Der Turmbau zu Babel - Unterrichtsideen zu den Themen “Befreiung” und “Verstehen” im Religionsunterricht der Sekundarstufe I

von Dietmar Peter

 

Anknüpfungspunkte

Verglichen mit anderen Themen der Urgeschichte ist die Turmbaugeschichte eher selten Thema im Religionsunterricht der Sekundarstufe I. Dabei bietet sie vielfältige Anknüpfungspunkte an die Situationen und Fragen der Schülerinnen und Schüler. Verstehe ich die anderen, die mir in der Klasse, in der Familie, im Freundeskreis oder in der Erwachsenenwelt begegnen? Verstehen die anderen mich? Gibt es Türme, die ich/wir in den Himmel baue/n? Wie sehen sie aus? Wo liegen die Grenzen menschlichen Handelns? Auch die Themen Machtmissbrauch, Ohnmacht und Befreiung lassen sich anhand des Textes im Unterricht erschließen. Hierauf soll im Folgenden kurz eingegangen werden.
 

Der Turmbau

Die Geschichte vom Turmbau zu Babel steht am Ende der so genannten mythischen Erzählungen des Buches Genesis. Die Bennennung des Ortes als “Babel” geht auf ein hebräisches Wortspiel zurück. Es beinhaltet einen Hinweis auf die Stadt Babylon und bedeutet soviel wie “Geplapper, Gebrabbel”. Wurde die Geschichte zunächst als ausschließlich als mythische Erzählung verstanden, so ist die Existenz des Turms seit 1913 nachgewiesen. Bei Ausgrabungen fand der deutsche Architekt und Archäologe Robert Johann Koldewey die Fundamente einer Tempelanlage in Babylon, die als Zikkurat von Etemenanki (sumerisch: Haus des Himmelsfundaments auf der Erde) urkundlich erwähnt wurden. Abgeleitet aus dem akkadischen Wort zaqarum (aufrichten, hochheben) könnte das Wort Zikkurat auch mit Hochhaus übersetzt werden. In den meisten biblischen Kommentaren wird die Auffassung vertreten, die Turmbauerzählung sei eine Ätiologie, eine Erzählung, die eine Erklärung für das Phänomen der Sprachenvielfalt geben wolle. Neuere Auslegungen beziehen den historischen, sozialen und religiösen Kontext stärker in die exegetischen Überlegungen ein. Sie gehen davon aus, dass es sich bei dem Text nicht um einen urgeschichtlichen Mythos handelt, sondern dass er eine konkrete historische Situation zur Grundlage hatte.

Die Erfahrung vieler Deportierter aus den Reichen Israel und Juda mit den mächtigen Zentren der mesopotamischen Großreiche bestand darin, dass diese alle Macht auf sich zogen und die Kultur und Sprache monopolisierten. Der Text greift diese Situation auf und beschreibt, dass Jahwe diese Konzentration von Macht und Herrschaft nicht zulässt. Aus dieser Perspektive gewinnt der Text eine neue, befreiende und lebensdienliche Funktion. “Er erhält ein Potenzial, das sich in neuen geschichtlichen Situationen entfalten kann. (…) Er wird weitergeschrieben im Gespräch mit den Bildern und Erzählungen, mit den Deutungsmodellen und Erfahrungen der jeweiligen Leserinnen und Leser. Und weil wir immer noch dabei sind, neue Babeltürme zu errichten, bewährt sich die Geschichte vom Turmbau auch heute, wenn wir mit ihr im Gespräch bleiben.”
 

Der Turmbau im Unterricht

Als thematischer Einstieg im Unterricht eignet sich Pieter Bruegels 1563 zum dritten Mal gemaltes Bild vom Turm zu Babel (M 1). Es hängt im Kunsthistorischen Museum in Wien und ist sicher als eines der berühmtesten Babel-Bilder. Seine Komposition geht auf eine Romreise Bruegels im Jahr 1553 zurück. Dort sah er das Kolosseum, das er für das Bild siebenmal aufeinander setzte. Der Turm steht in der Kulturlandschaft Flanderns (Antwerpen).

Man sieht einen Fluss, die Küste, eine Stadt mit ihren Häusern und Kirchen. Die Häuser und die Straßen dienen in erster Linie den Menschen. Im Gegensatz dazu scheint der Turm völlig nutzlos zu sein. Massiv überragt er die Landschaft, die Menschen verschwinden fast gänzlich im Bauwerk. Es scheint, als sei der Einzelne bedeutungslos und allein wichtig in seiner Funktion.

