Portfolio im Religionsunterricht – Eine Möglichkeit nachhaltigen Lernens

von Hannah Richter

 

Was ist ein Portfolio? 

Ein Portfolio (a. d. Lat.: portare = tragen und folium = Blatt) ist eine Mappe, in der eine Auswahl an Arbeiten zusammengestellt ist, die also eine Leistung dokumentiert. Darüber hinaus kann ein Portfolio auch eine Lernentwicklung, verbunden mit einer Reflexion, spiegeln. Es ist ein innovatives Lerninstrument und ein alternatives Beurteilungsinstrument, denn es ermöglicht ein tieferes Verständnis von Lernprozessen und führt weg von fremdbestimmter testorientierter Leistungsfeststellung durch die Lehrenden hin zu einer stärker selbstbestimmten Leistungsdarstellung durch die Schülerinnen und Schüler.

Übersetzt man den Begriff “Portfolio” aus dem Lateinischen, handelt es sich wörtlich um eine Sammlung von Blättern, die man mit sich herumträgt, vergleichbar heute mit einer Sammlung von Wertpapieren bei einer Bank.

Die “Wertpapiere” der Schülerinnen und Schüler dokumentieren ihre Lernfortschritte, sind ein lebendiges Archiv oder ein “Lerngedächtnis” – also ein Album, in dem wichtige Stationen und Etappen des Lernens aufbewahrt und gegebenenfalls immer wieder ergänzt und umsortiert werden können.

Im Gegensatz zum herkömmlichen Unterricht richtet ein kompetenzorientierter Unterricht den Blick auf das, was Schülerinnen und Schüler am Ende einer bestimmten Lernzeit wissen und können; damit ist ein Perspektivenwechsel eingeleitet, denn die Wege zu diesem Ziel werden variabel und orientieren sich an den Schülerinnen und Schülern und ihren Lernvoraussetzungen. Der Unterricht kann ihnen einen Erfahrungs- und Handlungsraum erschließen, indem er motivierende Lernarrangements anbietet und zur Mitgestaltung einlädt.

Eine hervorragende Möglichkeit, die sich hier anbietet und in letzter Zeit gerade in der Mittel- und Oberstufe des Gymnasiums in den Mittelpunkt des Interesses rückt, ist die Arbeit mit Portfolios: Schülerinnen und Schüler werden – anders als bei der reinen “Stoffvermittlung”, die häufig den Schülerinnen und Schülern nur die Möglichkeit lässt, Inhalte zu rezipieren – durch ein auf selbstständiges Arbeiten zielendes Unterrichtskonzept herausgefordert, Ausdauer und Engagement zu zeigen. Portfolios können prozessorientiert oder ergebnisorientiert angelegt sein; vielfach fordert das Portfolio die Schülerinnen und Schüler zu sehr individueller Gestaltung heraus und hat daher eine hohe Aussagekraft; es erfordert ein höheres Maß an Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Schüler und Lehrkraft und wirkt sich dadurch auch auf die Unterrichtsgestaltung aus.1

 

Chancen der Arbeit mit einem Portfolio

Die Chancen einer solchen Arbeit bestehen v. a. in der Schaffung eines Raumes für Kreativität und Selbstbestimmtheit von Schülerinnen und Schülern (das betrifft Inhalte, Akzente und Tempo): Die Schülerinnen und Schüler können den Lernprozess selbst steuern und dabei Fragestellungen entdecken, auf die sie sonst nicht gekommen wären; sie können sich einer Frage oder einem Problem intensiver zuwenden als im herkömmlichen Unterricht, in dem für alle das Tempo vorgegeben wird.

Dadurch ergibt sich eine Erweiterung dessen, was als Leistung anerkannt wird: Neben der stärkeren Einbeziehung des Lernprozesses im Gegensatz zur nur punktuellen Leistungsmessung (wie Klassenarbeit oder mündliches Abfragen) werden auch andere Formen als “Leistung” zugelassen: Recherche, Fotodokumentation, Bericht über den eigenen Arbeitsgang, Briefwechsel, Kritik, Bücherliste, Gedicht, Tonbandaufnahme, Interview, Web-Site u. a. m.

Die Lehrerrolle verändert sich: Aus dem “Be-lehrer” wird ein Berater, Coach, Betreuer, der ermutigen und Rückmeldungen geben kann.

Es eröffnen sich Möglichkeiten der Einbeziehung außerschulischer Lernorte, weil die Arbeit nicht an den Klassenverband gebunden ist.

