben wir die Empathie auf, geben wir die Menschlichkeit auf.“ [1]
Die im Folgenden dargestellte Unterrichtssequenz für den Doppeljahrgang 7/8 möchte die Schülerinnen und Schüler für eine differenzierte Wahrnehmung und empathische Begegnung mit Flüchtlingen im (Schul-)Alltag sowie in der gesellschaftliche Debatte sensibilisieren. Sie zeigt Möglichkeiten auf, wie in der Auseinandersetzung mit der Flucht- und Zufluchtsthematik persönliche Schicksale zu Wort kommen können und gibt Impulse, wie ein Miteinander, das sich an den christlichen Grundwerten der Gerechtigkeit und des Friedens ausrichtet, gestaltet werden kann. [2]
Didaktische Überlegungen
Das übergeordnete Ziel der Sequenz „Von Flucht und Zuflucht“ ist es, dass die Schülerinnen und Schüler gemäß des niedersächsischen KCs Impulse der biblischen Botschaft auf aktuelle Konflikte – hier den der „Flüchtlingsfrage“ – beziehen. [3]
Didaktische Schwerpunkte sind dabei zum einen die Wahrnehmung und Deutung der Situation der Flüchtlinge vor, während und nach ihrer Flucht am Beispiel des Zufluchtslandes Deutschland, zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Kirchenasyl als konkrete und praktizierte Handlungsoption. Für eine sensible, empathische Wahrnehmung und Deutung der Flucht- aber auch Zufluchtssituation bieten sich konkrete, persönliche Geschichten bzw. Berichte als didaktische Angelpunkte bzw. als Projektionsflächen an. Hierzu eignen sich – je nach den unterrichtlichen bzw. schulischen Rahmenbedingungen – auch in Kombination
- Jugendromane wie Im Meer schwimmen Krokodile von Fabio Gedda oder Barsakh von Simon Stranger, [4]
- Theaterstücke wie z.B. das mobile Klassenraumstück Projekt: Illegal! des Staatstheaters Braunschweigs und / oder
- Portraits aus der Dokumentationsreihe des NDR #EinMomentDerBleibt, z.B. von Alfiya Seid.
Die Geschichten, die die Jugendromane, das Theaterstück und die Filmdokumentation erzählen, bieten in besonderer Weise einen situativ-komplexen und zugleich Empathie fördernden Rahmen. Zugleich liefern sie einen konkreten Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Praxis des Kirchenasyls hinsichtlich der drohenden Abschiebung eines Flüchtlings, ob nun eines Protagonisten der Jugendbücher, Alfiyas oder Thomas‘ aus dem Theaterstück. Über die Diskussion darüber, welche Möglichkeiten Flüchtlinge haben, wenn ihnen die Abschiebung aus Deutschland droht, rückt das Kirchenasyl als kirchlich praktizierte, aber auch in der politischen Debatte diskutierte Handlungsoption in den Fokus. Die Praxis des Kirchenasyls steht nicht nur in einer langen (religiösen) Tradition, sondern beinhaltet eine elementare Aufgabe der Kirche: den Schutz bedrohter Menschen. [5] Unter Kirchenasyl ist dabei „die zeitlich befristete Aufnahme von Flüchtlingen ohne legalen Aufenthaltsstatus [in der Kirche], denen bei Abschiebung in ihr Herkunftsland Folter und Tod drohen oder für die mit einer Abschiebung nicht hinnehmbare soziale, inhumane Härten verbunden sind.“ [6] Kirchenasyl setzt sich für ein gerechtes Asylverfahren ein, indem es Schutzsuchenden die Möglichkeit gibt, ihren Asylantrag erneut überprüfen zu lassen, um so im besten Falle ein Bleiberecht zu erwirken. [7] Das Schutzgebot gegenüber Fremden und Flüchtlingen ist sowohl im Alten Testament fest verankert als auch im Neuen Testament durch das Handeln Jesu und seiner Jünger durch die Maxime der universalen Nächstenliebe geprägt. [8] Die EKD bezeichnet das Kirchenasyl daher als „biblisch gebotene christliche Beistandspflicht“. [9] Kirchenasyl ist nicht unumstritten, ist es doch letztlich als Widerstand gegen das geltende Recht oder als ziviler Ungehorsam zu bewerten. Mit der Anzahl der Flüchtlinge, die besonders im letzten Jahr nach Deutschland kamen und kommen, stieg die Zahl der Asylanträge und damit auch die Zahl der Kirchenasyle. [10] Die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft zum Asyl in der Kirche meldet zurzeit 270 Fälle von Kirchenasyl mit mindestens 450 Personen. [11] Diese in den letzten Jahren stets steigende Zahl hat im Februar 2014 zu einer grundlegenden Kritik des Innenministers De Maizière am Kirchenasyl geführt und die Diskussion zwischen Vertretern der Bundesregierung, des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie der beiden Kirchen in Deutschland angeregt. Derzeit läuft ein Pilotprojekt, welches die Zusammenarbeit von BAMF und Kirchen erprobt, um potentielle Kirchenasylfälle schon vorher zu besprechen und zu prüfen. [12]
Auf Grundlage der didaktischen Überlegungen lassen sich abschließend die Schritte des Lernprozesses der Sequenz in Bezug auf die inhalts- und prozessbezogenen Sequenzen wie folgt skizzieren:
- Fluchtursachen und die Flucht übers Meer: Die SuS fördern ihre Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz, indem sie Fluchtursachen benennen und sich mit einer Flüchtlingsgeschichte auseinandersetzen.
