Werner Baur und Michael Storz beschreiben im ‚Loccumer Pelikan‘ 2/2000 eindrücklich die beruflichen Perspektiven und Möglichkeiten der sozialen Integration benachteiligter Jugendlicher. Als eine mögliche Konsequenz schlagen sie das Konzept der Alltagsbegleitung vor, das von Gotthilf Gerhard Hiller u.a. vor mehreren Jahren entwickelt, erprobt und in die Diskussion eingebracht wurde. Inzwischen liegen auch für den Religionsunterricht Erfahrungen mit der Umsetzung alltagsbegleitender Maßnahmen vor.
1. Eine Reise mit der Zeitmaschine
Besteigen Sie mit mir eine Zeitmaschine und lassen Sie uns 200 Jahre in die Vergangenheit reisen, in die Zeit des Übergangs von der feudalen zur frühindustriellen Gesellschaft. Mischen wir uns unter das "Volk", die "niederen Stände", die von Massenarmut und Verelendung geplagten Bauern und Tagelöhner, die unselbständigen Handwerker und Manufakturarbeiter, das Dienstpersonal in den Städten, aber auch die Landstreicher und Dirnen. In dieser Zeit entwirft ein gewisser Pestalozzi seinen "Plan von der öffentlichen Erziehung der Armen". Ihm geht es dabei um "Volksbildung". Er möchte damit "den ärmsten Kindern im Lande" eine "vollendete Erziehung" ermöglichen, den "äußerlich wie innerlich verwahrlosten Kindern" eine Zukunftsperspektive eröffnen.
Volksbildung hatte in dieser Zeit kaum etwas mit dem gemein, was wir heute marktgängig als Erwachsenenbildung in den Programmen der Volkshochschulen finden. Es ging in dieser Zeit weder um kostengünstige berufliche Qualifizierungsprogramme, noch um bedürfnisorientierte Angebote aller Art mit dem Ziel privater Kultivierung und sogenannter Selbstverwirklichung. Die Sorgen und Nöte der "niederen Stände" waren deutlich anders gelagert. Sie benötigten elementares Sach- und Strategiewissen zur Daseinssicherung und zur Abwehr des psychischen und physischen Ruins. Hinzu kamen Techniken zur Bewältigung tagtäglicher Herausforderungen.
Besteigen wir wieder die Zeitmaschine und reisen zurück in die Gegenwart - in die Gegenwart einer Abschlussklasse der Hauptschule. In einer solchen Klasse werden im Religionsunterricht die Vorstellungen, was ein "gelingendes Leben" konkret ausmacht, thematisiert. Die von den Schülerinnen und Schülern geäußerten Vorstellungen sind relativ eindeutig und bemerkenswert schlicht. Sie lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:
- Auf der Grundlage der schulischen Ausbildung absolviert man, spätestens am Anfang des dritten Lebensjahrzehnts, erfolgreich eine berufliche Ausbildung in einem gut bezahlten Beruf, den man dann bis zur Rente ausübt.
- Einige Zeit nach Abschluss der Berufsausbildung, in der Regel noch im dritten Lebensjahrzehnt, findet man "eine Partnerin oder einen Partner fürs Leben" und gesund und in wechselseitiger Treue lebt man bis ins hohe Alter zusammen. Außerdem hat man viele Freunde und Bekannte, zu denen man herzliche und intensive Beziehungen pflegt.
- Zusammen mit der Lebenspartnerin bzw. dem Lebenspartner gründet man eine Familie, lebt im eigenen Haus und fährt ein gutes Auto. Mindestens einmal im Jahr fährt man in den Urlaub. Wenn die Kinder groß sind, macht man eine Weltreise.
Solchen Wunschbildern steht eine Realität entgegen, die sich insbesondere für Jugendliche mit nicht normgerechter Schulkarriere noch einmal zuspitzt:
- Die geschilderten Bilder vom Lebensglück sind auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels kaum noch realisierbar. Die Formen des Glücks sind vielfältiger und labiler, die Wege dorthin länger und unübersichtlicher.
- Die Möglichkeiten, Beschäftigungspositionen auf Dauer zu finden, nehmen mit niedriger werdendem Bildungsabschluss ab. Weiterhin werden die Lebenschancen dadurch eingeschränkt, dass die meisten möglichen Jobs nicht sonderlich gut bezahlt sind.
- Die Zugehörigkeit zu einer Klasse symbolisiert sich nicht mehr durch Stil. Unter dem Diktat zunehmender Vereinzelung erhält er nur noch für Cliquen einen kurzfristigen Signalcharakter. Was und wie viel der einzelne zukünftig für eine kommunikative Selbstinszenierung investiert, wird zunehmend egal.
- Die Aufgabe, die Folgen des aktuellen gesellschaftlichen Wandels im Blick auf den Nachwuchs produktiv zu verarbeiten, überfordert nicht nur die sozial schwachen Familien. Wer dauernd in einer Ungewissheit in bezug auf die berufliche und private Zukunft lebt, wer ständig in den Kampf um die Gültigkeit von Überzeugungen und Lebensformen verstrickt ist, der kann Jugendliche nur schwer ertragen, deren Chancenlosigkeit und deren Probleme täglich offensichtlicher werden.
