Zum gesellschaftlichen Kontext des Themas "Judentum"
Der gesellschaftlichen Kontext des Themas "Judentum" ist in Deutschland durch eine Reihe von historischen, politischen, sozialen und theologischen Faktoren geprägt, die zum Teil stark emotional besetzt sind.
Zu ihnen gehört die spürbare Abwesenheit von Juden, die deutlich ist durch – sichtbare oder verdeckte – Spuren jüdischer Geschichte, die seit der römischen Besiedlung Teil der Geschichte West- und Mitteleuropas ist. Vor der Schoa lebten ca. 500.000 Juden in Deutschland. Viele emigrierten, nur ein Bruchteil überlebte in Deutschland oder kehrte zurück. Die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik setzt(e) sich vor allem aus Osteuropa stammenden Überlebenden und ihren Kindern zusammen. Lange sah es so aus, als habe jüdisches Leben in Deutschland keine Zukunft. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu einer Immigration vieler Juden und die Zahl der jüdischen Gemeinschaft verdreifachte sich von ca. 30.000 auf ca. 100.000 im Jahr 2003.
Den wichtigsten Faktor bilden die vielfältigen Nachwirkungen des von Deutschen begangenen Genozids an Juden. Er wirkt bei vielen Menschen nach als Scham über das Geschehene und auch als unaufgearbeitete oder verdrängte Schuld, die unbewusst an nachfolgende Generationen weitergeben wird. Die Auseinandersetzung mit Schuld umfasst gesellschaftliche und individuelle Aspekte. Wie schwierig die Auseinandersetzung mit dem Versagen gesellschaftlicher Institutionen war und ist, zeigt u.a., wie lange der Prozess dauerte und zum Teil auch noch andauert, den Institutionen zur Bearbeitung der je eigenen Schuldgeschichte brauchen. Die Nachgeborenen haben sich mit der Frage auseinander zu setzen, auf welche Weise vom Staat bzw. von gesellschaftlichen Institutionen Verantwortung für Verbrechen wahrgenommen wird.
Neben der gesellschaftlichen und institutionellen Auseinandersetzung gibt es die individuelle mit eigener Schuld, die sich für die Generationen auf je unterschiedliche Weise stellt, wobei die Frage von persönlicher Schuld nur die Generation der vor 1930 Geborenen betrifft. Auf der individuellen Ebene stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, auf welche Weise die eigene Familie an Verbrechen teilgenommen bzw. von ihnen profitiert hat. Dass z. B. durch Notverkäufe Gegenstände weit unter Wert erworben wurden oder sich Gestohlenes im Eigentum der Familie befindet.
Im gesellschaftlichen Kontext lassen sich verschiedene Formen des Umgangs mit dem Thema "Judentum" beobachten. Eine Form des Verhaltens ist die Tabuisierung: Jüdische Themen werden nicht angesprochen. Eine abgeschwächte Form zeigt sich in der Abwehr des Themas. Eine weitere Reaktionsform ist apologetisches Verhalten, das vor allem, aber nicht nur bei Angehörigen der älteren Generation, die zur Zeit des Nationalsozialismus bereits junge Erwachsene waren, zu beobachten ist. Verbrechen werden minimiert oder vermeintlich positive Aspekte des Nationalsozialismus betont. Eine Variante dieses Verhaltens ist das bewusste oder unbewusste "Aufrechnen" israelischer Verfehlungen gegen deutsche Verbrechen. Das Benennen realer oder imaginärer Verfehlungen zielt darauf, deutsche Verbrechen in den Hintergrund treten zu lassen, indem Israelis als Täter dargestellt werden.
Joseph Levy bemerkt pointiert: "Ariel Scharon ist das beste Waschmittel für das deutsche Gewissen." Die Politik des israelischen Premierministers Ariel Scharon abzulehnen ist legitim. Die Art und Weise mancher Kritik legt allerdings nahe, dass sie der Entlastung von eigenen – oftmals diffusen – Schuldgefühlen dient. Viele solcher Sätze beginnen mit der Einleitung: "Was die Juden in Israel machen ..."
