Das Gedächtnis des Leibes*

von Thomas Fuchs

 

Unter dem Gedächtnis verstehen wir für gewöhnlich unsere Fähigkeit, uns an bestimmte Erlebnisse in der Vergangenheit zu erinnern, sie also in der Vorstellung wieder zu vergegenwärtigen, oder uns Daten und Kenntnisse zu merken und wieder abzurufen. Aber mit der bewussten Erinnerung ist das Phänomen des Gedächtnisses bei weitem nicht erschöpft, denn das meiste von dem, was wir erlernt haben, wird gar nicht im Rückblick, sondern vielmehr im praktischen Lebensvollzug zugänglich: Durch Wiederholung und Übung haben sich Gewohnheiten gebildet, die von selbst aktiviert werden; eingespielte Bewegungsabläufe sind uns „in Fleisch und Blut“ übergegangen, zu einem leiblichen Vermögen geworden – etwa der aufrechte Gang, das Sprechen oder Schreiben, der Umgang mit Instrumenten wie einem Fahrrad, einer Schreibmaschine oder einem Klavier; schließlich aber auch das selbstverständliche Sich-zurecht-Finden in vertrauten Räumen oder Situationen. Offenbar gibt es außer dem bewussten Erinnerungsgedächtnis auch ein leibliches Gedächtnis.

Henri Bergson gehörte zu den ersten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts dieses Gedächtnis als eigenständiges erkannt haben. Er sprach von der mémoire habitude, dem Gewohnheitsgedächtnis, das im Unterschied zum Erinnerungsgedächtnis „immer auf Tätigkeit gestellt, in der Gegenwart zu Hause und nur auf die Zukunft gerichtet“ sei statt auf die Vergangenheit. „Es stellt unsere Vergangenheit nicht mehr dar, es spielt sie, es imaginiert sie nicht, es agiert sie“. Merleau-Ponty hat dann in seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1945) den habituellen Leib als die Grundlage unseres Zur-Welt-Seins dargestellt, den Leib, der sich von selbst in jeder Situation einrichtet und uns gleichsam durch unsichtbare Fäden der Intentionalität mit der Welt verknüpft – Fäden, die sich schon in unseren frühesten Kontakten mit der Welt gebildet haben.

Die empirische Gedächtnisforschung hat dieses eigenständige Gedächtnissystem erst in den 70er Jahren entdeckt, als man entdeckte, dass Patienten mit hirnorganisch bedingter Amnesie, die keinerlei neue Erinnerungen mehr speichern konnten, gleichwohl in der Lage waren, sich motorische Fertigkeiten anzueignen. Sie lernten etwa eine Figur immer besser nachzuzeichnen oder ein Puzzlespiel jeden Tag rascher zu legen, ohne sich dabei aber jemals an das Spiel bewusst erinnern zu können. In der Folge unterschied man in der Gedächtnisforschung das explizite und das implizite Gedächtnis, wobei wir das implizite Gedächtnis aus phänomenologischer Sicht weitgehend mit dem Leibgedächtnis gleichsetzen können. Beide Gedächtnisformen lassen sich einander schematisch gegenüberstellen (vgl. Abbildung auf der folgenden Seite).

Das explizite Gedächtnis enthält einzelne Erinnerungen, die sich vergegenwärtigen, berichten oder beschreiben lassen; man kann es auch als „knowing that“ bezeichnen. Hingegen sind in das implizite Gedächtnis wiederholt erlebte Situationen oder Handlungen gleichsam eingeschmolzen, ohne dass sie sich noch als einzelne herausheben. Ein leibliches Können, eine Gewohnheit hat sich entwickelt, ein „knowing how“, das aber nicht oder nur schwer verbalisierbar ist – wir wären kaum in der Lage zu beschreiben, wie wir etwa einen Walzer tanzen. – Somit richtet sich das explizite Erinnern von der Gegenwart zurück auf die Vergangenheit; das implizite Gedächtnis hingegen vergegenwärtigt die Vergangenheit nicht, sondern enthält sie als gegenwärtig wirksame Erfahrung in sich. Es verkörpert und agiert das einmal Erlernte im leiblichen Vollzug.

