Elementarpädagogik und Religion - Ein Streifzug durch die gegenwärtige Diskussion

von Ralf Rogge

 

Worauf können wir uns verlassen?

"Ich verlasse mich nur auf das, was ich sehen kann; ich glaube nur das, was sich auch naturwissenschaftlich beweisen lässt." Das hört man oft. Es ist so etwas wie unser modernes Glaubensbekenntnis ... Ich möchte dem die Betrachtungen von Nele gegenüberstellen, wie sie Rainer Oberthür in "Neles Buch der großen Fragen" zusammengetragen hat:

"Gestern bin ich von einer Zecke gebissen worden. Ich fand das nicht weiter tragisch, bis ich von Mama hörte, dass man davon eine Hirnhautentzündung bekommen kann. Später hat Mama mir erzählt, dass eine Zecke die Welt nicht sehen kann wie wir. Sie kann nur dunkel und hell unterscheiden und klettert im Busch oder Baum immer höher zum Licht. Oben wartet sie regungslos, bis sie Buttersäure riecht – ein Zeichen, dass unter ihr ein Säugetier, vielleicht ein Mensch ist ... Die Welt einer Zecke ist sehr einfach: hell oder dunkel – voll Buttersäuregeruch oder nicht. Aber ihre Welt ist wahr. Auch unsere Welt ist wahr für uns. Aber ist sie wirklich so, wie wir meinen?

Als kleines Kind habe ich mich gefragt, wie die große Welt in mein kleines Auge hinein passt. Heute weiß ich, dass ich mir nach dem, was ich sehe, die Welt vorstelle. Aber wie richtig sehen meine Augen die Welt wirklich?

Tiere sehen die Welt anders. Ein Frosch sieht zum Beispiel nur das, was sich bewegt. Für alles andere ist er blind. Er sieht den flatternden Schmetterling, aber nicht die Blumen, auf die sich der Schmetterling setzt. Vielleicht lässt sich die Welt noch richtiger, komplizierter, genauer erkennen, als wir das mit unseren Augen und Ohren und Händen können. Und vielleicht ist da jemand, der mit einem freundlichen Lächeln auf unsere bescheidenen Möglichkeiten schaut, so wie wir auf die Zecke." 1 

So weit Neles Betrachtungen zu einer Zecke.

 

Die Welt einer Zecke und unsere Welt

Nele formuliert hier eine erkenntnistheoretische Grundeinsicht: Wir wissen nicht, wie die Welt wirklich ist. Jede und jeder von uns konstruiert die Welt, die Wirklichkeit so, wie er oder sie sie wahrnimmt. Welt entsteht in unserer Wahrnehmung. Und diese Wahrnehmung ist relativ. Der Mensch ist nicht absolut. Die Wirklichkeit "an sich" gibt es nicht, immer nur Wirklichkeit, die ein erkennendes Subjekt unter einer bestimmten Fragestellung beschreibt. Das Subjekt gestaltet also durch seine Perspektive, sein Erkenntnisinteresse, seine Beschreibungssprache und die Anordnung der Versuchsbedingungen die Wirklichkeit und Wirklichkeit entsteht im Wechselspiel von Subjekt und Objekt.

Aber – so lässt sich sofort fragen – wenn alles relativ ist, gäbe es ja nichts mehr, auf das ich mich verlassen könnte. Und ich verlasse mich doch darauf, dass wir uns nicht im nächsten Moment in einzelne Atome auflösen, dass die Stühle nicht gleich zusammenbrechen ... Was ist mit den Naturgesetzen? Was ist mit den Naturwissenschaften?

Dem lässt sich entgegnen: Auch unsere Naturgesetze sind – wie es das Wort schon beinhaltet – menschliche Setzungen, die auf milliardenfachen Beobachtungen beruhen und sich bisher immer bestätigt haben. Und sie gelten so lange, bis sie sich einmal nicht mehr bestätigen, oder gelten nur noch für einen bestimmten Bereich: Das Gesetz der Schwerkraft gilt nicht im Weltraum etc.