Weniger verbreitet ist ein habitueller Philosemitismus, der Jüdisches pauschal und immer positiv konnotiert. Katarina Seidler, Vorsitzende des Landesverbandes Liberaler Jüdischer Gemeinden in Niedersachsen sagt zum Philosemitismus: "Ich habe oft mit Christen zu tun, die besonders freundlich zu mir sind, obwohl sie mich gar nicht kennen. Vielleicht würden sie mich gar nicht mögen, wenn sie mich wirklich kennen lernen. Ich wünsche mir, dass diese Form des Philosemitismus, die für mich fast noch unangenehmer ist als offener Antisemitismus, weil ich mich gegen diese Umarmungen nicht wehren kann, mal ein bisschen auf normal gedreht wird."1
Zum gesellschaftlichen Kontext gehört weiterhin ein latent vorhandener Bodensatz antisemitischer Überzeugungen in der deutschen Bevölkerung, der seit mehreren Jahrzehnten konstant ca. 20% beträgt. Das Thema Antisemitismus ist – wie die öffentliche Auseinandersetzung um Äußerungen des FDP-Politikers Jürgen Möllemann im Sommer 2003 gezeigt hat – ein "heißes" Thema. Diskussionen um das Thema "Antisemitismus" erzeugen immer wieder stark emotional erhitzte Diskussionen und Reaktionen.
Der gesellschaftliche Diskurs von Juden und Judentum ereignet sich primär vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger aufgearbeiteten Schuldgeschichte. Die fast pawlowschen Assoziationen zu Juden und Judentum sind Nationalsozialismus – Antisemitismus. In der Begegnung mit Juden treten bei vielen nichtjüdischen Deutschen fast immer auch Gefühle von Befangenheit, Unsicherheit und Beklemmung auf. Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott schreibt in seinem Buch Über Juden in Deutschland: "Die hier vorgestellt werden, sind keine Opfer, ich bin kein Täter. Es ist dennoch kein normales Verhältnis zwischen uns. Gelegentlich entsteht zwar der Anschein, wenn wir über irgend etwas Alltägliches sprechen, eine gemeinsame Mahlzeit haben oder uns als Kollegen verabreden. Aber sobald zur Sprache kommt, was einen Bezug auf Jüdisches oder zur Geschichte hat, verfliegt dieser Anschein. Normal ist die Befangenheit. Denn in der Sprache ist diese Geschichte ja allgegenwärtig."2
Rabbiner Stein beschreibt die komplexe emotionale Gemengelage : "da ist diese Kluft, die aus Hass und Liebe, aus Angst und Beklemmung, aus Geschehen und Erlebtem, aus ‘Wissen wollen’ und aus Tabus, aus besser ‘nicht wissen wollen’ und aus Abstand und vielem anderen besteht."3 Es scheint mir wichtig, sich die je eigenen komplexen Empfindungen – so gut es geht – bewusst zu machen, sie auf keinen Fall wegzuschieben.
Das bisher Gesagte zeigt, dass das Verhältnis nichtjüdischer Deutscher zu Juden und Judentum problematisch ist. Neben den bisher genannten Gefühlen und Haltungen finden sich auch andere Haltungen bzw. vor allem Wünsche nach einem unbelasteten Miteinander. Viele Christinnen und Christen haben den Willen, respektvoll mit der jüdischen Tradition umzugehen, christlichen Antijudaismus nicht fortzusetzen und Antisemitismus zu bekämpfen. Dies zu realisieren erweist sich jedoch immer wieder als ein schwieriges Unterfangen, da das geistesgeschichtliche und theologische Erbe von antijüdischen Denkmustern und Aussagen durchtränkt ist.
Zum theologischen Kontext
Zu den historischen und politischen Faktoren kommen theologische hinzu. Von Anfang an war das Christentum he- rausgefordert, sich in eine Beziehung zum Judentum zu setzen. Die ersten Anhängerinnen und Anhänger Jesu waren Juden wie er selber auch. Sie deuteten die Botschaft Jesu im Rahmen der jüdischen Tradition. Auch Nichtjuden wurden von der Botschaft Jesu, dem Evangelium, angesprochen. Sie bekehrten sich zum Glauben an den Gott Israels und den Messias Jesus. Von ihnen wurde nicht verlangt, sich beschneiden zu lassen und die jüdischen Speisevorschriften zu halten, augenfällige Zeichen jüdischer Identität. Da die messiasgläubigen Nichtjuden nicht zugleich Juden wurden und sie bald unter den Jesus-Messiasgläubigen die Mehrheit bildeten, entstand eine neue Religion: das Christentum.
