Die Bedeutung von konkreten Orten der Erinnerung für das Christentum und das religiöse Lernen im Besonderen kann kaum überschätzt werden. So wie die christliche Religion auf Formen der Erinnerung basiert, so unverzichtbar sind Orte als reale Ankerpunkte dieser Erinnerung. Der Begriff des „Erinnerungsortes“ zielt dabei weniger auf ein enges, geographisches Ortsverständnis als vielmehr auf den symbolischen Überschuss und die (kollektive) Erinnerungskonstruktion, die einen Ort zum Kristallisationspunkt der Vergegenwärtigung machen.1 Eine solche zeitliche wie örtliche Vergegenwärtigung ist Anliegen einer zweitägigen Exkursion nach Wittenberg. Dieses Zentrum der Reformation bietet verschiedene Lernanlässe, aber auch mnemotechnische Stützen für wichtige theologische wie geschichtliche Kenntnisse. Eine Fahrt nach Wittenberg eröffnet die Möglichkeit, die bleibende Relevanz und die Komplexität der Reformation zu „er-fahren“.
Luther als Thema des 7./8. Jahrgangs
Während die alten Rahmenrichtlinien für die Sekundarstufe I des Gymnasiums ekklesiologische Themen marginalisierten, haben kirchliche Themen generell, speziell aber auch historische Aspekte mit dem 2009 eingeführten Kerncurriculum deutlich an Relevanz gewonnen. Dabei liegt im Doppeljahrgang 7/8 ein besonderes Gewicht auf der Reformation. Dies korreliert mit dem Kerncurriculum Geschichte, das für den Jahrgang 7 auch die Thematisierung der Epochen Mittelalter und Renaissance vorsieht: Klosterleben, Buchdruck, Reformation, Bauernkrieg und Gegenreformation sind dort verpflichtende Aspekte.
Obwohl viele Schülerinnen und Schüler in der 3./4. Klasse bereits im Religionsunterricht der Grundschule zu Luther gearbeitet haben, bleibt ihnen diese Identität stiftende Figur oft ohne kontextuelle Einbettung in Erinnerung. Dies betrifft sowohl Luthers historisch-soziales als auch sein individuell-biographisches Umfeld. Nur in diesen Zusammenhängen ist jedoch in der Sekundarstufe II eine adäquate Auseinandersetzung mit seiner Theologie möglich.
Wittenberg als Exkursionsziel
Im Idealfall wird eine Exkursionsfahrt institutionalisiert und fest im Schuljahresplan verankert, etwa mit den Schülerinnen und Schülern aller Religionskurse des 7. Jahrgangs nach Wittenberg wie an der Käthe-Kollwitz-Schule Hannover. Die Fahrt nach Wittenberg bietet die Chance einer umfassenden und erfahrungsbezogenen Kontextualisierung von Martin Luther und seiner reformatorischen Erkenntnis. Zum einen kann das konkrete Lebensumfeld Luthers in Wittenberg „greif-bar“ gemacht werden, zum anderen sollte der Solitär Luther als entscheidender Teil der Wittenberger Reformation eingeordnet werden im Verbund mit exemplarisch besonders gut fassbaren, weiteren Persönlichkeiten. In besonderer Weise sind dies Luthers Landesherr Friedrich der Weise, seine Frau Katharina von Bora, der Reformationsmaler Lucas Cranach sowie der Humanist und Theologe Philipp Melanchthon.
Zur konkreten Planung: Die Exkursion dauert inklusive An- und Abreise per Bus oder Bahn zwei Tage, Unterkunft bietet die 2007 neu eingerichtete Jugendherberge am Rande der Altstadt. Da die Innenstadt im Wesentlichen aus zwei ellipsenförmig verlaufenden, verkehrsberuhigten Straßen besteht, können Jugendliche im 7. Jahrgang die Stadt gefahrlos auch eigenständig in Gruppen erkunden. Die jeweiligen Teilgruppen hatten in den zwei Tagen jeweils vier inhaltliche Blöcke zu absolvieren: Die Religionslehrkräfte führten zum einen durch die Ausstellung im Lutherhaus, zum anderen durch die Stadtkirche. Im Vorfeld lässt sich eine Vorführung in der historischen Druckerstube buchen (http://www.cranach-stiftung.de/hoefe/schloss1-heute.html, Ansprechpartner: Herr Metschke). Zudem haben wir eine auf Niedersachsen bezogene Stadtrallye für Kleingruppen entwickelt (vgl. M 1).
Wer die Schlosskirche kirchenpädagogisch erkunden will, kann sich an Pastorin Scheinemann-Köhler (http://www.scheinemann.eu) wenden. Wir haben den Turm in der Dämmerung bestiegen und den Tag mit einer kurzen Andacht beschlossen.