Sie ermöglichen es uns, Geschehnisse mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, aber eben nicht mit absoluter Gewissheit. Wir müssen uns darauf verlassen, aber uns muss deutlich sein, dass naturwissenschaftliche Beschreibungen erstens menschliche Setzungen sind und sie zweitens nur einen möglichen Zugang zur Wirklichkeit darstellen.

Ich kann eben eine Blume biologisch als Stoffwechselsystem beschreiben, ich kann sie aber auch malen oder ein Gedicht über sie schreiben, sie als Futtermittel für Tiere betrachten oder sie zum Anlass nehmen, über den Sinn des menschlichen Lebens oder die Frage nach Gott nachzudenken. Keine Zugangsweise kann die Blume ganz erfassen, aber jede Zugangsweise enthält ihre eigene Wahrheit. Und (um noch einmal Nele zu zitieren): "vielleicht ist da jemand, der mit einem freundlichen Lächeln auf unsere bescheidenen Möglichkeiten schaut, so wie wir auf die Zecke." (s. o.)

 

Das Recht auf Religion

Wenn Glauben und Wissen nur unterschiedliche Zugangsweisen zur Wirklichkeit sind, worin liegt dann der Unterschied? Oder anders ausgedrückt, worin besteht der besondere Beitrag des Glaubens zur Erkenntnis der Wirklichkeit?

Kurz gesagt: Der Glaube weiß darum, dass keine Erkenntnis vollkommen ist, dass keine Betrachtungsweise der Wirklichkeit absolut ist. Der Glaube weiß um das Unverfügbare, das aller menschlichen Erkenntnis voraus liegt. Insofern er darum weiß, ist der Glaube auch nur eine besondere Form des Wissens. Indem der Glaube aber sich aus diesem Unverfügbaren herleitet, sein Herz daran hängt – wie es Martin Luther formuliert hat –, sich daran (zurück-) bindet (nach lat.: religo – ich binde mich zurück) und darauf vertraut, dass dieses Unverfügbare eine liebevolle Macht ist, eben – wie Nele sagt – ein lächelndes Gesicht hat, ist der Glaube über das besondere Wissen hinaus eine Haltung des Vertrauens, eine vertrauensvolle Handlung. Dieses Vertrauen gründet in der Überzeugung, dass dieses Unverfügbare eine Beziehung zu mir eingegangen ist, die nach christlichem Verständnis getragen ist von der Liebe.

So gesehen trägt jeder Glaube, jede Religion (als Haltung des Vertrauens zum Unverfügbaren) ein Kindheitswissen in sich:

Geborgen in der elterlichen Liebe und anfangs noch vollkommen abhängig von ihr erwächst in mir ein Vertrauen, ein Grundvertrauen, das mir überhaupt erst die Entfaltung meiner Persönlichkeit erlaubt. Und der Glaube, die Religion behauptet nichts anderes, als dass dies nicht nur für die erste Kindheitsphase gilt, sondern für ein ganzes Menschenleben. Jörg Zink hat es so ausgedrückt:

"Überall, wo es im Leben wichtig wird, hören die Beweise auf. Wenn euch jemand liebt, müsst ihr es ihm glauben. Es gibt keine Liebesbeweise ... Aber glauben heißt nicht, seinen Verstand an der Garderobe abzugeben. Es heißt vertrauen, auch wo man nichts sieht (...).