Die Auseinandersetzung um das Messias-Sein Jesu, die anfänglich eine innerjüdische Diskussion war, wurde zu einem Streit um die Wahrheit zweier Religionen. Jede Religion behauptete, die göttliche Wahrheit zu besitzen. Das Christentum meinte, das "wahre Israel" zu sein und die Verheißungen Gottes geerbt zu haben. Dem jüdischen Volk und der jüdischen Religion wurde Wahrheit abgesprochen. Der Streit um die Wahrheit wurde ungleichgewichtig, als das Christentum Staatsreligion wurde. Zwar wurden das jüdische Volk und seine Religion geduldet, und es gab Zeiten friedvollen Miteinanders. Aber immer wieder waren Juden und ihre Religion Erniedrigungen und Demütigungen bis hin zu Verfolgung, Ausweisung und Ermordung ausgeliefert.
Anders als das Judentum, das für seine religiöse Existenz das Christentum ignorieren kann, ist das Christentum herausgefordert, seine Beziehung zum Judentum theologisch zu beschreiben. Dies bedeutet, dass die Diskussion um die Frage der Darstellung und Vermittlung des Judentums im christlichen Religionsunterricht auch und vor allem Fragen der christlicher Theologie selbst berührt.
Im Mittelpunkt der theologischen Reflexion steht die Auseinandersetzung mit dem Antijudaismus. Antijüdische Vorstellungen finden sich in allen Disziplinen der Theologie: Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, systematische Theologie und praktische Theologie und Religionspädagogik. Antijüdische Denkformen sind der christlichen Tradition strukturell inhärent. Nur durch eine kritische Reflexion aller Disziplinen bzw. die Aufnahme der Ergebnisse die er Arbeit können antijüdische Denkmuster sukzessive aus der christlichen Tradition ausgeschlossen werden. Zur Kritik von antijüdischen Denkmustern in der christlichen Tradition gehört u. a. eine Reflexion des theologischen Vokabulars: Bereits in ihm kann eine Abwertung zum Ausdruck kommen. So wird auch im Sprechen über das Judentum eine "gerechte" Sprache gefordert. So ist z. B. der Begriff Hebräische Bibel oder Erstes Testament statt Altes Testament zu benutzen. Damit wird deutlich, dass das Thema "Judentum" nicht allein auf ein "Sonderkapitel" im Religionsunterricht zu beschränken ist. Das implizite Vorkommen von jüdischen Themen ist explizit deutlich zu machen. Wie christlicher Religionsunterricht in der Gegenwart Israels aussehen sollte, der Judentum nicht allein als ein eigenständiges Thema behandelt, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.4
Stolpersteine in der Darstellung des Judentums
Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen überrascht es nicht, dass von jüdischer Seite vor allem Warnungen ausgesprochen werden: vor pauschalen Aussagen und Urteilen über das Judentum, vor einer monolithischen und stereotypen Darstellung des Judentums, vor Musealisierung, Exotisierung und Idealisierung, vor einer latent antisemitischen Kritik am Staat Israel und vor einer Gleichsetzung des Staates Israel mit dem Judentum. Leo Eitinger benutzt das eindrückliche Bild einer "Flamme im Sprengstoffdepot" um deutlich zu machen, welche Vorsicht in der Darstellung des Judentums im christlichen Religionsunterricht walten sollte.5 Rabbiner Ernst Stein betont, dass vor allem "große Vorsicht, ... Takt und Einfühlungsvermögen" und "nicht minder großes Wissen in der Darstellung des Judentums" notwendig seien.6
Pauschalisierung und Stereotypisierung des Judentums
"Das" Judentum gibt es so wenig, wie es "das" Christentum oder "den" Islam gibt. Jüdische Religion und Kultur sind eine lebendige und somit beständigen Veränderungen unterworfene Tradition – auch wenn manche Traditionalisten dies bestreiten. Das rabbinische Judentum der Antike ist – trotz Kontinuitäten – ein anderes Judentum als das biblische Israel. Das neuzeitliche europäische und nordamerikanische Judentum unterscheidet sich erheblich von dem des Mittelalters. Und schließlich spielt das kulturelle und religiöse Umfeld, in dem jüdische Kultur sich entfaltet, eine wichtige Rolle: Jüdisches Leben im muslimischen Jemen sieht anders aus als im chinesischen Kaifeng, im galizischen Polen, im säkular-christlich geprägten Deutschland oder in den stärker religiös geprägten USA. Wird vom Judentum gesprochen, so ist deutlich zu machen, auf welches Judentum sich die Aussagen beziehen. Der historische Kontext ist so präzise wie möglich zu benennen.