- Ankunft im Zufluchtsland – Ängste und Hoffnungen der Flüchtlinge: Die SuS fördern ihre Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz, indem sie mittels einer textproduktiven Aufgabe die Ängste und/oder Hoffnungen der Flüchtlinge entfalten.
- Die Stationen eines Flüchtlings – zwischen Warten und Hoffen: Die SuS fördern ihre Dialogkompetenz, indem sie sich der Perspektive von Flüchtlingen annähern und sich mit den Rahmenbedingungen ihren Situation kritisch auseinandersetzen.
- Das Kirchenasyl – eine kirchlich praktizierte Handlungsoption mit aktueller Relevanz: Die SuS fördern ihre Urteils- sowie Dialogkompetenz, indem sie die Praxis, biblische Verankerung und Zielsetzung von Kirchenasyl erfassen und situativ auf ein ihnen bekanntes Einzelschicksal aus Roman, Film oder Theaterstück beziehen, diskutieren bzw. überprüfen.
Zur Praxis des Unterrichts
Der Lernprozess der Sequenz orientiert sich am Weg vieler Flüchtlinge und folgt auf der Ebene der Durchführung dem Dreischritt der Wahrnehmung und Information – Deutung über Empathie – Beurteilung über Erprobung. Dazu wird durchgängig auf handlungsorientierte, situative und den Lernprozess vernetzende Aufgabenformate zurückgegriffen. Die Sequenzplanung im Überblick zeigt die Tabelle auf „Tabellarischer Überblick über die Sequenz“ auf Seite 140 und erschließt sich leicht über das Arbeitsmaterial im Internet. Detailliert wird hingegen die die Sequenz abschließende Stunde zur Gesprächsrunde über ein mögliches Kirchenasyl dargestellt, da diese die Stränge des Lernprozesses zusammenführt und somit von besonderer Relevanz ist.
Kirchenasyl für Thomas – eine Gemeinde im Gespräch [13]
Die dieser Stunde zugrundeliegende Anforderungssituation, die zu Beginn der Stunde vorgestellt wird, leitet sich aus dem Theaterstück Projekt: Illegal! ab, ließe sich aber auch auf andere Situationen und Personen übertragen: Anna, Thomas Freundin, fragt ein Mitglied der Sankt Andreas Gemeinde in Braunschweig, T. Müller, ob seine Gemeinde Thomas Kirchenasyl gewähren würde. Er beruft eine Gesprächsrunde ein, um mit einigen Gemeindemitgliedern Annas Anfrage zu besprechen. Während T. Müller eher für die Organisation, den Ablauf und die Ergebnissicherung des Gesprächs verantwortlich ist, beziehen die anderen Gemeindemitglieder eindeutig Stellung. Mithilfe von Rollenkarten und Impulsen in Form von Zitaten erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler verschiedene Standpunkte (s. Rollenkarten), die sie anschließend auf der Gemeindeversammlung vortragen. Das Material dient dabei als Stütze für eine Beurteilung der Schülerinnen und Schüler aus ihrer Rolle heraus und eröffnet einen gewissen Spielraum, sodass die Schülerinnen und Schüler auch die Ambivalenz des Themas ansprechen können. Es ist sinnvoll diejenigen mit derselben Rolle zusammenzusetzen, um Austauschmöglichkeiten zu schaffen. Nachdem die Standpunkte erarbeitet sind, das Statement kann je nach Kurs ausformuliert oder stichpunktartig ausgearbeitet worden sein, finden sich die Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Gesprächskreisen zusammen, stellen sich ihre Standpunkte vor und kommen in den Austausch. Das Ziel der Gesprächsrunde ist dabei nicht ein ultimatives Ja oder Nein zur Anfrage Annas, sondern vielmehr ein erstes Abtasten der generellen Bereitschaft. Dies entspricht dem tatsächlichen Vorgehen, da weitere Aspekte vorab geklärt werden müssen und die Entscheidung letztlich beim Gemeindekirchenrat liegt. [14]
Abschließend kommen die Schülerinnen und Schüler ausgehend von den Ergebnissen der Gesprächsrunden zu einem eigenen Urteil.