Schließlich ermöglicht diese Arbeitsform Einblicke in Arbeitsstil und Entwicklung einer Person – das Ergebnis “verschwindet” nicht nach getaner Arbeit. Im Gegenteil: Es fördert die Feedbackkultur. Es bieten sich “Portfoliogespräche” an (Austausch und Verständigung über das Produkt und seine Entstehung, über Lernökonomie und -fortschritte, über wahrgenommene Stärken und Schwächen), evtl. auch Präsentationen einzelner Teile eines Portfolios vor Publikum (Klassenstufe, Eltern).

 

Gefahren

Gefahren, die man vorher bedenken (und evtl. im Vorfeld ausräumen!) sollte:

Portfolios zu erstellen ist aufwändig. Wenn es für die ganze Klasse zur Pflicht wird, muss man bei einigen mit Unmut bzw. fehlender Motivation rechnen! Bietet man dagegen stattdessen Alternativen an (Klassenarbeit), muss man sich der zusätzlichen Arbeit bewusst sein.
Die Offenheit der Arbeitsform kann für manche zur Falle werden:

a. Fehleinschätzung des Zeitaufwands, mangelnde Strukturierungsfähigkeit (hier kann ein vorgegebener Zeitplan eine Hilfe sein)

b. Steckenbleiben im “Container-Stadium” (viel Material gesammelt, das nicht gezielt bearbeitet wird)

Nicht zu leugnen sind geschlechtsspezifische Unterschiede: Gestalterischer Aufwand wird v. a. von Mädchen betrieben, Jungen haben dazu oft keine Lust – zu überlegen wäre, wie sie stärker motiviert werden können.

Schließlich kann es Schwierigkeiten bei der Gewichtung von Prozess und Produkt geben; es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob der Weg das Ziel ist oder ob nur das fertige Produkt bewertet werden soll. Kann man nicht auch aus misslungenen Produkten lernen?

 

Gelingensbedingungen

Deshalb sollten im Vorfeld Gelingensbedingungen hergestellt werden:

  1. Schulische Voraussetzungen: Geeignete und unterstützende schulische Voraussetzungen sollten vorher überlegt, geprüft und evtl. geschaffen werden, d. h. genügend großer Raum, möglichst Doppelstunden. Die Lehrperson muss zur individuellen Beratung und Förderung der Schülerinnen und Schüler bereit sein.
  2. Didaktische Reflexion des Arrangements der Lernsituation: Die Umgebung, in der das Portfolio entstehen soll, muss vorbereitet werden, Arbeitszeiten müssen geklärt und festgelegt, Hilfsmittel (Bücherkiste, Internetzugang) bereitgestellt werden.
  3. Transparenz der Bewertungskriterien: Die Lehrperson sollte klare Erwartungen formulieren und sich rechtzeitig mit den Schülerinnen und Schülern über Umfang und Art des Portfolios, auch über formale Vorgaben (Inhaltsverzeichnis, Seitenangaben, Quellenangaben, formalisiertes Deckblatt) verständigen und nachvollziehbare Bewertungskriterien offen legen.

 

M 1: Schüleraufgabenblatt

Das Bibelportfolio

In diesem Portfolio sollen wichtige Produkte, die du in der Auseinandersetzung mit dem Thema selbst erarbeitet hast, gesammelt werden. Das Portfolio verknüpft die persönliche Seite des Lernens mit der “offiziellen”. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dein Portfolio zu gestalten – freiwillige und verpflichtende.

Pflicht:

  • Titelblatt, Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben, Quellenangaben
  • Die Lektüre eines biblischen Buches mit begleitenden Einträgen (Bibellesetagebuch)
  • Die Auseinandersetzung mit einer biblischen Gestalt (David, Mose, Ruth, u. a.)
  • Die Zusammenfassung eines theologischen Sachtextes zu einem selbstgewählten Thema (Quelle: Renate Wind, Die Bibel, Calwer Verlag Stuttgart 2002)
  • Die Ergebnisse einer Gruppenarbeit (aus dem Unterricht) oder eine Hausaufgabe
  • Eine Schlussreflexion (Einschätzung des eigenen Lernprozesses)


Vorschlag zum Vorgehen beim Bibellesetagebuch:

  • Textabschnitt (Mk 8, 1-9)
  • Text mit einer eigenen Überschrift versehen (Eine Mahlzeit mit 4000 Gästen)
  • Kurze Zusammenfassung (Jesus fordert seine Jünger auf, einer riesigen Menschenmenge zu essen zu geben; obwohl sie nur sieben Brote und einige Fische haben, werden alle satt.)
  • Aspekt/Vers, der mir gefallen hat (“Mich jammert das Volk, denn sie haben nun drei Tage bei mir ausgeharrt und haben nichts zu essen.” Jesus sorgt sich um die Leute, die um ihn sind.)
  • Fragen, die der Text mir gestellt hat (inhaltlich, bibelkundlich) (Wie ist es möglich, dass so wenige Brote für so viele Leute ausreichen? An anderer Stelle im NT habe ich mal gelesen, es sollen 5000 Menschen gewesen sein! Was stimmt nun?)
  • Persönliche Fragen/Anmerkungen (Ich persönlich glaube ja, dass man weniger isst und mit weniger zufrieden ist, wenn man in sich einer Gemeinschaft befindet, wo man sich wohlfühlt!)

