Du kannst nun wirklich nicht von mir erwarten, dass ich die Namen aller meiner Schülerinnen und Schüler kenne!“, antwortet mir Kollege G. auf meine Nachfrage, ob der Unmut meiner Schülerinnen und Schüler berechtigt sei. Sie hatten mich als Klassenlehrerin gebeten, mit dem Kollegen zu sprechen, da er häufig die Namen der Schülerinnen und Schüler nicht zuordnen könne und daher die Notenvergabe für sie nicht mehr nachvollziehbar sei.[1]
Ohne Zweifel kommt es bei einer Lehrkraft, die zwei Kurzfächer unterrichtet, zu einer hohen Zahl von zu bewältigenden Namen. Doch bin ich als Lehrkraft nicht in der Pflicht, mich darum zu bemühen, die Namen meiner Schülerinnen und Schüler zu kennen, notfalls auch mit Hilfe von Fotos? Wo beginnt respektvoller Umgang im Kontext von Schule und Unterricht?
Das Beispiel mag zu banal für ein so großes Thema wie Respekt klingen, doch tatsächlich erwarten wir, wenn es um unsere eigene Person geht, bestimmte Verhaltensweisen, sind enttäuscht und verletzt, wenn sie uns nicht zuteilwerden.
Die Erfahrung, dass in vielen Bereichen unseres Alltags Verhaltensweisen Einzug gehalten haben, die Respekt gegenüber Mitmenschen vermissen lassen, können sicher viele Leserinnen und Leser teilen. Hat man mit dem Lamento über den vermissten respektvollen Umgang miteinander erst einmal begonnen, erscheinen die Negativerlebnisse häufig wie eine nicht mehr aufzuhaltende Flut. Umso wichtiger ist es, von Beispielen gelebten Respekts zu hören und mindestens Hoffnung daraus zu schöpfen.
Die folgenden drei Beispiele greifen das Thema Respekt auf unterschiedliche Weise auf:
- An der Albert-Einstein-Schule in Laatzen [2] werden Schülerinnen und Schüler zu Toleranzlotsen ausgebildet, die sich gegen Diskriminierung und für Respekt und Toleranz einsetzen.
- Die Friedens-AG der Christian-Hülsmeyer-Schule in Barnstorf [3] trägt unter dem Motto „Ich bin ein Fairtrader!“ zur Präventionsarbeit im schulischen Umfeld bei.
- Die Schulleiterin der Heinrich-von-Kleist-Schule in Papenburg [4] entwickelt gemeinsam mit dem Konrektor und dem Kollegium ein eigenes Sprachförderkonzept für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprachen, um ihnen Bildungserfolg und Teilhabe zu ermöglichen.
Toleranzlotsen stärken ein Klima des Miteinanders
Ziel des Toleranzlotsen-Projektes ist es, so kann man einem Flyer des Kultusministeriums entnehmen, „Kinder und Jugendliche für jede Form der Ausgrenzung zu sensibilisieren, ihre Toleranz gegenüber dem jeweils anderen zu fördern und ein Klima des Miteinanders zu stärken, das sich durch Anerkennung, Vielfalt und Gleichberechtigung auszeichnet. Insofern leistet es einen Beitrag gegen Rechtsextremismus, fördert Demokratieerziehung und Menschenrechtsbildung.
Inhaltlich stehen Themen wie die Einsicht und der Umgang mit Vorurteilen, die kritische Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Rassismus sowie positive Handlungsansätze zu deren Überwindung im Fokus.“ [5]
Wie die Umsetzung des Projektes an einer Schule sich konkret gestalten kann, zeigen die Ausführungen aus der Albert-Einstein-Schule (AES) in Laatzen: Seit 2011 werden an der AES Laatzen jährlich zwölf bis achtzehn Schülerinnen und Schüler ab dem 9. Jahrgang ausgebildet. Einige der erfahrenen Toleranzlotsen aus den vorangegangenen Jahren begleiten und unterstützen dabei jeweils die neuen.
