Von Bernhard Waldenfels

 

Das Schlüsselwort ‚Achtung‘ hat seine Vorläufer in griechischen Ausdrücken wie doxa (= Anschein, Ansehen) und timē (= Wertschätzung, Ehre) und in dem lateinischen Substantiv respectus, das in alle westlichen Sprachen eingegangen ist und dem deutschen Wort ‚Rücksicht‘ nahekommt. Als Kernbegriff dient ‚Achtung‘ erst in der Moderne. Maßgebend ist die kantische Moralphilosophie in ihrem Bezug auf die menschliche Person als einem autonomen Vernunftwesen, das eine eigene Würde ausstrahlt. In dialogischen und responsiven Ansätzen deutet sich ein Umschwung an, in dem sich der Andere meldet als Adressat der Achtung, dem Beachtung geschenkt oder verweigert wird.


Traditionelle Wertschätzung, Hochschätzung und Geringschätzung

Im klassischen Naturdenken, das bei Platon und Aristoteles seinen exemplarischen Ausdruck fand, hat der Mensch seinen Ort in einer vorgegebenen Gesamtordnung, die alle Wesen umfasst und dem Menschen als „vernunftbegabtem Lebewesen“ einen Vorzugsplatz einräumt. Diesen Platz konnte ihm niemand streitig machen, es sei denn, er stellte sich selbst außerhalb der Ordnung. Wenn hier von Achtung gesprochen werden kann, so nur im Sinne einer impliziten Achtung, die mit der Einfügung in die Ordnung zusammenfällt. In der Vielfalt von Ansehen, Ehre und Ruhm spiegelt sich eine hierarchisch gestufte Ordnung mit ihrem Mehr oder Weniger an Hoch- und Geringschätzung. Die Skala reicht vom König bis zum sprichwörtlichen Sauhirt, vom Vollbürger bis zum Metöken. Die Kriterien der Einschätzung sind umstritten, wie der Streit um die optimale Verfassung des politischen Gemeinwesens zeigt. Zudem hat diese Art von Gemeinwesen deutliche Grenzen. Dem „hoch in der Stadt Herausragenden“ (hypsipolis) steht der Verbannte gegenüber als einer, der „ohne Stadt (apolis)“ ist (Sophokles, Antigone, v. 370), ganz zu schweigen von jenen, die als Sklaven oder Barbaren einer eigenen Vernunft und somit jeden sozialen Ansehens ledig sind.

Das antike Denken wird durchkreuzt durch den biblischen Schöpfungsgedanken, der den Menschen als „Ebenbild Gottes“ auszeichnet. Soziale Hierarchien werden relativiert durch eine allgemeine Gotteskindschaft, die noch den „Geringsten“ zugute kommt. Heilige genießen ob ihrer geschenkten Vollkommenheit keine Achtung, sondern Verehrung. Jede orthodoxe Religionspolitik ist allerdings umsäumt von einem schwarzen Rand des Unglaubens, der ähnlich wie die Unvernunft der Barbaren Achtung ausschließt. Achtung genießt, wer dazu gehört.
 


Der Einbruch der Moderne

Das Zerbrechen der natur- und gottgegebenen Ordnung in der Moderne, das nicht nur eine Entzauberung der Natur, sondern auch eine Zersplitterung des Gemeinwesens bewirkt, stellt jeden Einzelnen vor die Frage, wo er Halt und Orientierung finden soll angesichts eines Ansturms blinder Naturkräfte, die sich nicht um den Menschen kümmern, und angesichts zwischenmenschlicher Gewalt, die dem individuellen Selbsterhaltungsstreben freien Lauf lässt. Im vorbürgerlichen Naturzustand, wie Thomas Hobbes ihn in düsteren Farben zeichnet, ist jeder für den anderen ein Wolf, der ihm seinen Platz in der Welt streitig macht. Wie lassen sich Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit wahren, wenn auf keine vorgegebene Ordnung Verlass ist? Das Motiv der Achtung hebt sich ab von einem Hintergrund der Missachtung, die das eigene wie das fremde Sein von Grund auf in Frage stellt.
 