An Freizeit für die Schülerinnen und Schüler haben wir insgesamt anderthalb Stunden veranschlagt. Darauf sollte man die Schülerinnen und Schüler im Sinne der Transparenz bereits im Vorfeld einstimmen und den exakten Verlaufsplan gemeinsam mit den Aufgaben zur Stadterkundung und einem Stadtplan auf der Hinreise zur Verfügung stellen (http://www.lutherstadt-wittenberg.de/stadtplan.html – der zur eigenständigen Erkundung für die Schüler/-innen freigegebene Innenstadtbereich kann farbig markiert werden). Im laufenden Schuljahr belaufen sich die Gesamtkosten auf 64,50 Euro pro Person inklusive Bahnfahrt von Hannover, Unterkunft mit Vollverpflegung und Eintritten.
Martin Luther und Katharina von Bora
Luther wechselte 1511 ins Kloster nach Wittenberg. An der neugegründeten Universität erwarb er seinen theologischen Doktorgrad und lehrte bis zu seinem Lebensende Bibelwissenschaft. Hier kam er zu seiner reformatorischen Erkenntnis, hier hat er am Vorabend zu Allerheiligen 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablass möglicherweise an der Tür der Schloss- und Universitätskirche veröffentlicht. In jedem Fall wurde ihm nach Verwaisung seines Klosters das Gebäude vom Kurfürsten überlassen, so dass er es ab 1525 gemeinsam mit seiner Ehefrau Katharina von Bora bewohnte.
Heute ist hinter dem im Straßenflügel untergebrachten Predigerseminar das Lutherhaus als Museum zu besichtigen. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf der Biographie Luthers und auf der sozialen und politischen Institutionalisierung der Reformation. Auch die problematischen Seiten Luthers können gut aufgegriffen werden. Während Luthers Stellung zum Bauernkrieg bereits während des Rundgangs greifbar wird, kann sein Verhältnis zu den Juden anhand seiner im Schriftensaal ausgestellten historischen Drucke verdeutlicht werden.
Sinnvoll kann ein Rundgang durch das Museum in der obersten Etage mit einem etwa 15-minütigen Film über Lutherfilme und deren jeweilige Lutherrezeption rekapituliert werden. Insgesamt geht es in der Ausstellung weniger um ein theologisches Programm, sondern eher um Luther als historische Person im Kontext des damaligen Alltagslebens einerseits und der besonderen politischen Situation andererseits. Die verschiedenen Ausstellungsbereiche sind so angelegt, dass ein Museumsbesuch innerhalb einer überschaubaren Zeit möglich ist. Ein vielfältiges museumspädagogisches Angebot – insbesondere für Kinder und Jugendliche – kann im Voraus organisiert werden. Eine religions- pädagogische Führung durch Religionskolleginnen und -kollegen, die Vorwissen aus dem Unterricht aufgreifen und im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern vertiefen, erschien daher am effektivsten.
Friedrich der Weise und Philipp Melanchthon
In Wittenberg ist Friedrich der Weise durch sein Schloss und die Gedenktafeln für die von ihm gegründete Universität greifbar. Die Unterbringung der Jugendherberge im Vorschloss sorgt für ein besonderes Ambiente – verlässt man den Haupteingang, steht man auf dem Innenhof des kurfürstlichen Schlosses. Zur Rechten sieht man Schiff und Chor der Schlosskirche, in der Friedrichs große Reliquiensammlung untergebracht war. Zum Kirchweihfest an Allerheiligen dürfte diese Sammlung zum Erwerb von Ablass in einer sogenannten Heiltumsweisung zur Schau gestellt worden sein. Friedrich der Weise kann damit sowohl als Altgläubiger gezeichnet werden als auch als Landesherr Luthers, der seinen Vorzeigetheologen gegen kaiserliche und päpstliche Verfolgung in Schutz nimmt.
1858 wurde aus Bronze eine Tür für die Schlosskirche gegossen, auf der Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel zu lesen sind. In der Kirche selbst befinden sich die Gräber Luthers und Melanchthons. Während das Exkursionsprogramm Luther und Cranach ausführlich thematisiert, werden die weiteren Persönlichkeiten wie der Kurfürst und Melanchthon bei der Stadtrallye und mit kurzen Erläuterungen auf den gemeinsamen Wegen durch die Stadt und bei der Schlosskirchenerkundung vorgestellt. Ein eigener Besuch des Melanchthonhauses ist zeitlich nicht zu bewältigen. Zu Ehren des Humanisten können junge Lateinerinnen und Lateiner die Grabaufschriften für die beiden Reformatoren während der kirchenpädagogischen Erkundung übersetzen. Bei der Auflösung der Abkürzungen („h[oc] l[oco] s[epultum] e[st]“ – ist an diesem Ort begraben, „ann[o]“ – im Jahr oder „s[pectabilis] v[iri]“ des angesehen Mannes) benötigen die Jugendlichen natürlich Hilfe für das fächerübergreifende Lernen.