Das neuzeitliche westeuropäische Judentum besteht – seit dem 19. Jahrhundert – aus vielfältigen religiösen Strömungen. Je nach Land variieren die Strömungen, werden unterschiedliche Akzente im Umgang mit der Tradition gesetzt. Die Hauptströmungen bilden das orthodoxe, konservative und liberale Judentum. Sie unterscheiden sich vor allem in ihrem Umgang mit der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, und in ihrer Haltung zur Kultur der Umgebung. Wird über jüdische religiöse Traditionen gesprochen, ist deutlich zu machen, von welcher Tradition die Rede ist: Beziehen sich die Aussagen auf das orthodoxe oder liberale Judentum? Zugleich ist deutlich zu machen, ob es sich bei den Aussagen um normative Vorschriften oder deskriptive Aussagen handelt. Ein Beispiel: So schreibt die – orthodoxe – Halacha vor, das Auto am Sabbat stehen zu lassen; die überwiegende Mehrzahl der Juden in Deutschland hält sich hieran nicht. Es ist irreführend, wenn Bestimmungen der Halacha zugleich als Beschreibung eines religiösen Ist-Zustandes begriffen werden.
Wichtig ist darüber hinaus, dass "Judentum" – im Unterschied zum Christentum – nicht ausschließlich als Religion wahrgenommen wird. "Judentum" ist – auch – eine Religion und zugleich mehr als eine Religion. Dies spiegelt sich z.B. in der traditionellen jüdischen Definition der Frage, wer Jude ist. Jude, Jüdin ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übergetreten ist. Die Definition von Jüdisch-Sein ist nicht mit dem Für-wahr-Halten bestimmter Glaubenssätze verbunden.
Musealisierung, Exotisierung und Idealisierung
Rabbiner Stein warnt vor einer Musealisierung und Idealisierung von Juden und Judentum: "Ich will nicht der Indianer, die ‘edle Rothaut’ der Bundesrepublik sein, dessen Werte man erkannte, ausstellt, lehrt, preist, nachahmt, nachdem man sie fast vernichtet, ihre Kultur und Vergangenheit zerstört hat."7
Musealisierung kann sich darin zeigen, dass z.B. vom Judentum in der Vergangenheitsform gesprochen wird. Sie kann sich aber auch darin äußern, dass es als eine hermetisch abgeschlossene, fremde Kultur dargestellt wird. Damit eng verbunden ist die Gefahr der Exotisierung, die vor allem durch Bilder geschieht. Jüdisches religiöses Leben wird häufig durch Fotos aus dem Haredi-Judentum, der sogenannten Ultraorthodoxie illustriert, obwohl weniger als 5% dieser Richtung angehören. "Je orthodoxer, je ‘chassidischer’ Juden erscheinen, desto interessanter werden sie auch. Der geheimnisvolle rätselhafte Ritus konstituiert das Jüdische als Exotik: Juden mit Tallit und Tefillin (Gebetsmantel und Gebetsriemen an der Klagemauer); betende Juden in den Synagogen, mit den Gesängen des Kantors; eine jüdische Familie am Freitagabend oder beim Pesach-Seder mit dem väterlichen Segensspruch vor dem Essen..."8
In diesem Zusammenhang plädiert Stein für das Wahrnehmen des lokalen Judentums: "... und letztlich muss das Wissen aus ihm selber kommen und zwar ‘lokal’ aus ihm selber. Denn dieses ‘Judentum,’ wie verallgemeinert es so leichtfertig daher gesagt wird, gibt es nicht, sondern hat überall seine lokalen Eigenheiten."9 Eine Darstellung jüdischer Bräuche in Israel oder den USA kann die bereits vorhandene Gefahr von Exotisierung verstärken. Bei der Darstellung z.B. des Sabbats sollte nicht die Feier im ultraorthodoxen Mea Shearim im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, wie Juden vor Ort Sabbat feiern.