Wer sich offen hält dafür, dass es eine Macht gibt, die um ihn her und in ihm selbst ist und die wir, wenn wir wollen, Gott nennen können, der weiß besser, wo er zu Hause ist. Er braucht nicht zu sein, was er nicht ist. Er braucht nichts darzustellen, was er nicht mit seinem ganzen Wesen abdeckt. Er braucht nichts zu leisten, was er nicht kann ... und er darf wissen, dass nichts wichtiger ist, als dass er liebt und dass keine Tat und kein Zeichen der Liebe jemals verloren sind." 2

Festhalten möchte ich:

  • Die Religion schützt uns davor, etwas oder jemanden absolut zu sehen und
  • Die Religion ermöglicht es uns, als freie und liebevolle Menschen zu leben.

Deshalb gibt es ein Recht auf Religion. Deshalb haben Kinder ein Recht auf Religion.

 

Religiöse Erziehung und Bildung auf dem Weg in die Wissensgesellschaft

Bevor ich auf die Frage der Erziehung, speziell der religiösen Erziehung eingehe, möchte ich einen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung werfen. Wir befinden uns schon seit einigen Jahren in einer Umbruchssituation. Die alten Industriestandorte mit riesigen Fabrikanlagen verschwinden und weichen gläsernen Produktionsstätten mit weitgehend computergesteuerten Fertigungsprogrammen. Standen in den 70er Jahren in der Rohbauabteilung des VW-Werkes noch Hunderte von Arbeitern mit unförmigen Punktschweißzangen an den Laufbändern, wird diese Arbeit heute von Maschinen erledigt, die von wenigen Mitarbeitern am Computer gesteuert werden. Nicht mehr körperliche Fertigkeiten sind gefragt, sondern technologisches Wissen, das in der informellen Technologie immer kürzere Halbwertzeiten hat. Heute geht man etwa von einer Halbwertzeit von einem Jahr in der IT-Branche aus. Produktionsstandorte werden nach Marktlage verlagert, oft ins Ausland. Flexibilität und Mobilität der Arbeitnehmer sind gefragt und vor allem die Bereitschaft, ständig lebenslang neu hinzu zu lernen auf dem Weg in die Wissensgesellschaft. Und es stellt sich die Frage, wie wir Kinder am besten auf diese Gesellschaft vorbereiten können.

 

Die Lage der Kinder

Da wir schon mitten auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind, lassen sich auch seit mehreren Jahren Konsequenzen beobachten, denen Kinder heute im Unterschied zu anderen Kindergenerationen ausgesetzt sind. In der jüngsten EKD-Denkschrift "Maße des Menschlichen". Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft heißt es: "Es zählt zu den Merkmalen gegenwärtigen Kinderlebens, dass Kinder vorwiegend in kleinen Haushalten aufwachsen, häufig auch ohne Geschwister. Ein Teil lebt in Ein-Eltern-Familien. Vielfältige Lebensformen wie nicht eheliche Gemeinschaften, Zweitfamilien, Wechsel von einer zur anderen Familienform gehören heute zur sozialen Wirklichkeit, die Kinder erleben und in der sie sich arrangieren müssen. Kinder haben zunehmend mit variablen und instabilen Familienbeziehungen zurecht zu kommen."3  Und das bedeutet für Kinder, dass sie schon früh erleben, wie Bindungen in die Brüche gehen, sie mit Abbrüchen von Lebensbeziehungen – bedingt durch Trennung der Eltern oder Wegzug an neue Arbeitsorte –, mit neuen Lebensumwelten zurecht kommen müssen und eine entsprechende Widerstandsfähigkeit (Resilienz) entwickeln.

Weiteres lässt sich hinzufügen: In den Städten ist Deutschland de facto zu einem Einwanderungsland geworden. D. h.: Kinder erleben schon früh unterschiedliche Werte, Religionen und Lebensformen bei gleichzeitig zunehmender Verunsicherung der Erwachsenen in ihrer Umgebung über den eigenen religiösen Hintergrund. Und Unsicherheit führt zu Angst, Angst zu Aggression ...