Lucas Cranach und Johannes Bugenhagen
Cranach war nicht nur Freund und Trauzeuge Luthers. Als Maler gab er der Reformation bildnerischen Ausdruck. Seine Luthergemälde waren Prototypen für alle späteren Bilder. Cranach stellte auch die reformatorischen Lehren bildlich dar. Dies wird besonders deutlich bei der bekannten Miniatur von „Gesetz und Evangelium“, die im Lutherhaus per Multimediastationen zu erschließen ist.
Die lutherische Auffassung von Kirche und Sakramenten wird in der Stadtkirche auf dem Altar deutlich (M 2). Gleichsam als Basis ist auf der Predella die kirchliche Verkündigung von der Gnade Gottes im Kreuzestod Jesu Christi dargestellt. Obwohl Luther kaum in der Stadtkirche gepredigt haben dürfte, stellt Cranach ihn als den Wiederentdecker dieser biblischen Einsicht auf die Kanzel. Gemäß CA 7 ist Kirche dort, wo das Evangelium verkündigt und die Sakramente recht verwaltet werden. Von links nach rechts sind auf dem Altar Taufe, Abendmahl und Beichte mit den Protagonisten der Wittenberger Reformation dargestellt: Melanchthon tauft in Anwesenheit von Cranach. Christus selbst spendet das Abendmahl – u.a. auch an Luther, der anders als die Gemeinde in der tridentinischen Messe auch den Kelch empfängt. Der Stadtpfarrer Bugenhagen hält zwei Schlüssel in seinen Händen; in der Nachfolge der Jünger Jesu hat er die Vollmacht zu binden und zu lösen (Mt 18,18). Während Taufe und Abendmahl vielen Jugendlichen im Vorfeld der Konfirmation durchaus vertraut sind, ist dies bei der Beichte für den evangelischen Bereich kaum der Fall. Man kann sie auf das allgemeine Sündenbekenntnis zu Beginn des Gottesdienstes hinweisen und im Unterricht die existentielle Chance von Sündenbekenntnis und -vergebung problematisieren.
Obwohl Cranach d. Ä. sonst gegenüber katholischen Auftraggebern durchaus flexibel agierte, muss das Bildprogramm eines Epitaphs im Chorraum der Stadtkirche aus ökumenischer Sicht hinterfragt werden: Lucas Cranach d.J. stellt Gottes Weinberg dar. Auf der linken Seite verheeren die Altgläubigen den Weinberg, indem sie Rebstöcke ausreißen und verbrennen sowie den Brunnen verschütten. Dagegen setzen die Reformatoren den Weinberg auf der rechten Bildhälfte wieder instand. Luther harkt Unkraut zur Seite, um Platz für die richtigen Pflanzen zu schaffen; der Humanist Melanchthon geht ad fontem – zur Quelle der Heiligen Schrift; und der Verfasser der Kirchenordnungen für Braunschweig und Hildesheim Bugenhagen schafft mit der Hacke Ordnung. Gerade bei einer ökumenisch verantworteten reformationsgeschichtlichen Exkursion ist es heute notwendig, die Charismen der jeweiligen Konfessionen in versöhnter Verschiedenheit und nicht in billiger Polemik zu betonen.
Darüber hinaus wird Cranachs bedeutende Stellung in Wittenberg in den ihn gehörenden Häusern deutlich. In den Cranach-Höfen befindet sich die Druckwerkstatt, in der der Drucker Metschke in humorvoll-handfester Weise die Jugendlichen auf die medialen Voraussetzungen der Reformation verweist.
Kirchenpädagogik oder Andacht
Nach der Evaluation der ersten Fahrt haben wir im Rahmen der zweiten Exkursion in der Schlosskirche anstelle der kirchenpädagogischen Erkundung eine ökumenische Andacht gehalten, die vorher im Unterricht mit den einzelnen Lerngruppen vorbereitet wurde. Diese programmatische Umstellung fiel uns nicht leicht, zumal die Schülerinnen und Schüler bereits in drei Blöcken vorwiegend Input erhalten und nur während der Rallye eigenverantwortlich arbeiten können. Die ganzheitlichen Bausteine der Schlosskirchenerkundung waren deshalb sehr gut angekommen. Gleichwohl sollte die Exkursion nun liturgisch klarer abgerundet werden. Hier ist wie bei allen gottesdienstlichen Handlungen im Rahmen von Schule Augenmaß gefordert – sowohl was die Rolle der Lehrkräfte als auch was die Zusammensetzung der Lerngruppen betrifft. Abgesehen von der Diskussion um Gestaltungskompetenz dient eine Andacht nicht zuletzt dazu, Rechtfertigung gottesdienstlich erfahrbar werden zu lassen.
Anmerkungen
- Vgl. Christoph Markschies/Hubert Wolf: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Das Christentum als Erinnerungsreligion, in: Erinnerungsorte des Christentums, hrsg. v. dens., München 2010, 10-27, 12f.