Ziel ist, dass die Toleranzlotsen ihrerseits Projekte mit jüngeren Schülerinnen und Schülern durchführen, um sie für die oben angesprochenen Fragen zu sensibilisieren und mit ihnen gemeinsam Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, wie man Konflikte fair und gewaltfrei lösen kann.
Basis für die Toleranzlotsenausbildung sind das interkulturelle Trainingsprogramm „Eine Welt der Vielfalt“ (adaptiert nach ‚A World of difference‘, Antidefamation League, USA) [6] , Methoden der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg [7] und Präsentations- und Moderationsmethoden für Peertrainerinnen und -trainer [8].
Alle Übungen sind handlungs- und erfahrungsorientiert und bieten die Möglichkeit, persönliche Erfahrungen auszutauschen und zu reflektieren, die eigene kulturelle Identität bewusst wahrzunehmen, die der anderen besser zu verstehen und Schubladendenken zu vermeiden – wichtige Voraussetzungen, um Vorurteile abzubauen, sich für andere zu öffnen und Konflikte fair zu bearbeiten. So werden auch Haltungen und Kompetenzen gefördert, die in einer Welt kultureller Vielfalt zunehmend wichtiger werden.
Der Ausbildung liegt ein Toleranzbegriff zugrunde, der nicht nur „dulden oder aushalten“ (lat.: tolerare) von etwas (eigentlich Unerwünschtem), sondern Respekt, bewusste Akzeptanz und das aktive Eintreten für die Grundrechte anderer Menschen auf freie Meinungsäußerung, persönliche Werthaltungen und Lebensformen einschließt.
In der Übung „Toleranzbilder“ geht es z. B. aber auch darum, die Grenzen der eigenen Toleranz auszuloten und herauszufinden, welche Handlungsoptionen in diesem Fall denkbar wären. Toleranzlotsen lotsen also Jüngere durch die nicht immer einfachen Gewässer im Zusammenleben kultureller Vielfalt (im Unterschied zu Konfliktlotsen, die konkrete Streitfälle moderieren).
Die Ausbildung umfasst zweimal 50 Stunden (je ein Basis- und ein Weiterbildungsmodul), die in AG-Form, Projekttagen und Wochenend-Workshops durchgeführt werden.
Anschließend bieten die Toleranzlotsen als Peertrainerinnen und -trainer eigene Projekttage oder kleine Workshops an, z. B. in der jährlichen Projektwoche „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ oder auch für interessierte Klassen und Kurse, die sich mit dieser Thematik befassen wollen.
Die Ausbildung bewirkt neben vielen anderen Dingen, dass wir uns als Trainerinnen und Schülerinnen und Schüler nach kurzer Zeit auf Augenhöhe begegnen können und eine offene Kommunikation als verlässliche Basis für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe möglich wird. [9]
Vom fairen Handel zum fairen Handeln
Fairer Handel ist ein Thema, das auch an Schulen in Niedersachsen eine zunehmend größere Rolle spielt. Vom Verkauf fair gehandelter Produkte zu bestimmten Zeiten im Jahr, oft in Kooperation mit Weltläden vor Ort, bis hin zu eigenen Schülerfirmen, die auch fair gehandeltes Schulmaterial wie Hefte, Papier und Mappen im Angebot haben, finden sich die unterschiedlichsten Beiträge zu einer gerechteren Welt. Schulen können sich als „fairtrade school“ [10] zertifizieren lassen und sind häufig involviert in die Zertifizierung ihrer Stadt als „fairtrade town“ [11].
Bemerkenswert ist es, wenn aus der Beschäftigung mit gerechteren Handelsbedingungen auch eine grundlegende Haltungsveränderung erfolgt, die sich nicht nur auf das Konsumverhalten beschränkt, sondern auch auf den zwischenmenschlichen Umgang.