 

Formen des Leibgedächtnisses

Die Abbildung stellt explizites und implizites Gedächtnis schematisch einander gegenüber. Das explizite Gedächtnissystem enthält neben dem autobiographischen oder Erinnerungsgedächtnis auch das semantische Gedächtnis, womit alles gezielt abrufbare Wissen gemeint ist, etwa mein Geburtsdatum, die Telefonnummer meiner Arbeitsstelle, die Hauptstadt der Ukraine usw. Das implizite Gedächtnis tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, die sich ohne scharfe Abgrenzung als prozedurales oder sensomotorisches, situatives, zwischenleibliches, inkorporatives oder traumatisches Gedächtnis bezeichnen lassen. Im Folgenden werde ich diese verschiedenen Phänomene des Leibgedächtnisses näher darstellen.

 

Prozedurales Gedächtnis

Als prozedurales Gedächtnis können wir die schon erwähnten senso-motorischen Vermögen des Leibes bezeichnen, da sie im Prozess des alltäglichen Lebensvollzugs wirksam werden: automatische Bewegungsabläufe, eingespielte Gewohnheiten, Umgehen mit Instrumenten ebenso wie die Vertrautheit mit Wahrnehmungsmustern. Ich finde automatisch die Gangschaltung und das Bremspedal meines Autos, oder die richtigen Tasten meines Computers. Ich spüre die Dinge an ihrer Stelle schon im Voraus und bin überrascht, wenn ich sie dort nicht antreffe. Ich kann mit zehn Fingern schreiben, ohne angeben zu können, wo sich auf der Tastatur die Buchstaben befinden; die gesehenen oder gedachten Worte verwandeln sich unmittelbar in Bewegungsgestalten. Ursprünglich verhielt es sich gerade umgekehrt: Wer Maschineschreiben lernt, ordnet zunächst explizit jeder Taste einen Buchstaben zu, um dann die Finger nach und nach an diese Verknüpfung zu gewöhnen. Aus der Übung ergibt sich eine Automatisierung; sie integriert die Einzelbewegungen zu einer einheitlichen Zeitgestalt, bis man die einzelnen Tasten vergessen hat: Man weiß nicht mehr, wie man tut, was man tut. – Analog verhält es sich in der Wahrnehmung: Beim Lesenlernen verbindet das Kind die einzelnen Buchstaben nach und nach zu anschaulichen Wortgestalten, die es dann „mit einem Blick“ als solche erkennt, bis es schließlich bei flüssigem Lesen unmittelbar den Sinn des Satzes erfasst. Diese Gestaltbildung, die man auch als Physiognomisierung bezeichnen kann, erlaubt eine „Vergeistigung“ der Wahrnehmung: Durch die Buchstaben hindurch, die das Kind anfangs nur einzeln sah, richtet es sich jetzt auf den Sinn der Worte.

Das Leibgedächtnis vermittelt somit die grundlegende Erfahrung der Vertrautheit, der Kontinuität, des Wiederkehrenden im Wechsel der Situationen. Es befreit uns von der Notwendigkeit, uns ständig neu orientieren zu müssen. Leibliches Lernen besteht darin, das explizite Wissen und Tun wieder zu vergessen und das Gelernte „sich setzen“, d.h. in das implizite Gedächtnis eingehen zu lassen. Dadurch erwerben wir Fähigkeiten und Bereitschaften des Wahrnehmens und Handelns, die unsere ganz persönliche Weise ausmachen, in der Welt zu sein. Leibliches Vertrautsein mit den Dingen bedeutet biographisches Vergessen, Absinken des bewusst Getanen und Erlebten in einen Untergrund, aus dem sich das Bewusstsein zurückgezogen hat, und der doch unser alltägliches In-der-Welt-Sein trägt. Wir können auch sagen: Was wir vergessen haben, ist zu dem geworden, was wir sind.

 

Situatives Gedächtnis

Betrachten wir das Beispiel einer Störung des Gewohnten – das Fehlen eines Bildes an der Wand, das mir auffällt, während ich es vorher nicht explizit wahrgenommen hatte; eine Umstellung des Mobiliars, die mich anstoßen lässt, wo ich sonst selbstverständlich meinen Weg fand. Wir erkennen daran, dass das Leibgedächtnis an Situationen orientiert ist, in denen wir uns befinden. Daher ist es zugleich ein Raumgedächtnis; es verhilft uns dazu, uns im Raum der Wohnung, der Nachbarschaft, der Heimat zurechtzufinden. Leibliche Erfahrungen verbinden sich in besonderer Weise mit Innenräumen, und je öfter dies geschieht, desto mehr wird dieser Raum erfüllt von latenten Verweisungen auf die Vergangenheit, von einer Atmosphäre der Vertrautheit. ‚Wohnen’ und ‚Gewohnheit’ sind gleichermaßen im Leibgedächtnis begründet.