Was hier über die Menschen gesagt wird, trifft allerdings nicht auf die von Bruegel eingesetzte Figur des Herrschers Nimrod zu. Von Josephus (Ende 1. Jh.) wird er als Bauherr des Babel-Turmes beschrieben und als Tyrann charakterisiert. Er missbraucht seine Macht und verstößt gegen die Herrschertugenden. Er steht links im Vordergrund und symbolisiert Ansehen und Autorität. Seine Steinmetze und Arbeiter verehren ihn und fallen vor ihm nieder. Jene, die vom Herrscher geknechtet und ausgebeutet werden, werfen sich vor ihm in den Staub. So weist das Bild auch auf Machtmissbrauch und Ohnmacht hin. Nicht der einzelne Mensch, sondern allein seine Funktion zur Vergrößerung von Ansehen und Macht eines Anderen steht im Mittelpunkt.

Zur vertiefenden Auseinandersetzung dieses Aspekts bietet sich die Arbeit mit dem Bildausschnitt M 2 an. Methodisch wird dabei auf die Möglichkeiten der Erstellung eines Standbildes und des perspektivischen Schreibens zurückgegriffen. Zu Beginn wird in die Standbildmethode eingeführt. Ein Standbild bringt ein Problem, ein Thema oder eine soziale Situation zur Darstellung, indem es von Personen einer Lerngruppe gestellt wird. Im Blick auf den Bildausschnitt geht es darum, die Haltungen der Personen und ihren Abstand zueinander möglichst genau nachzustellen. Dazu werden 21 Spielerinnen und Spieler benötigt. Die restlichen Schülerinnen und Schüler stellen die Gruppe der Regisseure. Bevor mit dem Bau des Standbildes begonnen wird, teilt sich die Gruppe der Spieler in die Gruppe des Herrschers und seines Gefolges und in die Gruppe der Arbeiter auf. Nun versuchen die Regisseure die Spielerinnen und Spieler möglichst originalgetreu zu platzieren und zu formen. Dabei ist es wichtig, die Position und die Perspektive aller am Bild Beteiligten möglicht genau nachzuvollziehen. Steht das Bild, kann die/der Unterrichtende einzelne Darsteller kurz nach ihren Gefühlen und Gedanken befragen. Abschließend wird das Standbild mit einer (Digital-)Kamera festgehalten.

In der nächsten Stunde erhalten alle Schülerinnen und Schüler einen Ausdruck vom Foto ihres Standbildes. Die am Bild beteiligten Personen werden aufgefordert, sich noch einmal intensiv in die jeweilige Rolle hineinzudenken und aus der im Bild eingenommenen Perspektive eine kleine Ich-Erzählung zu schreiben. Hier werden an das Abstraktionsvermögen der Schülerinnen und Schüler hohe Anforderungen gestellt. Sie dürfen in ihren Texten nur das darlegen, woran sie selbst beteiligt waren und was in ihrem Blickfeld lag. Da dieses verengt war, kann jeder nur bestimmte Gedanken und Gefühle zur Situation wiedergeben. Durch die Identifikation mit den Personen des Bildes werden die Schülerinnen und Schüler auch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen.

Die Regisseurinnen und Regisseure arbeiten parallel in einer oder zwei Kleingruppen. Sie erhalten eine vergrößerte Kopie des Fotos und die Aufgabe, sich in die Beteiligten hinzuversetzen und sich über die vermuteten Gedanken und Gefühle auszutauschen. Abschließend sollten die wichtigsten Gedanken und Gefühle in Form von Sprech- und Denkblasen (M 3) auf das Foto geklebt werden.

Bei der sich anschließenden Präsentation der Ergebnisse sollte ein besonderes Augenmerk auf die unterschiedlichen Gedanken und Gefühle im Blick auf Macht, Ohnmacht und Unterwerfung gelegt werden. Eine Systematisierung an der Tafel oder auf einer Folie ist hilfreich. In dieser Phase können auch Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den am Standbild Beteiligten und den Regisseuren herausgearbeitet werden. Ist es den Regisseuren gelungen, sich in die Spielerinnen und Spieler hineinzuversetzen, sie zu verstehen? Ein entsprechender Schritt bietet sich an, da es in der biblischen Geschichte auch um das Nichtverstehen geht. Für den Transfer eignen sich Fragen wie z.B. “Gibt es Situationen, in denen Menschen – wie der Herrscher Nimrod – ihre Macht auf Kosten anderer missbrauchen?” oder “In welchen Situationen fühlen sich Menschen von den “Erbauern der Türme” (in ihrer Identität) bedroht?”