Achtung für die fremde Person vor dem Gesetz

Die Achtung steht und fällt mit der rätselhaften Tatsache, dass es Andere gibt. Jeder von uns hat es mit seinesgleichen zu tun, die sich gleichwohl als Fremde dem eigenen Zugriff entziehen. Hinter dem Ego, das Descartes neu entdeckt hat, taucht der Schatten eines Alter ego auf; dieser gleicht einem Doppelgänger, den wir weder von uns abschütteln noch uns einverleiben können. Kant nähert sich diesem heiklen Problem, indem er die Achtung als ein Gefühl der Distanz beschreibt, das uns als Vernunftwesen erhöht, als Sinnenwesen erniedrigt. Die Achtung schiebt sich vor die fremde Person wie eine unsichtbare Schranke. Nähern wir uns dem Anderen, so stoßen wir auf eine Fremdheitsschwelle. Die Achtung, die wir einander abverlangen, besteht in der „Anerkennung einer Würde (dignitas)“ als eines „Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte“ (Kant, Werke, IV, 600). Die Unersetzlichkeit der menschlichen Würde rührt daher, dass der Mensch um seiner selbst willen existiert und niemals bloß zu etwas anderem dient. Nun weiß Kant nur zu gut, dass wir uns immerzu, getrieben von Leidenschaften wie Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, des Anderen zu bemächtigen suchen. Darunter fällt der bloße „Ehrenruf“, der sich mit dem äußeren Schein begnügt (ebd., VI, 609). Einen Ausweg bietet das unbedingte moralische Gesetz, das selbst ein Gefühl der Achtung hervorruft und sich dadurch „Ansehen verschafft“ (ebd., IV, 196). Eigentlicher Gegenstand der Achtung ist also das Gesetz, für das uns die eigene wie die fremde Person bloß ein Beispiel gibt (ebd., IV, 28). Der Umweg durch das Gesetz hat zur Folge, dass Selbst- und Fremdachtung letzten Endes zu einer transsubjektiven Achtung vor dem Gesetz verschmelzen. Die Singularität des Anderen findet keine hinreichende Beachtung. Diese nomologische Beschränkung der Achtung hinterlässt ihre Spuren. In der kommunikativen Diskursethik von Jürgen Habermas (1996) wird der Andere ausdrücklich einbezogen, aber lediglich insofern, als er allgemeine Geltungsansprüche erhebt. Die Anerkennung gilt letztlich dem besseren Argument.
 


Achtung im Angesicht des Anderen

Der Schwerpunkt der Achtung verlagert sich, wenn diese geradezu vom Anderen ausgeht, der uns leibhaftig von Angesicht zu Angesicht entgegentritt, uns anrührt, anblickt, anredet und zu antworten nötigt. Aus dem fremden Antlitz spricht im Ernstfall das Geheiß: „Du wirst nicht morden“ (Levinas 1987, 285). Dabei fällt die Stimme des Gesetzes nicht zusammen mit dem Gehalt des Gesetzes. Die Gesetzeslogik ist verankert in einer ursprünglichen „Antwortlogik“ (Waldenfels 1994, 188-194; 2006, 62-67). Achtung, die einem fremden Anspruch entspringt, ist eine Form des Antwortens. Genaugenommen hat sie keinen Gegenstand, der betrachtet oder behandelt wird, sondern einen Adressaten, dem Achtung erwiesen oder vorenthalten wird. Ein Anderer ist, wem Achtung gebührt.