Situationen sind aber auch mehr als räumliche Gebilde; es sind ganzheitliche, unzerlegbare Einheiten leiblicher, sinnlicher und atmosphärischer Wahrnehmung: ein Fußballspiel im tobenden Stadion, eine Bootsfahrt auf schäumenden Meer, ein Spaziergang durch die nächtlich erleuchtete Großstadt. Mit ähnlich wiederkehrenden Situationen durch Gewohnheit vertraut zu sein, ist nun das, was wir als Erfahrenheit bezeichnen. Der Erfahrene erkennt mit geschultem Blick das Wesentliche oder Charakteristische einer Situation; er entwickelt schließlich einen „siebten Sinn“, ein Gespür oder eine Intuition für sie. Der Torjäger hat den „Riecher“ für torgefährliche Situationen im Strafraum. Der Seemann spürt an feinsten Anzeichen das Aufziehen eines fernen Sturms. Der erfahrene Psychiater richtet sich bei der Diagnose nicht nur nach einzelnen Symptomen, Befunden und Verlaufsdaten, sondern nach dem Gesamteindruck, den er von einem Patienten und seiner Lebenssituation gewinnt. Und je mehr seine Erfahrung wächst, desto leichter wird er schon im ersten Kontakt die vorliegende Erkrankung erkennen. Kein Film oder Lehrbuch kann dieses eigene Erleben einer Diagnose und ihres besonderen Kolorits ersetzen.

 

Zwischenleibliches Gedächtnis

Das Beispiel der psychiatrischen Diagnostik hat uns bereits zu den Situationen geführt, die für uns Menschen wohl am bedeutsamsten sind: die konkrete, leibhaftige Begegnung mit anderen, die zwischenleibliche Situation. Sie ist in einem solchen Maß bestimmt von den Vorerfahrungen mit Anderen, dass wir auch von einem zwischenleiblichen Gedächtnis sprechen können, das in jeder Begegnung implizit und auf meist kaum bewusste Weise wirksam ist.

Sobald wir mit einem anderen Menschen in Kontakt treten, interagieren unsere Körper miteinander, tasten sich fortwährend ab, lösen subtile Empfindungen ineinander aus. (Wir geraten in eine Art Kräftefeld, in eine eigenständige Sphäre von Wechselwirkungen, die wir nicht oder jedenfalls nur sehr begrenzt steuern und kontrollieren können.) Unsere Körper verstehen einander, ohne dass wir genau sagen könnten, wodurch und wie das geschieht. Merleau-Ponty bezeichnete diese Sphäre des unwillkürlichen Kontakts als „Zwischenleiblichkeit“. In diese Sphäre gehört auch der erste Eindruck, den wir von einem Menschen erhalten. Er erfasst sicher nicht nur die äußere Gestalt seines Körpers, sondern etwas von seiner Wesensart, von seinem persönlichen Stil, ohne dass wir dessen Merkmale im Einzelnen explizieren könnten. Die Persönlichkeit eines Menschen kommt in seiner Leiblichkeit zum Ausdruck, also in seinem Auftreten, seinen Gesten und Gebärden, in seiner Haltung, seinem Gang oder seiner Stimme.

Solche leiblichen Haltungen und Verhaltensweisen sind untrennbar verknüpft mit Interaktionsmustern; sie bringen auch Gefühle, Einstellungen und Beziehungen zu den Anderen zum Ausdruck. So enthält etwa die unterwürfige Haltung gegenüber einer Autoritätsperson zugleich Haltungs- und Bewegungskomponenten (gebeugter Oberkörper, hochgezogene Schultern, Bewegungshemmung), Interaktionskomponenten (respektvoller Abstand, leise Stimme, Zustimmung) und Gefühlskomponenten (Respekt, Demut, Ängstlichkeit). Unsere gesamten Interaktionen beruhen auf solchen einheitlichen leiblichen, emotionalen und Verhaltensbereitschaften, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind wie das Gehen oder Schreiben. Sie sind zu dem geworden, was ich leibliche Persönlichkeitsstruktur nenne. Die scheue, unterwürfige Haltung etwa eines dependenten Menschen, seine weiche Stimme, seine kindliche Mimik, seine Nachgiebigkeit und Ängstlichkeit gehören einem einheitlichen Haltungs- und Ausdrucksmuster an, das seine Persönlichkeit wesentlich ausmacht. Auch unsere Grundhaltungen, unsere typischen Reaktionen und Beziehungsmuster: mit einem Wort: unsere Persönlichkeit ist somit in unserem Leibgedächtnis verankert.