In dieser risikoreichen Grauzone stellt sich die Frage nach angemessenen Konzepten auch für Religionspädagoginnen und Religionspädagogen in radikaler Weise neu.
2. Aufgaben des Religionsunterrichts mit benachteiligten Schülerinnen und Schülern
Um nicht missverstanden zu werden: Die grundlegende Aufgabe des Religionsunterrichts, den Schülerinnen und Schülern in der Begegnung mit dem Christentum eine Entfaltung und Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit zu ermöglichen, bleibt trotz aller Bemühungen um die Entwicklung neuer Bildungskonzepte bestehen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Betonung der Transzendenz Gottes durch die Religion die Welt in ihrer Wirklichkeit bejaht, den Menschen zum Subjekt der Geschichte bestimmt und durch die eschatologischen Verheißungen die Ziele menschlichen Handelns angibt. Das bedeutet auch, dass der Mensch sich angesichts unsicherer werdender Verhältnisse nicht nur auf Negation beschränken muss, sondern im Licht der Verheißung biblischer Botschaft das Wagnis des Handelns eingehen kann - die Möglichkeit des Scheiterns inbegriffen.
Als öffentliche Proklamation weisen die eschatologischen Verheißungen in besonders scharfer Weise auf die bestehenden Diskrepanzen zwischen dem belasteten Alltag der Schülerinnen und Schüler und dem Reich Gottes hin. Aus dieser Schärfe ergibt sich ein kritischer Maßstab, der Notwendigkeit und Richtung einer Veränderung der Situation angibt. Aufgrund der Lebenssituation benachteiligter Schülerinnen und Schüler ist der Religionsunterricht in besonderer Weise im Schnittfeld von theologischem Denken einerseits und gesellschaftlichen Zusammenhängen andererseits anzusiedeln. Die Didaktik des Religionsunterrichts hat sich in diesem korrelativem Kontext zu bewähren.
Damit werden zu eng gefasste Rahmenpläne fraglich, da sie aufgrund langer Entstehungsprozesse aktuellen Situationen kaum zu entsprechen vermögen. Für die Unterrichtenden bedeutet dieses, dass sie das Curriculum auf aktuelle Bedürfnisse und Situationen künftigen Schülerlebens beziehen müssen. Dazu ist es notwendig, die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ebenso wie ihre einmalige organische Ausstattung zu begreifen. Gelingt dieses nicht, werden die Schüler an einer Norm gemessen, die ihren bereits erworbenen Möglichkeiten völlig unangemessen ist und deren Wert ihnen rätselhaft bleibt. Durch die intensive, empathische Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler und ihre Einbeziehung in das Unterrichtsgeschehen treibt die Lehrerin bzw. der Lehrer die Entwicklung von Alternativen oder Möglichkeiten des Curriculums voran. Gleichzeitig fällt der Religionspädagogik als Fachdidaktik des Religionsunterrichts die Aufgabe zu, eine Art Anwaltschaft für die Schülerinnen und Schüler und ihre Lebenssituation zu übernehmen.
Ein verengtes Proprium wird mit diesen konzeptionellen Grundlegungen abgewiesen. Bei didaktischen Entscheidungen wird die Schülersituation "am Rande der Normalität grundlegend für das unterrichtliche und das außerunterrichtliche Handeln: Der Schüler in seiner Beziehung zu den Menschen, mit deren Hilfe er zusammen aufwächst; der Schüler in seinen Beziehungen zu den Institutionen, den kulturellen Stereotypen und den Sinnzusammenhängen, die ihm vorgegeben werden. Die Stärkung der Kommunikationsfähigkeit, die Bewusstmachung eigener Werthaltungen und die Ermutigung und begleitende Unterstützung zur Gestaltung des eigenen Lebens stehen dabei im Mittelpunkt. Ein so konzipierter Religionsunterricht stellt sich der Aufgabe, Hilfe zu einem selbstgestalteten, verantwortungsvollen und sinnvollen Leben zu geben und Hoffnung mittels christlicher Verheißungen zu vermitteln. Er enthält damit stark handlungsorientierte Elemente.
2.1 Exkurs: Handlungsorientierung als Grundkategorie des Religionsunterrichts
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf einen Handlungsbegriff, der das Tun eins Menschen als wertorientiert, planvoll und zielgerichtet begreift, d.h., dass der Akt des Handelns freiwillig und unter Berücksichtigung der Wertfrage zur Ausführung kommt und die Teilakte der bewussten Entscheidung für ein Ziel sowie die Überlegung der Mittel zu seiner Erreichung einschließt. Die Absicht, die hinter diesem Tun eines Menschen steht, ist Gestaltung und damit Veränderung der Wirklichkeit. Ein solches Handeln ist nicht unsinnlich und auch nicht unsinnig. Es hat einerseits nichts gemein mit unreflektiert antrainierten Fähigkeiten, denn eine solche Verdinglichung des Menschen ist abzulehnen. Andererseits läuft es einem schlichten Aktionismus zuwider. Die Einbeziehung der Wertfrage in den Handlungsbegriff beinhaltet die Erkenntnis, dass der Mensch niemals Mensch für sich allein ist. Zum Menschen wird er nur unter Menschen und für andere Menschen. "Indem und wie er vom Menschen (konkret: von Menschen) als Mensch erkannt wird, kann er sein Wesen als Mensch erst verwirklichen." Dieses geschieht in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur und ihrer Geschichte sowie dem Wert, den diese dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft einräumt.