Die Friedens-AG der Christian-Hülsmeyer-Schule in Barnstorf unter der Leitung von Dorit Schierholz verfolgt den Ansatz, faires und couragiertes Verhalten auf den Umgang miteinander zu übertragen:
Ausgehend von der Frage, was Courage bedeutet, wurde mit Schülerinnen und Schülern erarbeitet, dass eine „Schule mit Courage“ sich dadurch auszeichnet, dass mutiges Eintreten für andere selbstverständlich ist. Dazu gehört für die Schülerinnen und Schüler, Gutes zu tun, menschlich und tolerant zu sein, keinen Rassismus zu leben, Mut zu zeigen, sich für Mitschülerinnen und Mitschüler einzusetzen, fair zu sein, Respekt anderen gegenüber zu haben.“ [12]
Durch fächerübergreifende Projekte, die den einzelnen Jahrgängen zugeordnet sind, gelingt es, soziale Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu fördern, das Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler zu stärken und Werte zu vermitteln, die für ein faires und wertschätzendes Zusammenleben grundlegend sind. Faires Verhalten und respektvoller Umgang werden dabei aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und gelebt.
Unter dem Slogan „Ich bin ein Fairtrader!“ hat sich an der Christian-Hülsmeyer-Schule ein Konzept etabliert, das vier Schwerpunkte zusammenführt: achtsames Miteinander, aktive Erinnerungskultur, service learning und soziales Lernen und außerschulisches Engagement.[13]
Spracherwerb als Schlüssel zu Bildungserfolg und Teilhabe
Lehrkräfte sind immer wieder vor die Herausforderung gestellt, jungen Menschen Bildungserfolg und Teilhabe zu ermöglichen. Wenn allerdings Sprachkenntnisse als Zugang zur Bildung nicht vorausgesetzt werden können, fehlt die Grundlage für gleichberechtigte Teilhabe. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ [14] , so beschreibt Ludwig Wittgenstein die Begrenzung der Wahrnehmung und Einschränkung durch fehlende sprachliche Kenntnisse. Deshalb gilt es, Möglichkeiten der Sprachförderung gezielt in den Blick zu nehmen. Aufgrund der hohen Zuwanderungsraten haben sich viele Schulen aller Schulformen schon damit beschäftigt, geeignete Wege zu finden, um den z. T. aus Kriegs- und Krisengebieten geflohenen Kindern und Jugendlichen Kenntnisse der deutschen Sprache zu vermitteln. Dies gestaltet sich trotz der Möglichkeit zur Einrichtung von Sprachlernklassen und der Durchführung von Sprachförderunterricht als nicht immer ganz leichtes Unterfangen.
Die Heinrich-von-Kleist-Schule in Papenburg unter der Leitung von Marita Niehoff und Ralf Haustein hat sich diesem Unterfangen erfolgreich gestellt. Als auch nach mehrmaliger Beantragung einer Sprachlernklasse keine Zusage erfolgte, haben Schulleiterin und Stellvertreter mit der Unterstützung des Kollegiums ein Sprachförderkonzept für ihre Schule entwickelt, das zunächst ohne zusätzliche Mittel umgesetzt werden konnte. Etliche Schulen in der Region haben das Sprachförderkonzept der Heinrich-von-Kleist-Schule inzwischen als Grundlage zur Entwicklung eigener Konzepte genutzt.
Mittlerweile hat die Heinrich-von-Kleist-Schule eine Sprachlernklasse einrichten können und einige Schülerinnen und Schüler haben das Deutsche Sprachdiplom I (DSD I [15]) der Kultusministerkonferenz mit Erfolg abgelegt.
Um einen Eindruck zu erhalten, lohnt ein Blick in das inspirierende Video [16], das Schülerinnen und Schüler der Sprachlernklasse gedreht haben. Es verdeutlicht in beeindruckender Weise die Motivation und das Bestreben, Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, durch hinreichende Sprachkenntnisse einen angemessenen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen zu können.