Das Antworten ereignet sich hier und jetzt in Form einer Singularität, die nicht mit der Besonderheit eines Gesetzesfalls zu verwechseln ist. Ich selbst bin gefragt und kein anderer. Der Anspruch auf Achtung tritt auf mit einer Unausweichlichkeit, die sich der modernen Disjunktion von Sein und Sollen, von Tatsache und Norm entzieht. Ich kann nicht nicht antworten, so wie ich laut Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann. Jede Missachtung ist selbst noch eine Form des Antwortens. Achtungserweise unterliegen einer unumgänglichen Form von Nachträglichkeit; denn der Anspruch auf Achtung kommt unserer Initiative zuvor, so wie das Pathos des Staunens unserem Fragen, das Pathos des Schreckens unserer Abwehr vorauseilt. Achtung ist kein spontaner Akt, der meiner eigenen Initiative entspringt. Ein einfaches Beispiel liefert der Achtungserweis des Grußes; selbst wenn er wechselseitig erbracht wird, lässt er sich nicht kalkulieren wie die Leistungen eines Tauschhandels. Insofern ist das Achtungsverhalten von einer unaufhebbaren Asymmetrie geprägt. Der eigene Gruß ist keine bloße Umkehrung des fremden Grußes. Das Tauschgesetz des do ut des stößt ebenso an seine Grenze so wie der Gedankenaustausch im Dialog. Dies zeigt sich im Ineinander von Selbstachtung und Fremdachtung. Ich kann den Anderen zwar nicht achten, ohne mich selbst zu achten; doch die Fremdachtung lässt sich nicht auf Selbstachtung zurückführen, da mein Selbstsein nichts wäre ohne den fremden Anblick, so wie schon das Kleinkind im Anlächeln der Mutter, im risu cognoscere matrem (Vergil, Bucolica 4, 60) ichhafte Züge annimmt.
 


Unbedingte Achtung, selektive Anerkennung und Menschenrechte

Die kantische Achtung wird vielfach im gleichen Atemzug genannt mit Hegels Anerkennung. Man hofft, so den Hiatus zwischen der formalen Unbedingtheit des moralischen Imperativs und den konkreten Bedingungen der Sittlichkeit zu überbrücken. Doch diese Hoffnung täuscht. Hegel versucht, die Fremdachtung in eine wechselseitige Anerkennung aufzuheben unter Gleichsetzung von Ich und Wir, so dass „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (1973, 145); er macht gleich, was nicht gleich ist, indem er die Anerkennung im Anderen auf die Wiedererkennung eines allumfassenden Geistes zurückführt. In Wirklichkeit ist eine Anerkennung, die aus der Antwort auf fremde Ansprüche erwächst, immerzu selektiv (Waldenfels 2006, 76f., 269-275). Jemand wird für etwas anerkannt, was er gesagt oder getan hat, sei es sein Wirken im Augenblick, sei es ein Werk, das er hinterlassen hat. Gemeinhin bekundet sich in Lob und Tadel eine soziale Akzeptanz, die durch Ehrentitel, Preise und Orden gesteigert werden kann. Jede soziale Anerkennung bleibt jedoch umstritten; sie hängt ab von den wechselnden Standards faktischer Lebensformen und geht hervor aus einem Kampf um Anerkennung. Hierbei spielen emotionale Zuwendung in Liebe und Familie, rechtliche Anerkennung und politische Solidarität eine prominente Rolle (Honneth 1992). Doch solch partikuläre Formen der Anerkennung schließen samt und sonders ein gewisses Maß an Verkennung ein (Bedorf 2010). Wird jemand als jemand anerkannt, so geschieht dies aus dem Blickwinkel eines Dritten, der mich selbst anderen gleichsetzt. Früher hing die Anerkennung weitgehend von der Herkunft ab; in einer offenen Gesellschaft entscheidet zunehmend der erworbene Status oder die übernommene Rolle, dies allerdings nur im Rahmen einer Zugehörigkeit, die Fremdlingen verwehrt ist. Niemand wird auf diese Weise als er selbst anerkannt. Es bleibt ein Überschuss an Achtung, der die Grenzen der jeweiligen sozialen und kulturellen Ordnung überschreitet. Schließlich kann man die geforderte Achtung einbüßen, indem man „sein Gesicht verliert“. Die Differenz von bedingter Anerkennung und unbedingter Achtung hat zur Kehrseite einerseits die Geringschätzung, die sich auf ein Verhalten oder eine Leistung bezieht, andererseits Formen der Demütigung, Kränkung, Erniedrigung und Entwürdigung, mit denen einer sich über den Anderen erhebt. Hinter der Missachtung, mit der jemand im äußersten Fall „als Dreck“ behandelt wird, lauert die physische Vernichtung. Drohende Verletzungen verlangen nach einer „Politik der Würde“, die über die Wahrung von Rechtsansprüchen hinausgeht (Margalit 1997). Foucault (2003) erinnert in einem Archivprojekt von 1977 an den unauffälligen Status „infamer Menschen“, die als verrufene Gestalten buchstäblich ihren Ruf (fama) eingebüßt haben.