Menschliche Existenz, die bei der handelnden Gestaltung der Wirklichkeit auf die Anerkennung eines menschlichen Gegenübers angewiesen ist, hat konsequenterweise Widerstand zu leisten gegen Bedingungen, die menschliches Miteinander beeinträchtigen und sich für menschenwürdige Formen des Lebens einzusetzen. Menschliche Lebensformen können sich nur unter kooperativen Bedingungen entwickeln. Diese Kooperation setzt eine Orientierung der Handlungen an gemeinsamen Werten und eine Koordinierung der Handlungspläne auf vereinbarte Ziele hin voraus. In solchen Handlungszusammenhängen erhalten instrumentelle Fähigkeiten und Fertigkeiten erst ihren Sinnbezug. Der Sinn ist das Ergebnis bisher vollzogener Erkenntnistätigkeit. Er ist sozusagen die Ordnung, in die Dinge und Ereignisse eingeschlossen werden, das Ergebnis der individuellen Biographie. Genährt und begrenzt wird die Erkenntnistätigkeit und damit auch die Sinnstiftung durch die jeweilige Sinnlichkeit des einzelnen Menschen. Sinn konzentriert sich in Abhängigkeit von den Sinnen. Ob die Frage nach dem Sinn eine christliche Antwort erhält oder irgendeine der vielen anderen möglichen, hängt davon ab, ob es gelingt, unter Berücksichtigung der sinnlichen Möglichkeiten der Schüler, durch christlich geprägte sinnhafte Kooperationen die subjektiven Möglichkeiten des Handelns zu erweitern.
Eine sich auf einen solchen Handlungsbegriff beziehende Religionspädagogik im Bereich benachteiligter Schülerinnen und Schüler hat einen handlungsorientierten Begriff von Benachteiligung vorauszusetzen: Dadurch, dass der benachteiligte Schüler infolge einer Schädigung des Organ- und/oder Verhaltenssystems in der Fähigkeit des Lernens, der Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, der Fähigkeit der Sprache, der Bewegungsfähigkeit und/oder im Bereich des Leistungs- und Sozialverhaltens beeinträchtigt ist, kann er die wertorientierten Normen seines Kultursystems nur unter außergewöhnlichen Bedingungen nachvollziehen. Die dadurch hervorgerufene Benachteiligung bei der verantwortlichen Mitbestimmung der Ziele, Pläne und Werte seines Handelns muss durch eine schädigungsspezifische Interpretation der wertorientierten aufgehoben werden. An dieser Stelle erhält der Religionsunterricht die Funktion, den Schülerinnen und Schülern spezielle Hilfe anzubieten, damit sie in die Lage versetzt werden, auf einem je schädigungsspezifischen Hintergrund Handlungspläne zu entwickeln und eine eigenverantwortete Entscheidung zu treffen. Nur wer sein Handeln als zielgerichtet, planvoll und wertorientiert begreift, kann das Handeln Gottes ansatzweise als lebensrelevant erachten.
Bevor die eigentliche religionspädagogische Arbeit beginnt, hat die/der Unterrichtende sich die Fragen zu stellen, wie der einzelne Schüler zu menschlichen Erkenntnisformen findet, die Handeln im o.g. Sinne ermöglichen bzw. was ihm den Zugang zu eben diesen Erkenntnisformen verbaut. Damit steht der Schüler im Mittelpunkt des Unterrichts. Der Volkspädagoge Paolo Freire setzte genau an dieser Stelle an, als er seine Alphabetisierungskampagnen durchführte. "Ausgangspunkt für die Organisation des Programminhaltes einer pädagogischen (...) Aktion muss die gegenwärtige existenzielle und konkrete Situation (der Schüler, d.Verf.) sein." Ein an der Handlungsfähigkeit des benachteiligten Menschen interessierter Religionsunterricht hat im "Hier und Jetzt" (...), das die Situation konstituiert, in die er untergetaucht ist, aus der er sich erhebt und in die er eingreift" anzusetzen. Gelingt ein Ansetzen im "Hier und Jetzt" der Schülerinnen und Schüler, besitzt ein so konzipierter der Religionsunterricht eine ausgeprägte emanzipatorische Komponente. Seine Erziehungsarbeit begreift die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern setzt auf handelnde Veränderung der Wirklichkeit im Licht der eschatologischen Verheißungen. Der Religionsunterricht kann in diesem Kontext nicht als eine Form der Vermittlung von christlicher Wirklichkeit begriffen werden. Wirklichkeit wird vielmehr unter Berücksichtigung der vorhandenen Möglichkeiten in ihrer kulturellen Bedeutsamkeit im Religionsunterricht rekonstruiert und so zu einem vorstrukturierten Handlungsfeld für die Schüler. Sich in diesem Feld als handlungsfähig zu erweisen, bedeutet, "Wirklichkeit (...) mit den eigenen Möglichkeiten zu erschließen, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern". Dazu sind benachteiligte Schülerinnen und Schüler auf die Unterstützung und Begleitung der sie Unterrichtenden angewiesen.