Bedingt durch die geringe Kinderzahl, aber auch durch die oftmals auf den Autoverkehr abgestellte Wohnumfeldgestaltung kommt es mehr und mehr zu einer "Verinselung" der Kindheit. Kinder haben es immer schwerer, in der Nachbarschaft eigene Kindernetzwerke aufzubauen. Es sind neue und vielfältige Angebote in der Kinderkultur entstanden, an denen aber zusehends nur Kinder teilhaben können, deren Eltern die Zeit, das Auto und das Geld haben, um ihren Kindern den Zugang zu ermöglichen. Aus Familienkindern werden hier Institutionen- und Laufbahnkinder. Aus dem in der Vergangenheit zu stark betonten Schonraum der Kindheit wird jetzt ein Förderraum, der zusehends von Leistung, Anpassung und Prüfung geprägt ist (beispielsweise pränatales Englisch-Sprachförderprogramm).

Folgende Fragen stellen sich:

  • Wie viel Eigenraum brauchen Kinder, wie viel Förderung und Anregung brauchen sie? Wie erhalten wir die Lust am Lernen?
  • Wie finden Kinder Orientierung in interreligiösen Kontexten?
  • Wie werden Kinder resilient gegenüber den Brüchen, Ab- und Umbrüchen in ihren Bindungen?

Der Pisa-Schock und die Wiederentdeckung der frühkindlichen Entwicklung in der Forschung

Seit der Veröffentlichung der Pisa-Studie steht die frühkindliche Entwicklung im Mittelpunkt des Interesses. Neue Ergebnisse aus der neurobiologischen Forschung und der Bildungsforschung belegen auf bisher noch nicht dagewesener empirischer Grundlage, dass die wesentlichen Voraussetzungen für die Ausbildung von kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen in der frühkindlichen Entwicklung gelegt werden.

Kinder sind Turbo-Lerner: Ausgestattet mit ca. 120 Milliarden Neuronen sucht das Neugeborene die Wirklichkeit zu konstruieren. Es versucht, Denk- und Erklärungsmuster zu erstellen. Es versucht und forscht, probiert und gestaltet und mit jedem Lernerfolg werden körpereigene "Glücksdrogen" ausgeschüttet, so dass man fast von einer "Lernsucht" sprechen kann – so Anna-Katharina Braun, Zoologin und Entwicklungsneurobiologin. Sie sagt: "Frühe Sinneseindrücke, Erfahrungen und Lernprozesse werden hirnbiologisch betrachtet dazu benutzt, die Entwicklung und Ausreifung der noch unreifen funktionellen Schaltkreise im Gehirn zu optimieren ... Während dieser kritischen oder ,sensiblen‘ Zeitfenster werden die Denkkonzepte, die ,Grammatik‘ für späteres Lernen, und auch für die mit jedem Lernprozess untrennbar verknüpfte emotionale Erlebniswelt gelegt."4  Entscheidend ist, dass diese Entwicklungszeitfenster zeitlich begrenzt sind und in den ersten drei bis fünf Lebensjahren liegen.

 

Konsequenzen für das Verständnis von Erziehung und Bildung

Aufgescheucht durch eine ganze Flut von neurobiologischen Forschungsergebnissen, die alle die Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung für die Bildung des Menschen betonen, ist man auf Länderebene dazu übergegangen, Bildungspläne, Bildungsempfehlungen oder Orientierungspläne zu erarbeiten, die vor allem auf die Bildung von sozialen, emotionalen und metakognitiven Kompetenzen abstellen. So zum Beispiel auch der im Mai 2004 vorgestellte Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich niedersächsischer Tageseinrichtungen für Kinder, der die Bildungsziele in folgende acht Lernbereiche auffächert und u.a. auch religiöse Fragen mit einbezieht:

  • Emotionale und soziale Kompetenzen
  • Kognitive Fähigkeiten
  • Sprache und Sprechen
  • Mathematisches und naturwissenschaftliches Grundverständnis
  • Bewegung und Gesundheit
  • Ästhetische Bildung
  • Natur und Lebenswelt
  • Ethische und religiöse Fragen; Grunderfahrungen menschlicher Existenz.