 

Inkorporatives Gedächtnis

Freilich verläuft die Entwicklung leiblicher Persönlichkeitsstrukturen aus der frühen zwischenleiblichen Sphäre heraus nicht bruchlos. Sie schließt auch das ein, was wir Inkorporationen nennen können, d.h. Überformungen der primären Leiblichkeit durch die Übernahme von fremden Haltungen oder Rollen. Dies geschieht häufig in unwillkürlicher leiblicher Nachahmung oder Identifizierung mit anderen. Auf diese Weise übernehmen schon Kleinkinder etwa in ihren Spielen Haltungen und Rollen bis hin zur Geschlechtsrolle und inkorporieren sie. Der Leib erhält eine Außenseite; er wird zum Körper-für-andere und zum Träger sozialer Symbolik, sei es in der willkürlich eingenommenen Pose, in Kleidung, Schmuck oder Kosmetik. Man lernt sich darzustellen, aber auch sich zu verstellen, eine Rolle zu spielen und den spontanen Ausdruck zu hemmen.

Diese verinnerlichten Haltungen dienen nicht zuletzt dazu, spontane leibliche Impulse zu hemmen, stehen also im Dienst sozialer Disziplinierung. Norbert Elias (1977) hat an historischen Beispielen gezeigt, wie der Körper im „Prozess der Zivilisation“ mehr und mehr einer Formung von Haltung und Bewegung unterworfen wurde, um die Trieb- und Affektkontrolle des Individuums zu erhöhen. Erziehung, Schule oder Militär waren die klassischen Institutionen schmerzhafter Zurichtung des Leibes, die ihn zur Kolonie internalisierter Ordnungen machten. Heinrich Heine hat ein Beispiel solcher Inkorporation treffend mit den Worten bezeichnet, die Preußen hätten offensichtlich „den Stock geschluckt, der sie geschlagen.“ Ähnlich zeigt sich in der biographischen Anamnese heutiger zwanghafter Persönlichkeiten meist deutlich, dass ihnen die rigide Fixierung leiblicher Haltungen, die Unterdrückung der Bauchatmung und die Hemmung der Ausdrucksmotorik von Kindheit an als Mittel der Selbstkontrolle gegenüber uner- wünschten oder bedrohlichen Impulsen diente.

 

Traumatisches Gedächtnis

Die gravierendste Form der Einschreibung in das Leibgedächtnis stellt das Trauma dar – das Erlebnis eines schweren Unfalls, von Vergewaltigung, Folter oder Todesbedrohung. Das Trauma ist ein Ereignis, das sich nicht aneignen, nicht in einen Sinnzusammenhang integrieren lässt. Es werden Abwehrmechanismen und Vermeidungen installiert, um den schmerzhaften Gehalt der Erinnerung zu isolieren, zu vergessen, zu verdrängen. Das Trauma entzieht sich der bewussten Erinnerung, bleibt aber umso virulenter, wie ein Fremdkörper, im Leibgedächtnis präsent. Auf Schritt und Tritt kann der Traumatisierte auf etwas stoßen, das in ihm das Trauma wieder wachruft. Es aktualisiert sich in bedrohlichen, beschämenden oder in anderer Weise dem Trauma ähnlichen Situationen, auch wenn dem Traumatisierten diese Ähnlichkeit nicht bewusst ist. Unfallopfer geraten in Panik, wenn selbst unscheinbare Umstände im Verkehr dem früher erlebten Unfallereignis gleichen. Vergewaltigte, die im Schlaf überfallen wurden, wachen oft später immer um dieselbe Zeit auf, zu der der Überfall stattfand. Schmerzen eines Folteropfers können in einer akuten Konfliktsituation wieder auftreten und dabei genau den Körperpartien entsprechen, die damals der Folterung ausgesetzt waren. Der Körper erinnert das Trauma, als geschähe es ihm noch einmal – der Schmerz, die Verkrampfung werden im Körperteil spürbar, der es erlitten hat.