Die sich hier gründenden kooperativen Momente im Erziehungsprozess meinen, dass der Religionsunterricht sich nicht formal als kommunikative Didaktik definiert, sondern den Inhalts- und Beziehungsaspekt in sein Konzept einschließt. Die/der Unterrichtende eröffnet den Schülerinnen und Schülern unter Berücksichtigung ihrer Lebenswirklichkeit Räume, in denen sowohl kollektiv als auch individuell bedeutungsvoll gehandelt wird. Als handelnder Mensch ist der Religionspädagoge im o.g. Sinne verpflichtet, die Fähigkeiten seiner Schüler zu menschlichem Handeln mitzuentfalten. Ein handlungsorientierter Religionsunterricht hat die zentrale Dialektik von Form und Inhalt menschlichen Handelns zu beachten. Er hat die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Formen (Strukturen, Pläne) für ihr Handeln zu entwickeln und Handeln zu ermöglichen. Um ein so verstandenes, auf Zukunft ausgerichtetes Handeln zu konkretisieren, ist zunächst auf den Kontext zu verweisen, in dessen Bedingungsgefüge sich eine so verstandene religionspädagogischen Arbeit im Raum der Schule bewegt.
3. Leben am Rande der Normalität
Es liegt auf der Hand, dass die bereits benannten Umbrüche insbesondere für Jugendliche am Rande der Gesellschaft und im unteren Qualifikationsbereich fast unerträglich Unsicherheiten auslösen.
Sie konkretisieren sich in fünf Thesen, die Gotthilf Gerhard Hiller zur Zukunftsperspektive von Jugendlichen "am Rande der Normalität" gefasst hat und die er als bildungstheoretische Provokation versteht:
Schülerinnen und Schüler am Rande der Normalität "stehen mehrheitlich in Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen, die nur bedingt dazu in der Lage sind, sie an bürgerliche Grundformen einer erfolgreichen Lebensbewältigung heranzuführen und sie darin hinreichend zu stabilisieren." |
Hiermit ist nicht gemeint, dass den Schülerinnen und Schülern wesentliche Formen zur Bewältigung des Lebens in der Familie vorenthalten werden. Im Gegenteil: Sie lernen in den primären Bezugsgruppen in der Regel sehr viel darüber, wie man dem Leben unter erschwerten Bedingungen begegnet. Hier geht es vielmehr darum, dass diese Formen in Schule und Gesellschaft oft in ihrer Bedeutung falsch wahrgenommen, gering geschätzt und mit Negativbegriffen belegt werden. Es wird verkannt, dass diese uns bürgerlich Sozialisierten fremden Formen durchaus effizienter und psychisch stabilisierender sind als die von uns angebotenen Formen. Dieses ist auch bei jenen Religionspädagoginnen und -pädagogen der Fall, die bürgerliche Formen der Ausgestaltung christlichen Glaubens als handlungsleitend für die eigene Arbeit im Religionsunterricht definieren. Gemessen hieran können die Schülerinnen und Schüler nur scheitern. Angemessener wäre zu fragen, woraus die Schüler ihren Mut und ihre Kraft schöpfen (und schöpfen könnten), um den täglich erfahrenen Begrenzungen und Belastungen standzuhalten.
Schülerinnen und Schüler am Rande der Normalität "sind Menschen, die in der Regel häufiger mit Institutionen öffentlicher Kontrolle, Beratung, Hilfe und sozialer Fürsorge in Zwangskontakt kommen." |
Das angestrebte regelmäßige Einkommen, der selbstfinanzierte Wohlstand bleiben häufig Utopie. Stattdessen kommen benachteiligte Schülerinnen und Schüler häufiger als jeder von uns in Zwangskontakte mit staatlichen Institutionen. Hat man Glück, lebt man von Zuwendungen der Familie. In der Regel wird man allerdings zum Klienten der Arbeitsverwaltung oder des Sozialamtes. Dort erscheint man als Bittsteller und es ist vielfach leicht, den Betreffenden aufgrund mangelnder Erfahrungen im Umgang mit einer Bürokratie abzuweisen. Inwieweit eine solche zukünftige Situation im Religionsunterricht zu bedenken ist, bedarf noch einer abschließenden Klärung. Zumindest ist es eine der ureigensten Aufgaben des Religionsunterrichts, die Schwachen vor den Starken zu schützen, sie zu stärken und Ungerechtigkeiten zu wehren. Damit verbunden ist die Entwicklung von Handlungsstrategien, um in diesem Geflecht zu bestehen.