Hier sind Ergebnisse aus der Bildungsforschung eingeflossen, die gegen den Ruf nach möglichst früher, auf die Schule vorbereitender, meist kognitiver Ausbildung von bestimmten Fähigkeiten die Selbstbildung des Kindes in den Vordergrund stellen. Wie aber ist das Verhältnis von Selbstbildung und Planvorgaben, das Verhältnis von Bildung und Erziehung zu bestimmen?

"Wenn Bildung die zentrale Aktivität bezeichnet, über die Kinder sich die Welt aneignen – eine innere Welt konstruieren ... dann kann ein Kind nicht gebildet werden, es kann sich nur selbst bilden."5  Für die Erziehung bedeutet das, dass sie keinen direkten Einfluss darauf hat, welche Art von Welt die Kinder konstruieren. Erziehung ist nicht Abarbeiten von Planvorgaben, sondern muss sich darauf beschränken, alle Kräfte des Kindes anzuregen in seiner Bildung, sprich Aneignung von Welt. Für Hans-Joachim Laewen ist Bildung die Selbst-Tätigkeit des Kindes zur Aneignung von Welt, und Erziehung ist die Tätigkeit des Erwachsenen mit dem Ziel, alle Kräfte des Kindes dafür anzuregen.

Wenn Erziehung also nur die Bildungsprozesse der Kinder ermöglichen, unterstützen, herausfordern kann, sie aber nicht bewirken kann, hat das Konsequenzen für die Form der Erziehung:

  • Erziehung gestaltet die Umwelt des Kindes:

Die Erziehenden entscheiden, welche Erfahrungen das Kind u.a. in der frühen Entwicklungsphase mit Dingen und Sachen, mit Natur und Architektur, mit Kunst- und Gebrauchsgegenständen machen kann. Sie entscheiden, welchen Ausschnitt von Welt Kinder sich aneignen.

  • Erziehung gestaltet die Interaktion von Erwachsenem und Kind:

Die Erziehenden entscheiden, welche Themen den Kindern auf welche Weise für ihre Konstruktionen vorgelegt werden, welche Themen Kindern "zugemutet" werden oder welche Themen der Kinder auf welche Weise von den Erziehenden beantwortet werden. Die Form dieser erzieherischen Interaktion ist dabei der Dialog.

Wenn wir gleich über die religiöse Erziehung nachdenken, gelten ebenfalls diese Kriterien.

"Für eine gute Erziehung braucht es ein ganzes Dorf" – Jesus und die Neurobiologie

In Lk 8, 4-8 wird folgendes Gleichnis überliefert:

"Es ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges auf den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen’s auf. Und einiges fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. Und einiges fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten’s. Und einiges fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Als er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre!"

Einige der Samenkörner, die der Bauer, der Sämann ausstreut, fallen auf den Weg, werden ohne weitere Beachtung zertreten, von Vögeln aufgefressen, andere fallen auf felsigen, harten Untergrund, können sich nicht tief genug verwurzeln, nachdem sie aufgekeimt sind, und vertrocknen, andere werden von Disteln und Dorngesträuch erstickt, einiges fällt auf gutes Land und das bringt hundertfach Frucht ...

Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther, der sich mit der Entwicklung des kindlichen Gehirns beschäftigt, vergleicht Kinder mit solchen Samenkörnern und sagt: Dem Kind in der (frühen Entwicklungs-)Phase "geht es nicht viel anders als einem auskeimenden Samenkorn, das zunächst mit einer sich immer stärker verzweigenden Wurzel in das Erdreich vordringt, sich dort fest verankert und die für die Ausbildung von Spross und Blättern erforderlichen Nährstoffe sammelt. Kindern gelingt es nur dann, solche Wurzeln auszubilden, wenn ihnen während ihrer ersten Lebensjahre Gelegenheit gegeben wird, enge, sichere und feste Beziehungen zu möglichst vielen anderen Menschen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten, Vorstellungen und Begabungen zu entwickeln."6 