Dies impliziert, jüdisches Leben in Deutschland auch als Teil deutscher Kultur sichtbar zu machen. Jüdisches Leben existiert im Rheinland seit der römischen Besiedlung in vorchristlicher Zeit – in anderen Gegenden, wie z.B. Niedersachsen seit dem Mittelalter. In diesem Zusammenhang ist die Kontinuität jüdischer Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart zu betonen. Dies richtet sich zum einen gegen Vorstellungen, für die das Judentum mit der Ankunft des Christentums gleichsam aufhört zu existieren, und zum anderen gegen Tendenzen, die sich bei der Darstellung des Judentums auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränken.
Auch eine Idealisierung des Judentums ist zu vermeiden. Jüdisches religiöses Leben in Deutschland – oder den USA – ist ebenso wenig eine "heile Welt", wie es christliches Familienleben oder christlicher Gemeindealltag ist.
Rabbiner Berger beschreibt die Erwartungen von Christen, die an ihn als jüdischen Referenten herangetragen werden: "Ich wurde ... oft gerufen, um aus jüdischer Sicht über die Bedeutung des Schabbat zu sprechen. Dabei kam ich mir allerdings nicht selten als Katalysator vor, der eingesetzt wurde, um Christen die Bedeutung des christlichen Sonntags, die ihnen abhanden gekommen war, wieder ‘heimzuholen’. Aber auch in Bezug auf anderes verlorengegangenes Glaubensgut und -verständnis der Kirche wird vom Rückgriff auf die jüdische Gedankenwelt die ‘Reparatur’ erwartet."10 Die von Berger beschriebene Haltung ist dann problematisch, wenn das jüdische Gegenüber nur im Hinblick auf den Nutzen für sich selbst wahrgenommen wird. Damit wird "Judentum" für Kritik an der eigenen Tradition ge- und somit missbraucht.
Die Sehnsucht nach einer "heilen Welt", nach nicht ambivalenter, religiöser Erfahrung und Erfüllung lässt sich leicht auf eine Tradition projizieren, die nur aus der Literatur, nicht aber aus der eigenen Anschauung bekannt ist.
Zur Wahrnehmung des Staates Israel
Jüdische Bindungen an Land und Staat sind komplex und vielfältig. Für viele Juden haben das Land und der Staat Israel eine besondere Bedeutung. Religiöse Sehnsucht richtet sich seit biblischen Zeiten auf das Land Israel. Sie ist im Siddur, dem Gebetbuch, und auch im Festkreis fest verankert. Am Ende des Seder-Abend des Pesach-Festes wird jedes Jahr der Wunsch geäußert: "Nächstes Jahr in Jerusalem."
Die Erfahrung von fortdauerndem Antisemitismus in Europa führte zum Entstehen des Zionismus im 19. Jahrhundert. Die Erfahrung, im Angesicht von Verfolgung keinen sicheren Zufluchtsort zu haben, da in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts fast alle Staaten die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen ablehnten oder eine Quote hatten, traumatisierte stark. Sie führte bei der Staatsgründung dazu, in der israelischen Verfassung allen Juden auf der Welt das Recht auf Einbürgerung im Staat Israel zu gewähren.
Zum einen ist die Besonderheit dieser Bindung – gerade in ihrer Partikularität – wahrzunehmen. Vergleichbares gibt es im Christentum nicht. Zum andern ist darauf zu achten, dass keine Gleichsetzung von Judentum und Staat Israel stattfindet, dass Juden in Deutschland nicht mit der Politik der israelischen Regierung identifiziert oder für sie verantwortlich gemacht werden.
Antisemitische Aspekte in der Wahrnehmung des Staates Israel
Problematisch ist eine Darstellung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern, die eine einseitige Schuldzuschreibungen enthält: die Palästinenser als – unschuldige – Opfer wahrnimmt, Israelis dagegen die Verantwortung für das Fortdauern des Konfliktes zuschreibt. Nicht akzeptabel ist, wenn das Leiden der Israelis nicht gesehen oder sofort weggewischt wird. Kritik an der Politik der Regierung Israels ist nicht per se antisemitsch. Sie ist dann eindeutig antisemitisch:
- wenn das Recht auf die Existenz des Staates Israel bestritten wird,
- wenn israelische Politik mit nationalsozialistischen Verbrechen verglichen wird,
- wenn dem Staat Israel nicht – wie allen Staaten – das Recht auf Selbstverteidigung zugebilligt wird.