Schülerinnen und Schüler am Rande der Normalität "sind Menschen, die in der Regel ihr künftiges Leben auf einer wirtschaftlich schmalen Basis führen müssen." |
Obwohl Schule dieses weiß, werden die Schülerinnen und Schüler auf eine solche Situation nur unzureichend oder überhaupt nicht vorbereitet. Stattdessen wird vermittelt, dass, wer den Ansprüchen der Hauptschule, der Sonderschule oder des Berufsvorbereitungsjahres im wesentlichen genügt, letztlich eine Arbeit finden oder einen Beruf erlernen und sein Leben mittels seines Einkommens finanzieren kann. Dass dieses in Anbetracht aktueller Arbeitslosenzahlen und der Tatsache, dass selbst Hauptschülerinnen und –schüler eine nur sehr eingeschränkte Attraktivität am Arbeitsmarkt haben immer wieder geschieht, lässt auf eine gewisse Realitätsferne der Schule schließen. Schule kann sich in diesen Fällen nicht präzise genug auf jene kulturellen Kontexte einstellen, aus denen die Schülerinnen und Schüler kommen und in denen sie täglich und zukünftig leben müssen. Angesichts zunehmender Verarmungstendenzen ganzer Bevölkerungsgruppen sehe ich hier wesentliche seelsorgerliche und diakonische Aufgaben, die auf den Religionsunterricht zukommen. Das bedeutet auch, dass der Religionsunterricht dazu beitragen muss, dass die von wirtschaftlichem Mangel auf Dauer Bedrohten befähigt werden, ihre Würde als Mitglieder der Gesellschaft zu entdecken und ihnen die Annahme Gottes zugesprochen wird. Daneben müssen die Rahmenrichtlinien des Religionsunterrichts anderer Schulformen dahingehend überprüft werden, ob sie die Einbindung der sozial Schwachen in die Gesellschaft und den Einsatz für benachteiligte Menschen als ein wesentliches Ziel unterrichtlichen Bemühens herausstellen.
Schülerinnen und Schüler am Rande der Normalität "sind Menschen, die mit dem auf Dauer gestellten Vorwurf leben müssen, selbst an ihrer Lage schuld zu sein." |
Eine zunehmende Anzahl von Menschen wird sich aufgrund minimaler Chancen, in der bürgerlichen Gesellschaft einen Platz zu finden, auf ein Leben in Armut und Isolation einrichten müssen. Damit verbunden sind tiefe Selbstzweifel mit starken psychischen und physischen Folgen. Aggressivität, Krankheit und/oder Depression sind mögliche Reaktionen. Auch hier ist die Religionspädagogik aller Schulformen gefordert und so anzulegen, dass sie Empathie für die Verletzungen derjenigen schafft, die den dominanten kulturellen, ökonomischen und materiellen Normen nicht entsprechen können oder wollen. Damit wird ein Beitrag geleistet gegen die irrige Meinung, fehlende Anpassung- und Leistungsbereitschaft sowie mangelnde Konformität seien in erster Linie als moralisches Versagen zu deuten.
Schülerinnen und Schüler am Rande der Normalität "sind Menschen, die in der Regel aufgrund ihrer geringen sozialen Attraktivität auch auf dem Gebiet der privaten Beziehungen nur sehr eingeschränkte Chancen haben." |
Anstelle einer festen Partnerbeziehung, erleben die Schülerinnen und Schüler vielfach nur häufig wechselnde Bekanntschaften oder auch Abhängigkeitssituationen bis hin zur Hörigkeit. Sie erfahren weder Verlässlichkeit noch Beziehungen, die den Aufbau einer Sinnperspektive ermöglichen. Hier wird es im Religionsunterricht darum gehen müssen, das Problem zum Thema zu machen und zu erörtern, wie die oder der Einzelne ein für andere attraktiver und wichtiger Mensch werden kann. Daneben gilt es, die Schülerinnen und Schüler mit integrationsfähigen Gruppen (Vereine, Kirchengemeinden usw.) in Kontakt zu bringen, in denen sie tragfähige Beziehungen zu Erwachsenen und Jugendlichen aufbauen können.
Die hier aufgezeigten Problemkonstellationen zeigen, dass die Aufgabe des Religionsunterrichts nicht darin bestehen kann, grundlegende Lösungsmodelle zur Veränderung der Lebensmöglichkeiten benachteiligter Schülerinnen und Schüler zu entwickeln und umzusetzen. Sie machen aber ebenso deutlich, dass er sich dieser Entwicklung nicht entziehen kann. Will er nicht unglaubwürdig werden ist er gefordert, die täglich neuen und die alltäglichen Leiderfahrungen seiner Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen, ihnen bei der Verarbeitung derselben zur Seite zu stehen und gemeinsame Handlungspläne für die Abwendung zukünftigen Leids zu entwerfen und die Schülerinnen und Schüler zu begleiten. Damit ist gesagt, das dem Religionsunterricht mit Jugendlichen am Rande zunehmend alltagsbegleitende Funktionen zukommen. Das von Pestalozzi vor 200 Jahren angestrebte Sach- und Strategiewissen zur Daseinssicherung und zur Abwehr psychischen und physischen Ruins, die Techniken zur Bewältigung tagtäglicher Herausforderungen und die Eröffnung einer Zukunftsperspektive gewinnen in diesem Kontext eine kaum zu überbietende Aktualität.