Tiefreichende, aber wenig verzweigte Wurzeln entstehen dann, wenn der Boden, auf dem sie aufwachsen, nur von einem oder wenigen gleichartigen Menschen gestaltet wird. Sehr flache Wurzeln bilden Kinder aus, wenn sie zwar mit sehr vielen und unterschiedlichen Menschen aufwachsen, die ihnen aber nur wenig Sicherheit und Geborgenheit bieten.

"Um ein Kind richtig zu erziehen", so ein afrikanisches Sprichwort, "braucht man ein ganzes Dorf." Und das meint: Geborgen in der dörflichen Gemeinschaft bekommt das Kind vielfältige, unterschiedlichste Anregungen, wird es vor immer neue Herausforderungen gestellt, so dass im Gehirn verschiedenste Verschaltungen aktiviert werden, es – im Bild gesprochen – tiefgehende wie auch in die Breite gehende Wurzeln entwickeln kann.

 

Was Kinder stärkt: Religion als Grundlage von Widerstandsfähigkeit (Resilienz)

Im Nachdenken darüber, worauf wir uns verlassen können, hatte ich festgehalten, dass uns Religion davor schützt, etwas oder jemanden absolut zu setzen, und die Religion es uns ermöglicht, als freie und liebevolle Menschen zu leben. Ausgangspunkt und Grundlage für die religiöse Entwicklung des Kindes und die Ausbildung einer eigenen Gottesbeziehung ist das Grundvertrauen, das dem Kind in der ersten Lebensphase durch die elterliche Liebe vermittelt wird. In dieser elterlichen Liebe spiegelt sich – theologisch gesprochen – die liebende Zuwendung Gottes zur Welt wider. Sie ist – wie es Erikson u. a. gezeigt haben – Voraussetzung dafür, dass wir uns als autonome Wesen entwickeln können. In der Phase der Loslösung aus der erst noch symbiotischen Elternbeziehung schaffen sich Kinder Übergangsobjekte oder Phantasiebegleiter, denen sie sich anvertrauen und die ihnen helfen, mit ihrer Wut und Enttäuschung umzugehen. Gott ist für Kinder in dieser Phase zunächst wie ein solcher Phantasiebegleiter.

Wie dieser Phantasiebegleiter in der Phantasie des Kindes ausgestaltet wird, wie es ihn konstruiert, hängt von der sozialen und religiösen Umwelt des Kindes ab, von den biblischen Geschichten über Gott, die dem Kind erzählt werden und aus denen es zunächst Elemente für sein Gottesbild auswählt. Je nachdem wie das Kind dann Erwachsene erlebt, ob sie selber ernsthaft eine Gottesbeziehung pflegen und mit dem Kind in einen Dialog darüber eintreten, wird sich dieser Phantasiebegleiter verändern und in der weiteren Entwicklung zu einem tragenden symbolischen Deutungsmuster von Welt entwickeln.

