Kompetenzorientierung und Lebenswelt
Ab dem Schuljahr 2009/10 treten nun auch die neuen Kerncurricula Evangelische Religion für die Klassenstufen 5 bis10 in Kraft. Sie sind eine Folge der Ergebnisse der internationalen und nationalen Schulleistungsstudien der letzten Jahre. Was verändert sich dadurch für das Fach Evangelische Religion? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass mit einer stärkeren Kompetenzfokussierung im Religionsunterricht der Lebensweltbezug des Unterrichts gestärkt wird. Für den Lernenden geht es im Unterricht nicht um die Anhäufung deklarativen, „trägen“ Wissens, sondern um den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie stehen dem einzelnen als transferierbare Ressource zur Verfügung, um in unterschiedlichen Situationen flexibel auf Herausforderungen reagieren zu können. Damit ist der Unterricht vor die Frage gestellt, inwieweit er aktuelle und zukünftige Bedeutsamkeiten im Blick hat. Ziel ist, dass die im Religionsunterricht erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu beitragen, in unterschiedlichen Situationen flexibel auf Herausforderungen reagieren zu können. Auf der Unterrichtsebene sind diese zu identifizieren und im Religionsunterricht didaktisch zu inszenieren. Unter der oben beschriebenen Prämisse steht dabei nicht das Thema, sondern die Frage im Zentrum.
In einem am Erwerb von Kompetenzen orientierten Religionsunterricht geht es also darum, die Lernenden zu befähigen, die in dieser Welt vorhandenen religiösen Herausforderungen wahrzunehmen, ihre Bedeutung für das eigene Leben zu identifizieren, sie ethisch zu qualifizieren und die fachspezifisch erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu nutzen, um der Herausforderung konstruktiv zu begegnen.
Dazu muss Wirklichkeit im Religionsunterricht in ihrer kulturellen Bedeutsamkeit rekonstruiert und zu einem vorstrukturierten Handlungsfeld für die Schülerinnen und Schüler werden. Sich in diesem Feld als handlungsfähig zu erweisen, bedeutet, Wirklichkeit mit den eigenen Möglichkeiten zu erschließen, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern. Um sich diesem Ziel zu nähern, muss Wirklichkeit in Form bestimmter beschriebener Herausforderungen in den Unterricht geholt werden.
Aufgaben geben zu lernen
In diesem Zusammenhang kommt Aufgaben eine besondere Bedeutung zu. Aufgaben sind seit jeher selbstverständlicher Bestandteil des Unterrichts. Lehrer stellen sie und Schülerinnen und Schüler bearbeiten sie. Allerdings wird im Licht der aktuellen Diskussion das Stellen von Aufgaben zentral für das Gelingen des Unterrichts und für das Lernen der Schülerinnen und Schüler. Aber was sind in einem kompetenzorientierten Religionsunterricht gute Aufgaben? Wie sind sie zu stellen?
Um diesen Fragen nachzugehen, soll zunächst ein kurzer Blick auf das, was eine Aufgabe ausmacht, gelegt werden. Jeder Aufgabe liegt eine bestimmte Herausforderung zugrunde. Ein Mensch entwickelt eine Vorstellung von dem, was sein soll und stellt fest, dass zwischen dieser Vorstellung und dem Ist-Zustand eine Lücke klafft. Diese Lücke definiert die Aufgabe und setzt den Menschen in Beziehung zur ihn umgebenden Welt. Allein Aufgaben, die eine Beziehung zur Welt haben, werden als Aufgaben wahr- und angenommen. Das bedeutet für den Unterricht, dass Aufgaben einen Bezug zu den Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler haben müssen.
Um eine Aufgabe zu lösen, mobilisieren Menschen Erfahrungen, Wissen und Können. Für den Unterricht bedeutet das, dass Aufgaben an den Kompetenzen der Kinder zu orientieren sind. D.h. die im Unterricht ins Zentrum gestellten Lücken müssen eine Eingrenzung erfahren, sie müssen zwischen „zu wenig“ und „zu viel“ liegen. Im Angesicht einer Aufgabe müssen Lernende zu dem Schluss kommen, dass sie über genügend Potential verfügen, um die Aufgabe allein oder gemeinsam mit anderen zu lösen. Kurz: Eine im Unterricht gestellte Aufgabe wird zur positiven Herausforderung, wenn die Schülerinnen und Schüler sie als für sie relevant und lösbar erachten. Gelingt dieses, kann Lernen als attraktive Tätigkeit erlebbar werden.