4. Alltagsbegleitung konkret
Besteigen Sie mit mir wieder die Zeitmaschine und lassen Sie uns kurz in die Zukunft, genauer in das Jahr 2001 reisen. Dort treffen wir auf Herrn Sommer, der als Religionslehrer an einer Berufsbildenden Schule in einer norddeutschen Kleinstadt arbeitet. Herr Sommer berichtet, dass er aufgrund zunehmender Probleme im Verhaltensbereich seiner Schüler dazu übergehe, einzelne Schülerinnen und Schüler über den Unterricht hinaus zu begleiten. Inzwischen hat er seine Arbeit in einer BVJ-Dienstbesprechung vorgestellt, und einige Kolleginnen und Kollegen bekundeten dabei ihr Interesse an diesem Ansatz und sagten ihre Unterstützung zu.
Exemplarisch berichtet Herr Sommer von Mike, den er vor etwa einem Jahr im Berufsvorbereitungsjahr kennenlernt. Mike fällt Herrn Sommer im Unterricht durch sein Verhalten in besonderer Weise auf. Er äußert deutliche Aggressionen gegen den Religionsunterricht. So kömmt es zu Beginn des Schuljahres häufig vor, dass Mike sauer auf Gott ist, denn dieser habe ihm ja den "bescheuerten" Religionsunterricht beschert. "Gott verbreitet Bibel und Chaos und in der Schule quatschen sie uns nur Koteletts ans Ohr. ...nun hockt er da und schaut zu, wie wir uns hier davon nerven lassen." Gelegentlich verlässt Mike während des Unterrichts den Raum und geht anschließend nach Hause. Während des Unterrichts kommt es durch Mike immer wieder zu verbalen Angriffen auf die Mitschüler, die häufig in einer Schlägerei enden. Ermahnt Herr Sommer Mike, so äfft dieser ihn nach und ignoriert ihn. In der Klasse sitzt Mike abgesondert von den Mitschülerinnen und -schülern, die sich häufig über ihn beschweren und ihn aufgrund seines oftmals gegen sie gerichteten provokanten und aggressiven Verhaltens ablehnen. Im Unterricht kommt es aber auch immer wieder zu kurzen Phasen, in denen Mike Interesse am Unterricht zeigt. Er liefert dann Unterrichtsbeiträge, indem er Erkenntnisse laut in die Klasse ruft. Das Unterrichten stellt sich allerdings allein aufgrund des Verhaltens von Mike als ausgesprochen schwierig dar.
Wie in jedem Jahr macht Herr Sommer auch zu Beginn dieses Schuljahres eine Klassenfahrt mit seiner BVJ-Religionsklasse. Zuvor besucht er einen Teil der Eltern (den anderen Teil besucht die Klassenlehrerin) zu Hause. Er trifft Mikes Mutter an, mit der er zunächst offene Fragen bezüglich der Klassenfahrt besprechen will. Sie berichtet sehr lange über Mikes Stiefschwester, die ihr sehr viel Freude bereite. Daran anschließend erwähnt sie, dass Mike im großen und ganzen auch keine Schwierigkeiten mache. Sie führt das auf die strenge Erziehung ihres Mannes zurück, der am Wochenende von Montage zurückkomme und sich Mike "dann schon mal vornimmt". Ab und zu erhält Mike vom Vater Schläge, die "dann wieder Ruhe bringen". Mikes Mutter berichtet weiter, dass ihr Mike in solchen Situationen leid täte, sie aber nichts gegen seinen Stiefvater machen könne.
Im weiteren Gespräch berichtet Mikes Mutter, dass Mike während der Woche, wenn ihr Mann zur Arbeit sei, auch schon mal unverschämt wäre. Vor einem Jahr sei er einmal richtig "ausgeflippt". Er habe dann sein Frühstücksgeschirr an die Wand geworfen. Auf Anraten des Arztes habe sie Mike Beruhigungsmittel gegeben, die ihn dann sehr müde gemacht hätten und die sie daraufhin abgesetzt habe. Mikes Mutter berichtet, dass sie zwar Mike ab und zu bestrafe (Stubenarrest), oft aber auch ein Auge zudrücke. Allerdings hoffe sie, dass Mikes aggressives Verhalten nicht wie in den letzten Jahren noch weiter zunehme und ihr dann "über den Kopf" wachse.
Mikes Mutter berichtet weiter, dass Mike am liebsten zu Hause sei und sich mit seinem Computer beschäftige. Richtige Freunde habe er nicht, allerdings kämen ab und zu ein paar Jungen aus seiner früheren Klasse, um Computerspiele mit ihm zu tauschen.
Gegen Ende des Gesprächs kommt Mike nach Hause und setzt sich zu seiner Mutter und zu Herrn Sommer. Herr Sommer berichtet ihm, dass seine Mutter von seiner Computerleidenschaft berichtet habe. Mike nimmt dieses zum Anlass, Herrn Sommer sein Zimmer und vor allem seinen Computer zu zeigen. Da Herr Sommer sich im schulischen Rahmen mit der Thematik "Computer" beschäftigt, kommt es, bevor er geht, zu einem langen Gespräch zwischen Mike und Herrn Sommer. Herr Sommer geht mit einem guten Gefühl nach Hause.