Auf ähnliche Weise wie Anerkennung und Achtung unterscheidet sich das Recht, das dazu da ist, Ungleichheit auszugleichen, von der Hyperbolik einer Gerechtigkeit, die auf die Verletzung singulärer Ansprüche antwortet. Den Opfern persönlicher und kollektiver Gewalt geschieht Unrecht, wenn ihnen nicht mehr zuteil wird als bloßes Recht, gleich als ob Leid verrechenbar wäre. Außerdem bedarf es eines Ortes, wo man sein Recht einklagen kann; Staatenlose leben achtungslos in einem juridischen Niemandsland (Arendt 1955, 443). Was Menschenrechte angeht, so dienen sie als eine Art Grenzbastion. Ähnlich wie andere nationale und internationale Grundordnungen erklärt das deutsche Grundgesetz in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar: Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Würde wird geradezu definiert als das Zu-Achtende. Menschenrechte lassen sich nicht reduzieren auf einen festen Rechtsbestand. Insofern haben solche metajuridischen Sätze einen appellativen Beiklang und einen Hinweischarakter: Siehe, Höre!



Leibhaftige Achtung und Beachtung

Die sprachliche Nähe von Achtung, Achtsamkeit und Beachtung ist eine Eigenart der deutschen Sprache, die in der Zweiheit von attention und respect zurücktritt. Doch dahinter verbirgt sich ein sachlicher Zusammenhang. Achtung, die aus der Antwort auf fremde Ansprüche erwächst, findet ihren leiblichen und sinnlichen Rückhalt in der Aufmerksamkeit, die wir Anderen schenken oder vorenthalten und die das soziale und weltliche Umfeld ebenso einschließt wie den interkulturellen Austausch (Waldenfels 2004, Kap. X). Aufmerksamkeit, die damit beginnt, dass uns etwas auffällt, betrifft ebenso den Anderen, der uns anblickt, anredet, begehrt. Das Ethos der Sinne mitsamt einer Politik der Sinne tritt eklatant zutage in der Missachtung, mit der wir den Blick des Anderen übersehen, seine Worte überhören, seine Gesten übergehen, als sei er Luft. Eine Politik der Würde beginnt mit der Schaffung eines Klimas der Achtsamkeit, in dem die Anderen, aber auch Fremde, Außenseiter, Randgruppen und Fremdgruppen Gehör finden. Bei Diskursen geht es nicht bloß darum, ob das Gesagte zutrifft und begründet ist, sondern auch darum, wer zu Wort kommt und wer nicht. Der prinzipielle Zugang, der allen Vernunftwesen offensteht, garantiert nicht, dass jeder hinreichend zu Wort kommt, und wer nicht zu Wort kommt, kann nicht einmal Unrecht haben. Achtung entspringt keinem bloßen Akt willentlicher Anerkennung, sondern einer Zuwendung, die auf einen fremden Anspruch oder Anblick antwortet, so wie Missachtung mit einer Abwendung beginnt, die sich der Antwort verweigert, aber als Antwortverweigerung dem fremden Anspruch ausgesetzt bleibt. Die Verankerung der Achtung im leiblichen Verhalten klingt in der Rede von der Unantastbarkeit der Würde an. Sie ermöglicht zugleich eine Achtungskultur, die sich in bestimmten Gesten, Formeln und Ritualen niederschlägt. Das formelhafte après vous Monsieur, an das Levinas erinnert, bedeutet eine schlichte Geste der Achtung, die man nicht überschätzen, aber auch nicht unterschätzen sollte. Achtung fällt nicht vom Himmel, sie beginnt in der bedrängenden Nähe des Alltags.



Literatur

  • Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955
  • Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung, Berlin 2010
  • Gröschner, Rolf / Kapust, Antje / Lembcke, Oliver W.: Wörterbuch der Würde, München 2013
  • Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III, Frankfurt/M. 2003
  • Habermas, Jürgen: Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996
  • Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1973
  • Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1992
  • Kant, Immanuel: Werke (in sechs Bänden). Hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1956ff.
  • Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987
  • Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Mißachtung, Berlin 2. Aufl. 1997
  • Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt/M. 1994
  • Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/M. 2004
  • Waldenfels, Bernhard: Schattenrisse der Moral, Frankfurt/M. 2006