In der Beharrlichkeit und dem Engagement, wie sie in diesen Schulen zu finden sind, zeigt sich für mich ein hohes Maß an Respekt gegenüber Jugendlichen, die häufig einen Rucksack tragen, den sie nicht selbst gepackt haben. Ich halte es für unsere Aufgabe als erwachsene Begleitende in Bildungseinrichtungen, diesen Rucksack ein wenig leichter zu machen.
Anmerkungen
- Unter Mitarbeit von Inge Finck, Bärbel Wetzig, Dorit Schierholz, Marita Niehoff und Ralf Haustein.
- Der folgende Link führt Sie zur Homepage der Albert-Einstein-Schule in Laatzen: www.aes-laatzen.de/index.php/projekte/to leranzlotsen.
- Der folgende Link führt Sie zu den Projekten der Friedens-AG der Christian-Hülsmeyer-Schule in Barnstorf: www.projekte-barnstorf.de/index.php/projekt-fairtrade.
- Dieser Link führt Sie zur Organisationsstruktur der Heinrich-von-Kleist-Schule in Papenburg: www.realschule-papenburg.de/files/hvk_theme/inhalt_kopfbilder/files/HVK_Organigramm_1503.pdf.
- Vgl.: www.ms.niedersachsen.de/download/54701.
- Unter folgendem Link gelangen Sie zur Homepage des Centrums für angewandte Politikwissenschaft in München, mit dem das Land Niedersachsen im Rahmen der Qualifikation von Lehrkräften bereits kooperiert hat: www.cap-lmu.de/akademie/praxisprogramme/eine-welt-der-vielfalt. Geplant ist eine weitere Qualifizierungsreihe für ein Netzwerk von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Niedersachsen. Eine Information dazu wird im Schulverwaltungsblatt 9/2015 erscheinen.
- Unter dem Stichwort der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg finden sich zahlreiche Qualifizierungsangebote. Für Niedersachsen führt Sie der folgende Link zur Seite des Gustav-Stresemann-Institutes in Bad Bevensen: www.gsi-bevensen.de/unsere_seminarangebote_ergebnisliste.php? sb=&rubrik=0-0-0&dozenten=461.
- Auch im Rahmen des Peertrainings hat das Land Niedersachasen bereits mit dem Centrum für angewandte Politikwissenschaft in München kooperiert. Weitere Informationen dazu finden Sie unter folgendem Link: www.cap-lmu.de/aktuell/meldungen/2011/niedersachsen.php.
- Für weitere Informationen können Sie sich an die beiden Autorinnen wenden: Bärbel Wetzig, Lehrerin i.R., Trainerin für ‚Eine Welt der Vielfalt‘, bwetzig@web.de, Inge Finck, Gymnasiallehrerin für Mathematik und Chemie, Trainerin für gewaltfreie Kommunikation, inge.finck@gmx.de.
- Mit dem folgenden Link gelangen Sie zur Homepage der Fairtrade Schools: www.fairtrade-schools.de.
- Weitere Informationen zu fairtrade towns finden Sie unter folgendem Link: www.fairtrade-towns.de/nc/startseite.
- Vgl. www.projekte-barnstorf.de/index.php/projekt-fairtrade/aktionen/freitagsaktionen/infos/232-courage-was-bedeutet-das-eigentlich.
- Weitere Informationen können Sie über Dorit Schierholz beziehen. Sie ist Fachleiterin für evangelische Religionslehre am Studienseminar in Syke.
- Wittgenstein, Ludwig: Tractatum logico-philosophicum, Satz 5.6.
- Unter der Leitung von Hannelore Müller wird in Niedersachsen das DSD I in einer zweijährigen Pilotphase in Kooperation mit dem Kultusministerium, der Landesschulbehörde und dem NLQ eingeführt.
- Das Sprachförderkonzept und eine von Schülerinnen und Schülern erstellte DVD können über die Schulleitung der Heinrich-von-Kleist-Schule bezogen werden.