In der kommenden Woche bittet Herr Sommer Mike nach dem Unterricht zu sich. Er fragt ihn, ob er bereit sei, ihm bei der Eingabe eines Computerprogramms zum Thema Entwicklungshilfe zu unterstützen (Herr Sommer hatte dieses Computerprogramm vorher in einer religionspädagogischen Zeitschrift entdeckt). Mike ist ganz irritiert, da er erwartet hat, dass Herr Sommer ihn auf sein Verhalten ansprechen wolle. Er willigt ein, und in den nächsten Wochen geben Herr Sommer und Mike nach Unterrichtsschluss das Programm ein. Langsam entsteht so etwas wie Vertrauen zwischen Mike und Herrn Sommer. Nach und nach bringt Mike seine Lebensdaten ins Spiel, seine Erfahrungen im Elternhaus, in der Schule und seine Zukunftswünsche und -pläne.
Thema: Herkunft
Mike wird am 12. Januar 1984 in Newcastle geboren. Sein Vater ist Engländer, seine Mutter Deutsche. Als Mike sieben Jahre alt ist, stirbt sein Vater, und seine Mutter geht zurück nach Deutschland. Dort lernt sie zwei Jahre später Mikes zukünftigen Stiefvater kennen, der eine fünfjährige Tochter hat. Nach kurzer Zeit heiratet Mikes Mutter, und sie leben gemeinsam in der Nähe einer großen Autofabrik, in der Mikes Stiefvater arbeitet. Dort wird er zwei Jahre später entlassen, und nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit findet er eine Stelle als Montagearbeiter. Nun ist er nur noch am Wochenende zu Hause, was Mike aufgrund häufiger Streitereien begrüßt.
Thema: Schule
Nachdem Mike in England kurze Zeit zur Schule gegangen ist, zieht seine Mutter nach Deutschland und er wechselt dort in die Grundschule. An diese Zeit erinnert sich Mike mit gemischten, oft eindeutig negativen Gefühlen. Ohne jegliche Sprachförderung (er spricht nur Englisch) erlebt er die ersten Jahre in der Schule als erzwungene Aufbewahrung. Seine Überweisung in die Sonderschule sei vorprogrammiert gewesen. Dorthin wird er am Ende der Grundschulzeit aufgrund großer Lese- und Rechtschreibprobleme überwiesen. Seine neue Klasse erlebt er als eine relativ festgefügte Gemeinschaft. Aufgrund von Integrationsproblemen kommt es zu längeren Schulversäumnissen, die Bußgelder nach sich ziehen. Der Vater sperrt ihm daraufhin das Taschengeld, und Mike wird wegen mehrerer kleinerer Ladendiebstähle auffällig. Mit 14 Jahren erhält er zum ersten Mal durch das Jugendgericht eine Arbeitsstrafe, mit 15 seinen ersten Jugendarrest. Von der Sonderschule wird er ohne Abschluss entlassen. Er wechselt zur Erfüllung der Schulpflicht in das Berufsvorbereitungsjahr.
Thema: Ausbildung, Berufsschule und Arbeitsplatz
Der Berufswunsch von Mike ist Kraftfahrzeugmechaniker, aber aufgrund schlechter Schulnoten (und aufgrund schulorganisatorischer Gegebenheiten) wird er in das Berufsvorbereitungsjahr Bau überwiesen. Dort fühlt er sich nicht wohl und versucht, wo es ihm möglich ist, einen Rauswurf zu provozieren.
Thema: Zukunftspläne
Mike träumt von einem Arbeitsplatz in der Autofabrik, in der bereits sein Stiefvater gearbeitet hat. Er weiß von seinem Onkel, dass dort viel Geld verdient wird und hofft, dass er aufgrund der Beziehungen seines Onkels dort einen Arbeitsplatz findet. Herr Sommer sagt Mike zu, ihn bei seiner Arbeitssuche zu unterstützen.
In den folgenden Wochen spricht Herr Sommer mit der Klasse über das Thema Entwicklungshilfe. Dabei kommt auch das von Mike und Herrn Sommer programmierte Computerprogramm zum Einsatz. Herr Sommer teilt dabei die Klasse in zwei Gruppen ein. Mike und Herr Sommer arbeiten mit je einer Gruppe am Computer. Die Klasse ist ganz erstaunt über die Fähigkeiten von Mike. Parallel dazu verbessert sich langsam aber stetig das Verhalten von Mike im Unterricht, und Herr Sommer hat den Eindruck, dass Mike zunehmend von der Klasse akzeptiert wird. Zwar treten die Ausfälle von Mike nach wie vor auf, jedoch haben sie deutlich abgenommen. Während der Klassenfahrt engagiert sich Mike beim Getränkeverkauf und Herr Sommer hat das Gefühl, dass Mike in die Klasse integriert wurde.