Im Anschluss wird der Text der biblischen Geschichte (M 4) in den Unterricht eingebracht und mit dem Bild verglichen. Hier stellt sich zunächst die Frage nach den Unterschieden zwischen Bild und Text. Eine Auseinandersetzung mit dem neuen Aspekt des Nichtverstehens schließt sich an.

Um die Situation experimentell nachzustellen, wird den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe gestellt, in vier bis fünf Kleingruppen aus drei DIN-A-4 Seiten einen möglichst hohen und stabilen Turm zu bauen. Als Hilfsmittel dürfen sie Kleber und Schere benutzen. Während der Aufgabe ist es verboten, andere Hilfsmittel zu benutzen, und es herrscht strenges Redeverbot. Der zeitliche Rahmen wird auf zehn bis fünfzehn Minuten festgelegt. Der Reiz der Aufgabe kann erhöht werden, wenn angekündigt wird, dass jene Gruppe gewinnt, die den stabilsten und höchsten Turm gebaut hat. Nach Abschluss der Bauphase werden die Türme verglichen, und es wird sich gemeinsam über die Gewinnergruppe verständigt. Im Zentrum des sich anschließenden Gesprächs stehen die Erfahrungen mit der “Sprachlosigkeit” in der Gruppe. Was wurde verhindert? Was wäre anders gewesen, wenn die Gruppe sich hätte verständigen dürfen? Wo erleben die Schülerinnen und Schüler im Alltag Nichtverstehen und Sprachlosigkeit?

In einem nächsten Schritt wird ein weiterer Blick auf die Geschichte gelenkt. Letztlich führt die Zielsetzung des Vorhabens (“… damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder”, Gen 11,4) genau zum Gegenteil. Nicht der Bau des Turms löst Gottes Handeln aus, sondern der Zweck des Baus, “sich einen Namen zu machen”. Menschen, die eine Sprache sprechen, wollen einen Turm bauen, damit sie sich nicht verlieren in der Weite der Welt. Die Konzentration aller Kräfte auf dieses eine Ziel führt in die totale Vereinzelung. Die Gigantomanie wird ausgehebelt. Es gibt am Ende keine Gruppe mehr, die sich einen Namen machen könnte, sondern die Menschen werden in die Vereinzelung getrieben. Verschiedenheit (symbolisiert durch die Sprache) wird auf die Spitze getrieben. Die Menschen finden letztlich keine Anknüpfungspunkte mehr zur Verständigung mit dem Gegenüber. Der Andere ist so anders, dass ich mich nicht mehr in ihm wiedererkenne. So könnte der Babelturm auch als Metapher für die Moderne stehen. Ein Fortschrittsglaube, der sich an der Maxime eines “immer schneller” und “immer größer” orientiert, lässt häufig nur wenig Zeit, um die Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen zu bedenken und die Sinnfrage ausreichend zu beantworten.

Für den Unterricht könnten nachstehende Fragen bedeutsam sein: Welche Türme bauen wir, damit wir uns einen Namen machen? Ist es notwendig, nach den Sternen zu greifen, um gegenüber anderen zu bestehen? Gibt es so etwas wie eine Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpfen? Sollte sie das Handeln bestimmen? Nach welchen Kriterien muss das Streben, Handeln und Erfinden der Menschen beurteilt werden?

Fragen wie diese lassen sich mit dem Gedicht “Turmbau nicht nur in Babel” von Kurt Marti vertiefen (M 5). Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Aufgabe, in Kleingruppen jeweils einen Abschnitt (der ersten fünf Abschnitte) des Gedichts zu diskutieren und im Anschluss an Hand von Beispielen zu konkretisieren. Die Ergebnisse werden in der Klasse vorgestellt, ergänzt und diskutiert und liefern wesentliche Anhaltspunkte für eine sich anschließende Kritik. Dabei stellt sich die Frage, an welcher Stelle und mit welcher Zielsetzung Menschen Grenzen überschreiten und welche Folgen das für andere Menschen hat. In einem sich anschließenden Schritt wird aus den von den Schülerinnen und Schülern erarbeiteten Beispielen eine Charta für ein Miteinander entwickelt. Die fünf Abschnitte des Gedichts von Kurt Marti könnten als Grundlage für eine mögliche Gliederung herangezogen werden. Auf dieser Folie kann das im sechsten Vers beschriebene “Herabfahren Gottes” nicht mehr als Strafaktion interpretiert werden. Vielmehr geht von der Geschichte eine lebensdienliche und befreiende Botschaft aus, die sich als Potenzial auch in heutigen Situationen entfalten kann.