Zugänge
Maurice Baumann und Rosa Grädel-Schweyer unterscheiden zwischen einer objektiven, einer subjektiven und einer sozialen Betrachtungsebene bzw. Zugangsweise: Wird die erste eingenommen, dann wird die jüdische Tradition von einem externen Standpunkt aus betrachtet, es wird nach ihren Traditionen, Riten und nach ihrer Geschichte gefragt.11 Der religionskundliche Ansatz zeigt die Eigenständigkeit des Judentums als "eine vielgestaltige, lebendige Kultur, religiöse Tradition, Lebensweise, Volksgemeinschaft, Einstellung und vieles mehr."12 Der geschichtliche, kulturgeschichtliche und -hermeneutische Ansatz dient dazu, jüdische Kultur und Religion sowohl in ihrer Eigenständigkeit, wie auch in ihrem wechselseitigen Austausch mit der Kultur der Umgebung darzustellen.
Wird dagegen eine subjektive Betrachtungsebene eingenommen, so heißt dies, den persönlichen Dialog mit einer religiösen Tradition zu suchen und in ihn einzutreten.13 Mit dem biographischen Ansatz werden zwei unterschiedliche Zugänge verbunden: Zum einen ist damit gemeint, dass durch die Begegnung mit einem Gegenüber der jüdischen Tradition Judentum exemplarisch erfahrbar und relevant wird. Zum andern werden Lehrende und Lernende aufgefordert, "sich ihre Bilder, Überzeugungen, Alltagstheorien zum Thema bewusst zu machen und sie einer kritischen Analyse zu unterziehen."14 Woher stammen die eigenen Vorstellungen über das Judentum? Wie haben sie sich gebildet? Wie haben sie sich verändert? Worauf basieren sie? Die Reflexion der eigenen Vorstellungen hat vorzugsweise in einer Gruppe stattzufinden, da das individuelle Bewusstsein nicht in der Lage ist, ein Vorurteil oder antijüdische Vorstellungen, die es selber hat, als solche zu erkennen, solange es nicht von außen damit konfrontiert wird.
Auf der sozialen Betrachtungsebene wird nach den Fähigkeiten einer Religion gefragt, "die Humanisierung des Lebens zu fördern und zu verwirklichen"15. In dieser Perspektive werden Fragen nach den ethischen Ansprüchen einer Religion, ihrem Umgang mit anderen religiösen Traditionen sowie ihren in der Geschichte entstandenen Sozialformen und deren religiöser Bewertung gestellt.
Eine Religion zu verstehen, heißt mehr als die Inhalte ihrer Lehren zu kennen, heißt mehr als ihre Zeichen zu kennen. Die vielfältigen Aspekte, die eine Religion ausmachen, gilt es – in ihrem jeweiligen Lebensumfeld – zu erkunden und zu analysieren. Mit diesen beiden Begriffen lässt sich eine Grundhaltung des Lernens in der Begegnung mit einer (fremden) Religion charakterisieren. "Erkunden" heißt, sich mit allen Sinnen auf das Phänomen Religion einzulassen: Erfahrungsberichte zu hören und zu lesen, Austausch via Internet zu suchen, Menschen zu begegnen, Orte zu erkunden und den gelebten Vollzug zu erleben. "Analysieren" heißt, zu fragen und kritisch zu reflektieren. Die Lernenden sind also gleichermaßen zu offener Aufnahmebereitschaft und zu analytischem Hinterfragen zu ermuntern.
Methodische Grundsätze
Stichwortartig benenne ich im Folgenden einige methodische Grundsätze.16
- Zentral ist der Gebrauch von Primärquellen, um eine authentische Begegnung mit den Inhalten der Religion zu ermöglichen.
- Dabei soll keine Beschränkung auf Texte stattfinden, sondern es ist auch mit Hör- und Bildmedien zu arbeiten.
- Es ist wichtig, eine Vielfalt von bildhaften und bildlichen Darstellungen zu verwenden, um Stereotype zu vermeiden. Dies gilt nicht allein für die Darstellungen, sondern auch für Texte mit theologischen Inhalten und für Texte, die individuelle Erfahrungen zeigen.