Kür:

  •  Sammlung von Bibelzitaten
  • Assoziationen zum Unterricht
  • Briefe
  • Zeitungsartikel
  • Fotos/Bilder, Gedichte, Lieder zum Thema

→ Die Tatsache, dass es “Pflicht” und “Kür” gibt, heißt nicht, dass man die “Kür” ganz weglassen kann! Du solltest also von den oben genannten Vorschlägen mindestens drei auswählen und umsetzen!

Bewertungskriterien:

  1. 1. Umfang: Vollständigkeit; nur das Nötigste oder deutlich mehr als das Pflichtpensum?
  2. Inhalt: Qualität der Ergebnisse
  3. Thematische Vielfalt und Anordnung der Materialauswahl: Findet man sich gut darin zurecht? Übersichtlichkeit?
  4. Äußere Form: Sorgfalt; ansprechende Gestaltung
  5. Sprachliche Form: Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik in Ordnung?
  6. Überzeugende Einschätzung des eigenen Lernprozesses

 

M 2: Schüleräußerungen

Schüleräußerungen (nach der Portfolioarbeit)

“Die Bibel freiwillig lesen? Das konnte ich mir bisher gar nicht vorstellen. Jetzt habe ich es getan, und ich muss sagen: Es war anstrengend, aber es hat sich gelohnt!” Nadja

 “Ein ganzes Evangelium am Stück zu lesen hat mir eine ganz neue Sicht ermöglicht, ich hab viel Neues gelernt.” Amelie

“Man wurde nicht gezwungen, etwas Bestimmtes 100%ig zu wissen, sondern konnte auswählen. Durch diesen Gestaltungsfreiraum habe ich praktisch etwas gelernt, ohne mir dessen bewusst zu sein – eine Superidee!” Janine

“Nie habe ich mich so intensiv mit der Bibel beschäftigt wie in dieser Zeit. Gefallen hat mir vor allem das Buch Joel.” Svenja

“Während der Arbeit habe ich angefangen, das im Unterricht Gelernte anzuwenden.” Christina

“Für mich hat durch diese Arbeit die Bibel an Glaubwürdigkeit und Relevanz gewonnen.” David

 “Als ich in der Kirche war und der Pfarrer aus dem Johannesevangelium vorgelesen hat, wusste ich genau, was gemeint war, was davor und danach kam – und war stolz!” Sina

“Es war sehr viel Arbeit, aber man kann auch in ein paar Monaten oder Jahren noch anschauen, was man erarbeitet hat, das finde ich gut.” Corinna

 

Anmerkung

  1. Zum ersten Mal selbst durchgeführt habe ich die Arbeit mit einem Portfolio am Robert-Bosch-Gymnasium in Langenau (Baden-Württemberg) im Schuljahr 2006/07 in einer 11. Klasse zum Thema “Bibel”. Vgl. auch:entwurf 2+3 2007,42-45.)

 

Literatur

  • Brunner, Ilse/Häcker, Thomas/Winter, Felix (Hg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung, Seelze-Velber 2006
  • Brunner, Ilse/Schmidinger, E.: Leistungsbeurteilung in der Praxis. Der Einsatz von Portfolios im Unterricht der Sekundarstufe I, Linz 2001
  • Häcker, Thomas: Qualitäten des Projektlernens mit Portfolios zurückgewinnen. TheoPrax. Magazin für Aus- und Weiterbildung, (1) 2004, S.14-22
  • Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2008
  • Schwarz, J.: Die eigenen Stärken veröffentlichen. Portfolio als Lernstrategie und alternative Leistungsbeurteilung. Friedrich Jahresheft, (Jahresheft XIX: Qualität entwickeln: evaluieren), S.24-27, 2001
  • Winter, Felix: Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen, Baltmannsweiler 2004
  • www.rpi-loccum.de/wettbewerbe (Hier finden sich Informationen zum landesweiten Schülerwettbewerb in Niedersachsen, bei dem Projektlernen und Portfolioarbeit als Prozessportfolio konzeptionell kombiniert sind.)

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2010

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