Im Mittelpunkt einer sich anschließenden Einheit könnte die Pfingsterzählung stehen. Die Kommunikationsgemeinschaft, die in Babylon zerstört wurde, wird in Jerusalem wieder errichtet. Die Vielfalt der Sprachen und Kulturen hat Bestand, allerdings hört und versteht jeder die Apostel in seiner Sprache.
 

 

M 1

Pieter Bruegel, Der Turm zu Babylon, 1563

 

 

M 2

Pieter Bruegel, Der Turm zu Babylon, 1563

 

 

M 3

 

M 4

Der Turmbau zu Babel
1. Mose 11, 1-9

1Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! - und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. 5Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.

 

M 5

turmbau nicht nur in babel
Kurt Marti

und die männer sprachen:
auf lasst uns eine stadt bauen
und einen phallischen turm
der aufragt bis zum himmel!
ein triumphierendes zeichen soll er werden
unserer herrenmacht über die welt!

und die christen sprachen:
auf lasst eine weltkirche uns errichten
die urbi et orbi bezeugt
dass wir es sind
die die wahrheit und das letzte wort haben
auf diesem planeten

und die führer der konzerne und völker sprachen:
auf lasst einen wirtschaftsraum uns planen
von einem ende des himmels zum andern!
so werden wir einen namen uns machen
und niemand mehr wird der macht
des globalen markts widerstehen!
und die forscher sprachen:
auf lasst fabriken und laboratorien uns bauen
wo der fortschritt allein als gesetz gilt
wo keine vorschriften kleinlich behindern!
so werden wir das leben in den griff bekommen
bis in die zell- und atomkerne hinein!

und die normalverbraucher sprachen:
auf lasst den fortschritt
nur unentwegt weiter fortschreiten
damit er dem erdenball noch weiter erschließe
und dessen enormen ressourcen noch besser
für uns verfügbar mache!

da fuhr jahwe hernieder um zu beschauen
was die menschen da planten da trieben
und er verwirrte ihre gemeinsame sprache
und er zerstreute sie alle so dass
sie aufhören mussten weiter zu bauen.

Kurt Marti: gott gerneklein. gedichte, Stuttgart 1995, 28f.

 

M 6


Text


Konkretionen


und die männer sprachen:
auf lasst uns eine stadt bauen
und einen phallischen turm
der aufragt bis zum himmel!
ein triumphierendes zeichen soll er werden
unserer herrenmacht über die welt!

 


Text


Konkretionen


und die christen sprachen:
auf lasst eine weltkirche uns errichten
die urbi et orbi bezeugt
dass wir es sind
die die wahrheit und das letzte wort haben
auf diesem planeten

 


Text


Konkretionen


und die führer der konzerne und völker sprachen:
auf lasst einen wirtschaftsraum uns planen
von einem ende des himmels zum andern!
so werden wir einen namen uns machen
und niemand mehr wird der macht
des globalen markts widerstehen!

 


Text


Konkretionen


und die forscher sprachen:
auf lasst fabriken und laboratorien uns bauen
wo der fortschritt allein als gesetz gilt
wo keine vorschriften kleinlich behindern!
so werden wir das leben in den griff bekommen
bis in die zell- und atomkerne hinein!

 


Text


Konkretionen


und die normalverbraucher sprachen:
auf lasst den fortschritt
nur unentwegt weiter fortschreiten
damit er dem erdenball noch weiter erschließe
und dessen enormen ressourcen noch besser
für uns verfügbar mache!

 

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Bergel, Ulrich: Die befreiende Gabe der Vielfalt, in: Katechetische Blätter 127 (2002). 248 ff.
  2. Niehl, Franz W.: Die Verwirrung der Sprache oder der misslungene Turmbau, in: Katechetische Blätter 127 (2002). 247

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2006

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