So verstandene Aufgaben haben nicht mehr allein eine bloße Steuerungsfunktion (die Lernenden tun, was die Lehrenden von ihnen möchten) im Blick. Sie zielen vielmehr auf Entwicklungsprozesse der Schülerinnen und Schüler sowie den Erwerb von weiteren Kompetenzen. Gute Aufgaben „initiieren, strukturieren bzw. legitimieren des Handeln der Schüler/-innen und Lehrkräfte auf Ziele, Inhalte und Arbeitsweisen hin und definieren Erwartungen sowie (normative) Ansprüche an Ergebnisse von Arbeit und Lernprozessen. Gleichzeitig repräsentieren gute Aufgaben auch Inhalte, Ziele und Arbeitsweisen des Faches.“1 Nach einem solchen Verständnis sind die Schülerinnen und Schüler nicht mehr nur in der Rolle der Adressaten, sondern erhalten die Rolle von Mitwirkenden. Gute Aufgaben machen diese veränderte Rolle deutlich und sorgen dafür, dass sie Verantwortung sowohl für den Inhalt als auch für den Prozess der Bearbeitung übernehmen. In konstruktivistischen Ansätzen des Lernens wird davon ausgegangen, dass Lernen kein ausschließlich individueller Prozess ist. Gelernt wird im sozialen Austausch und in einer erfolgreichen Anwendung erworbenen Wissens innerhalb eines sozialen Settings. Konsequenterweise muss ein gemeinsames Arbeiten von Lernenden und Experten Bestandteil didaktischer Vorüberlegungen einer kompetenzorientierten Unterrichtspraxis sein. Gelernt wird damit immer auch auf sozialer, methodischer und personaler Ebene.2
Geht man von einem solchen Verständnis aus, so wird das Formulieren von entsprechenden Lernaufgaben zukünftig zu einer besonderen Herausforderung für die Unterrichtenden. Ziel entsprechender Aufgaben ist es, „solche (praktischen und geistigen) Lernhandlungen bzw. Lerntätigkeiten auszulösen, die zur Ausbildung erwünschter Kenntnisse, Fähigkeiten, Interessen und Motive führen. Die Anforderungen sollen so sein, dass sie an den vorhandenen Kompetenzen anknüpfen, aber auch darüber hinausführen. Die Aufgabenanforderungen werden von dem anzueignenden Wissen bzw. den angezielten Kompetenzen her bestimmt und müssen – das ist die produktive didaktische Leistung – geeignete Lern- und Lösungshandlungen hervorrufen.“3
Die Bearbeitung entsprechender Aufgaben ist einzuüben. Dabei ist die Komplexität von Jahrgang zu Jahrgang zu steigern. Wesentlich ist, dass die Schülerinnen und Schüler dabei ihren individuellen Lernweg dokumentieren. Gabriele Obst plädiert in diesem Zusammenhang für eine stärkere methodische Nutzung der oft von den Schülerinnen und Schüler zu führenden Fachmappen in der Unterstufe und des Portfolios in der Mittel- und Oberstufe.4 Ziel ist es, den Kompetenzaufbau möglichst langfristig zu verankern und den Jugendlichen auf einer Metaebene die Reflexion des eigenen Lernweges zu ermöglichen.
Aufgabenbeispiele
Im Folgenden werden vier Lernaufgaben vorgestellt, die sich auf Kerninhalte des christlichen Glaubens und ihre Verwendung in unserer gegenwärtigen Kultur beziehen. Sie stehen als Beispiel und sollen Möglichkeiten aufzeigen, Aufgaben im Blick auf Kompetenzen zu gestalten. Mögliche Lernwege werden kurz beschrieben und sind in der Praxis zu strukturieren und so zu gestalten, dass die Lernenden in kritischen Phasen auf Unterstützung und Beratung zurückgreifen können und der Zugang zu Expertenwissen (Personen und Medien) gesichert ist.5 Die Bearbeitung der Lernaufgaben durch die Schüler/-innen, die Lösungswege und die Resultate bedürfen einer anschließenden Diskussion in der Klasse, bei der die Lehrkraft ggf. ergänzende und vertiefende Informationen gibt und der Lernzuwachs reflektiert wird.6
Die Aufgabenbeispiele beziehen sich auf eine Unterrichtseinheit zum Thema „Sterben, Tod und Auferstehung“ in der Klassenstufe 10. Die Lernaufgaben stehen am Ende der Einheit und dienen einem vertiefenden Lernen. Sie sind aber auch an anderer Stelle (je nach didaktischer Vorentscheidung) in einer Unterrichtseinheit denkbar. Die vorgestellten Beispiele gliedern sich in die Punkte „Situation“, „Aufgabe“ und „mögliche Lernwege“.
Zur Bearbeitung der Aufgaben stehen nachstehende Fähigkeiten und Fertigkeiten, die als prozessbezogene Kompetenzen in den neuen Kerncurriculua für das Fach Evangelische Religion an der Haupt- und an der Realschule benannt werden, im Mittelpunkt:
- Wahrnehmungs- und Darstellungskompetenz – religiöse Phänomene wahrnehmen und beschreiben: Religiöse Spuren und Traditionen in der Lebenswelt aufzeigen
- Deutungskompetenz – religiöse Sprache und Zeugnisse verstehen und deuten: Religiöse Motive in Texten sowie in ästhetisch-künstlerischen und medialen Ausdrucksformen erläutern
- Urteilskompetenz – in religiösen und ethischen Fragen begründet urteilen und Position beziehen: Aus konfessioneller Perspektive einen eigenen Standpunkt zu religiösen und ethischen Fragen einnehmen und argumentativ vertreten
Zusätzlich zur Bearbeitung von Aufgabenbeispiel 3
- Dialogkompetenz – religiöse und ethische Fragen kommunizieren und sich verständigen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen benennen und im Blick auf mögliche Dialogpartner kommunizieren.
Aufgabenbeispiel 2: Refuge – vom Tod einer Band
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Aufgabenbeispiel 3: Opa Hermi äußert seine Vorstellungen vom Tod und stirbt
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Anmerkungen
- Eikenbusch, Gerhard.: Aufgaben, die Sinn machen – Wege zu einer überlegten Aufgabenpraxis im Unterricht. In: Pädagogik 3/2008. S. 7.
- Im Blick auf die Beurteilung von Leistungen ist eine Unterscheidung von Ergebnis und Prozess angezeigt.
- Winter, Felix: Mit Aufgaben das Lernen sondieren. In: Thonhauser, Josef (Hrsg.): Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen. Münster 2008. S. 117.
- Vgl.: Obst, Gabriele, Kompetenzorientiertes Lernen und Lehren im Religionsunterricht. Göttingen 2008. S. 204.
- Vgl. Flechsig, Karl-Heinz: Komplexe Lernaufgaben in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. In: Thonhauser, a.a.O., S. 253.
- Vgl. Obst, Gabriele, a.a.O., S. 187.