Wenn nun in der Bildungsdebatte fast durchgehend davon ausgegangen wird, dass es in den ersten Lebensjahren nicht auf einen kumulativen Wissenserwerb ankommt, sondern vor allem auf den Erwerb von Schlüsselkompetenzen und da besonders der mentalen Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit angesichts von Brüchen und Risiken in der biografischen Entwicklung, ist für mich der Erwerb dieser Resilienz ohne eine mich tragende Gottesvorstellung kaum denkbar. In der Gottesbeziehung finde ich ein Bindungselement vor, das sich auch in Krisensituationen bewährt. Hierfür bietet die Bibel reichhaltig Erfahrungsberichte und Geschichten an, die die Ausbildung von Resilienz zum Inhalt haben und in dem Vertrauen auf die Begleitung Gottes wurzeln: Ob Arche oder Abraham, Jakob, Josef oder Jona, die Gleichnisse vom verlorenen Schaf oder vom verlorenen Sohn, die Geburtserzählungen Jesu, sein Tod am Kreuz und die Osterentdeckung – alles "Resilienzgeschichten", die zum Kernbestand des christlichen Glaubens gehören. Wenn Kinder mit diesen Geschichten aufwachsen, Erwachsene um sich haben, die sich Zeit nehmen, die Geschichten zu erzählen, Materialien, Bilderbücher anbieten, spirituell anregende Raumsituationen schaffen, Kinder an Stille, Meditation und Gebet teilhaben lassen, passiert weit mehr als der Erwerb einer resilienten Kompetenz. Hier werden Sprachbilder angeboten, Lust am Lesen und Schreiben geweckt, soziale Kompetenzen erworben, Transzendenzerlebnisse kultiviert.

Dass dies nicht nur in der Religionspädagogik so gesehen wird, sondern auch in der Resilienzforschung, zeigt folgendes Zitat von Otto Speck: "Es gehört zu den wichtigsten Forschungsbefunden ..., dass das Erleben von Sinn und Sicherheit Halt und Schutz bietet. Wichtig sei vor allem der Glaube, dass sich die Dinge letztlich zum Guten wenden. – Man ist einigermaßen überrascht, wenn Begriffe wie Glauben und Hoffnung wieder zu Orientierungsbegriffen werden. Die Lücke, die hier sichtbar wird, hat mit einer Vernachlässigung entsprechender Dimensionen der Lebensbewältigung zugunsten allzu einseitiger rationaler Werte zu tun."7 

Zusammenfassend lässt sich vom Standpunkt der Erwachsenen sagen: Religiöse Erziehung vermittelt Kindern auf dem Weg in die Wissensgesellschaft neben der Resilienz eine Vielzahl von Kern- oder Schlüsselkompetenzen.

 

Mit Kindern theologisieren

Aber nicht nur wir Erwachsenen können und sollen m. E. Kindern religiöse Themen zumuten. Kinder ihrerseits muten uns ebenfalls religiöse Themen zu. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Der eine Grund liegt in unserer Kultur und einer zunehmend multireligiös geprägten Gesellschaft: Selbst Kinder, die ohne religiöse Erziehung oder gläubige Eltern groß werden, entdecken Gott im Sandkasten, im Gespräch über Aisches rote Finger, beim Stadtbummel an einer Kirche vorbei, im Fernsehwerbespot mit einem Engel, Christkind oder Weihnachtsmann. All das regt zu Nachfragen an, die allerdings absterben, wenn wir immer wieder signalisieren, dass wir kein Interesse haben, darüber zu reden.

Der andere Grund liegt in unserer menschlichen Natur. Sobald sich das kindliche Zeitverständnis so weit entwickelt hat, dass sie ihrer zeitlich abgegrenzten Existenz bewusst werden, stellen sich Fragen nach dem Woher und Wohin und Wozu des Lebens ein: Was war, bevor ich ein Baby war? Wird Gott nass, wenn es im Himmel regnet? Wie kann Opa im Himmel sein, wenn wir ihn doch in die Erde gelegt haben? Warum sind Räuber böse?

Alles Fragen, die die religiöse Dimension unseres Lebens berühren und sich an den Grenzen unserer Existenz festmachen. Fragen, die sich stellen angesichts eines toten Vogels, eines Geburtstages oder beim Angucken eines Bilderbuches. Fragen, die sich Kindern bei der Konstruktion ihrer Wirklichkeit stellen und über die sie mit uns in einen Dialog eintreten wollen. Fragen aber auch, vor denen wir zurückschrecken, weil wir selber darauf keine Antwort haben oder weil uns in den Fragen schon überwunden geglaubte Gottesvorstellungen begegnen, an deren Stelle noch keine weiterentwickelten getreten sind.