Ein eindrucksvolles Beispiel für das traumatische Gedächtnis findet sich in der Autobiographie des jüdischen Schriftstellers Aharon Appelfeld, der sich als Junge während des zweiten Weltkriegs fünf Jahre lang in den Wäldern der Ukraine versteckt halten musste (Appelfeld 2005, 57.95f.):

„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe … Die Zellen des Körpers erinnern sich anscheinend besser als das Gedächtnis, das doch dafür bestimmt ist. Noch Jahre nach dem Krieg ging ich nicht in der Mitte eines Gehsteigs oder Wegs, sondern immer dicht an der Mauer, immer im Schatten, immer eilig, wie einer der flieht (...) Manchmal reicht der Geruch eines Essens, Feuchtigkeit in den Schuhen oder ein plötzliches Geräusch, um mich mitten in den Krieg zurückzuversetzen (...) Der Krieg sitzt mir in allen Gliedern.“

Hier ist es eine ganze Lebensphase, die ihre Spuren im Leibgedächtnis hinterlassen hat, und diese Spuren sind sogar tiefer und haltbarer, als es die autobiographischen Erinnerungen sein könnten: Körperempfindungen, Tast-, Geruchs- und Hörsinn, ja sogar bestimmte Wetterbedingungen genügen, um die Vergangenheit plötzlich wieder lebendig werden zu lassen, und das Bewegungsmuster an der Wand entlang ahmt immer noch das Verhalten des Flüchtlings nach.

 

Explikation leiblicher Erinnerung

Damit habe ich einen skizzenhaften Überblick über einige Erscheinungsformen des Leibgedächtnisses gegeben. Kehren wir abschließend noch einmal zurück, wovon wir ausgegangen sind, zum Gegensatz von expliziter und impliziter Erinnerung. Inzwischen hat sich schon angedeutet, dass zwischen beiden Gedächtnissystemen keine strikte Trennung besteht. Das explizite Lernen geht durch Übung und Wiederholung in das implizite Können über. Umgekehrt kann aber auch das Leibgedächtnis einen unmittelbaren Zugang zum expliziten Gedächtnis herstellen und die Vergangenheit so wiedererstehen lassen, als wäre sie unmittelbar gegenwärtig. Leibempfindungen oder leibräumlich erlebte Situationen können als implizite Gedächtniskerne wirken und in sie eingeschlossene Erinnerungen freisetzen. Geruchs- oder Geschmacksempfindungen, bekannte Melodien oder auch die Atmosphären vertrauter Plätze besitzen in besonderer Weise das Vermögen, die Vergangenheit in uns wiederzuerwecken; sie sind gleichsam aufgeladen mit den intensivsten Erinnerungen, die wir kennen.

Das Leibgedächtnis ist der zugrunde liegende Träger unserer Lebensgeschichte, letztlich unserer persönlichen Identität. Es enthält nicht nur die gewachsenen Bereitschaften unseres Wahrnehmens und Verhaltens, unseres ganzen In-der-Welt-Seins, sondern auch Erinnerungseinschlüsse, die uns mit unserer biographischen Vergangenheit auf intensivste Weise verbinden. Und selbst dann, wenn eine Demenzerkrankung einen Menschen seiner expliziten Erinnerungen beraubt, behält er noch immer sein leibliches Gedächtnis: Seine Lebensgeschichte bleibt gegenwärtig in den vertrauten Anblicken, Gerüchen, Berührungen und Handhabungen der Dinge, auch wenn er sich über den Ursprung dieser Vertrautheit nicht mehr im Klaren ist, seine Geschichte nicht mehr erzählen kann. Seine Sinne werden zum Träger eines sprachlosen, aber treuen Gedächtnisses, von dem Marcel Proust schreibt:

„Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.“ (Proust 1954, 74).

 

Literatur

  • Appelfeld, Aharon: Geschichte eines Lebens, Berlin 2005.
  • Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991 (übers. aus Frz.: Matière et mémoire, Paris 1896)
  • Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Franfurt am Main 1977.
  • Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, (übers. aus Frz.: Phénoménologie de la perception, Paris 1945)
  • Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: In Swanns Welt, Frankfurt am Main 1954 (übers. aus Frz.: À la recherche du temps perdu, Paris 1913-1927)

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2012

PDF