- Es ist eine Vielfalt von Methoden aktiven Lernens einzubringen. Bei Erfahrungsübungen ist darauf zu achten, dass sie nicht das religiöse Empfinden von Angehörigen dieser Religion verletzen. So ist z.B. kein Pessach-Fest in der Schule zu inszenieren.
- Es ist wichtig, Judentum lokal zu erkunden.
- Es ist positiv, wenn in der Beschäftigung mit der jüdischen Tradition Erfahrungsmodelle und Handlungsimpulse für die eigene Existenz gewonnen werden.
Das Thema "Judentum" im christlichen Religionsunterricht ist komplex und stellt die Lehrenden vor erhebliche Herausforderungen. Rabbi Elasar sagt in den Sprüchen der Väter: "Es ist nicht an dir, die Aufgabe zu vollenden, aber du bist nicht frei, von ihr zu lassen." (Sprüche der Väter 2.21)
Anmerkungen
- Interview mit Katarina Seidler. In: Ursula Rudnick (Hg.), Blickwechsel: Christen und Juden – Juden und Christen. Eine Wanderausstellung in Niedersachsen. Essen 2000, S. 131.
- Gert Mattenklott, Über Juden in Deutschland. Frankfurt a. M. 1993, S. 133.
- Ernst M. Stein, "Was sollen deutsche Schüler im Unterricht über Juden und Judentum lernen?" In: Manfred Kwiran, Herbert Schultze (Hg), Bildungsinhalt: Weltreligionen. Grundlagen und Anregungen für den Unterricht. Münster: Comenius Institut, 1988; wieder abgedruckt in: B. Husmann (Hg.), Fremde Religionen in der Nachbarschaft. Loccum 2002, S. 62f.
- Siehe hierzu: Albert Lohrbächer, Was Christen vom Judentum lernen können. Modelle und Materialien für den Unterricht. Freiburg, Basel, Wien 1993. Ursula Rudnick, Judentum als Thema zeitgenössischer protestantischer Bildungsarbeit. Hannover 2003.
- "Wenn man die Herausforderung der Religionserziehung ernst nehmen will, wenn man wirklich das Evangelium der Liebe zu verbreiten wünscht, wenn man nicht das Bibelwort ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ in egoistischer und faschistischer Weise nur auf die eigene Familie oder die eigene Religion beschränken will, dann muss man daran denken, dass man jedes biblische Bild, jedes Gleichnis, jedes Symbol, das die Judenfeindlichkeit von Seiten der Kirche scheinbar entschuldigen kann, mit der gleichen Vorsicht behandeln muss, wie eine Flamme in einem Sprengstoffdepot." Leo Eitinger. "Judenfeindlichkeit als Herausforderung für die Religionserziehung." In: Reijo E. Heinonen, et.al. (Hg), Religionsunterricht und Dialog zwischen Judentum und Christentum. Abo, 1988, S. 79.
- Ernst M. Stein, a.a.O., S. 55.
- Ebd., S. 61.
- Michael Bodemann, In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland. Frankfurt a. M. 2002, S. 150.
- Ebd., S. 99.
- Joel Berger, "Zum Stand des christlich-jüdischen Gesprächs heute. Thesen und Klarstellungen." In: Abraham Peter Kustermann, Dieter R. Bauer (Hg), Jüdisches Leben im Bodenseeraum. Ostfildern Schwabenverlag 1994, S. 286.
- Maurice Baumann, Rosa Grädel-Schweyer, "Judenbilder für Christenkinder. Das Judentum in Religionsunterricht und kirchlicher Unterweisung." In: Walter Dietrich, Martin George, Ulrich Luz (Hg), Antijudaismus – christliche Erblast. Stuttgart, Kohlhammer, 1999, S. 143-163.
- Ebd.
- Baumann, S. 159.
- Ebd., S. 162.
- Ebd., S. 160.
- Sie wurden u. a. von Clive Erricker entwickelt. Clive Erricker, "Verstehen und Partizipation als Ziele des Unterrichts über Weltreligionen." In: Manfred Kwiran, Herbert Schultze (Hg), Bildungsinhalt: Weltreligionen. Grundlagen und Anregungen für den Unterricht. Münster, Comenius Institut, 1988, S. 161-168.