Kinder erobern sich schrittweise ihren Lebensraum, konstruieren Stück für Stück ihr Welt- und Gottesbild. Sie entwickeln dabei ihre eigene, oft magisch geprägte Logik, die uns nur schwer zugänglich ist, aber uns auch selber neue Einsichten schenken kann, weil sie mitunter aus einer Unbefangenheit und einem unmittelbaren Einssein mit der Wirklichkeit heraus entstehen. Kinder haben ihr eigenes Gottesbild, sind darin eigene Theologen. Das hat uns schon Martin Luther sagen wollen, wenn er vom Kinderglauben (fides infantium) spricht, in dem sich uns auch der Heilige Geist mitteilen kann.

Im Dialog mit den Kindern sollten wir diese erste Naivität zulassen, aber nicht fixieren. Sie werden selbst aus dieser ersten Naivität herausgehen, wenn es Zeit ist. Das sollten Erwachsene weder forcieren noch etwa durch Denk- oder Kritikgebote oder autoritäre Gottesbilder blockieren.

Es kommt darauf an, behutsam alternative Angebote zu machen, gleichsam in einem Raum eine Tür zu öffnen, durch die das Kind gehen kann, wenn es möchte. Wollen wir z. B. das räumlich-transzendente Konzept von Gott, wonach man diesen auf einem Berg oder in einem Flugzeug näher sei, mit dem Hinweis auf das Johanneische "Er hat unter uns gewohnt" (Joh 1, 14) korrigieren, könnte es geschehen, dass Kinder auch dies räumlich verstehen und etwa als "ein Stockwerk tiefer" deuten.

Unsere abstrakten oder symbolischen Deutungen erreichen hier kleinere Kinder nicht, da das abstrakte Denken noch nicht vorhanden ist. Das kann für uns entlastend sein wie das Eingeständnis, hier auch keinen Rat zu wissen, aber gemeinsam mit dem Kind nach Antworten zu suchen. Das ist Dialog unter Forschern und Konstrukteuren in Augenhöhe, Ko-Konstruktion und berücksichtigt den Grundsatz aller theologischen Erkenntnistheorie, wonach all unser Erkennen Stückwerk ist (1. Kor. 13,9): In einem religionspädagogischen Institut und im Sandkasten.

 

Zusammenfassung

Kinder haben ein Recht auf religiöse Bildung. Kinder brauchen Religion auf dem Weg in die Wissensgesellschaft. Religiöse Bildung vollzieht sich in Interaktion zwischen Kindern und zwischen Erwachsenen und Kindern. Insofern ist religiöse Bildung ein sozialer Prozess der gemeinsamen Konstruktion von Welt im Hinblick auf deren religiöse Dimension. Als Dimension der Wirklichkeit taucht Religion in allen Erlebensbereichen des Kindes auf. Um diesem Erleben Ausdruck zu verleihen, brauchen Kinder sprachliche Anregungen. Gleichzeitig können wir uns von den Kindern anregen lassen, religiös sprachfähiger zu werden für das, worauf wir uns verlassen können.8

 

Anmerkungen

  1. Rainer Oberthür: Neles Buch der große Fragen. München 2002, S. 44
  2. In: Klaus Möllering (Hg.): Worauf du dich verlassen kannst. Leipzig 1999,S. 53f.
  3. EKD-Denkschrift: Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Gütersloh 2003, S. 29f.
  4. Forum Loccum, 4/2003, S. 7
  5. Hans-Joachim Laewen: Forscher, Künstler, Konstrukteure – Werkstattbuch zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Weinheim 2002, S. 42
  6. Karl Gebauer/Gerald Hüther: Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Düsseldorf 2001, S. 19
  7. Otto Speck: Risiko und Resilienz – Pädagogische Reflexionen, S. 366. Aus: Günther Opp, Michael Fingerle, Andreas Freytag (Hg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München 1999

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2004

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