Einige Wochen später berichtet Mike Herrn Sommer, dass sie im Deutschunterricht das Schreiben von Bewerbungen durchgesprochen und geübt haben. Herr Sommer vereinbart mit Mike einen Termin, um das weitere Vorgehen in bezug auf Mikes Arbeitssuche durchzusprechen. Am nächsten Tag erscheint Mike mit seiner Deutschmappe, und gemeinsam sprechen Herr Sommer und er über seinen Berufswunsch. Herr Sommer überzeugt Mike davon, dass es nicht sinnvoll sei, sich nur bei dem einen Automobilhersteller zu bewerben. Als weitere Möglichkeiten werden Arbeitsplätze im Bereich der Landmaschinen- und Kfz-Reparatur in Erwägung gezogen. In den nächsten Tagen spricht Herr Sommer mit Kollegen aus der Kfz-Abteilung und erhält eine Liste in Frage kommender Betriebe. Mike ist ganz erstaunt, dass so viele Betriebe in der näheren Umgebung existieren, die seinen beruflichen Interessen entsprechen. Gemeinsam mit Mike setzt Herr Sommer ein Bewerbungsschreiben auf, das Mike mit seinem Computer tippt und mit Hilfe von Herrn Sommer in der Schule (die Schule verfügt über einen besseren Drucker) ausdruckt. Insgesamt schreibt Mike 25 Bewerbungen.
Drei Wochen später wird Mike zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Ein Kfz-Verwertungsdienst sucht einen Arbeiter, der beim Auseinanderbauen von Schrottfahrzeugen mitarbeitet. Mike ist ganz glücklich, und gemeinsam mit Herrn Sommer probt er das Verhalten im Bewerbungsgespräch. Einige Tage später ruft Mike abends an und berichtet, dass es mit dem Arbeitsplatz nicht geklappt habe. Er wirkt sehr deprimiert und Herr Sommer hat den Eindruck, dass er angetrunken sei. Am nächsten Tag trifft Herr Sommer Mike nach Unterrichtsschluss und schlägt ihm vor, eine Jugendwerkstatt aufzusuchen. Mike ist einverstanden, und gemeinsam besichtigen Mike und Herr Sommer die Jugendwerkstatt des Kirchenkreises. Mike erhält einen Eindruck von den dort vorhandenen Möglichkeiten und der Leiter der Werkstatt sagt ihm zu, dass er nach Abschluss des Berufsvorbereitungsjahres dort willkommen sei und in der Schlosserei mitarbeiten könne.
Drei Monate später hat Mike das Berufsvorbereitungsjahr mit einem durchschnittlichen Zeugnis verlassen und arbeitet seit einem halben Jahr in der Jugendwerkstatt. Der Kontakt zu Herrn Sommer besteht nach wie vor, und Herr Sommer bemüht sich weiterhin, Mike bei der Arbeitsplatzsuche behilflich zu sein.
5. Konzeptionelle Nachgedanken
Im weiteren Gespräch stellt Herr Sommer sein Konzept der Alltagsbegleitung vor. Er betont, dass diese Arbeit über das, was der Religionsunterricht traditionellerweise in seinem Aufgabenspektrum vorfindet, hinausgehe. Dabei geht er davon aus, dass benachteiligte Jugendlichen ihr Verhalten deshalb zeigen, weil ihnen in ihrer Biographie und in ihrer aktuellen Situation erhebliches Leid zugefügt wurde und wird. Um dieser Situation angemessen zu begegnen, reicht Unterricht allein nicht aus. Allerdings habe er wesentliche flankierende Funktionen. Herr Sommer hat in der Klasse von Mike Möglichkeiten eines adäquaten Umgangs mit Aggressivität erarbeitet und mit Hilfe des Sportkollegens erprobt. Weiterhin standen Themen wie "Die Frage nach dem Sinn", "Warum lässt Gott das Leid zu?", "Der Wert des Menschen", "Liebe und Partnerschaft", "Umgang mit Schwachen" und "Tod" im Mittelpunkt des Religionsunterrichts. Daneben ergab sich in vielen Fällen eine Thematik aus Gesprächen zu aktuellen Fragen und Anlässen. Ausgangspunkt war immer der Erfahrungshintergrund der Schülerinnen und Schüler, Ziel die Entwicklung von Handlungsplänen, die lebensrelevante Konsequenzen aus der biblischen Botschaft ableiten. Wichtig war Herrn Sommer auch der Besuch einer Kirchengemeinde, einer Arbeitsloseninitiative und eines Freizeitzentrums. Selten hat er seine Schüler so unbefangen erlebt wie in den vor Ort geführten Gesprächen.
Allerdings gilt, dass neben dem Religionsunterricht ein Einmischen in das Leben einzelner Schüler unerlässlich ist. Damit sind vor allem Schüler gemeint, die mit dem eigenen Unvermögen und dem ihrer Umgebung sowie den Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht zurechtkommen und die deshalb in die Gefahr einer Lebenskrise geraten. "Einmischungen in das Leben von Jugendlichen, das meint: ihnen beistehen in Situationen, die aussichtslos erscheinen; mit ihnen zusammen Hürden nehmen, an denen sie zu scheitern drohen; gemeinsam Dinge in Ordnung bringen, die schiefgelaufen sind; da sein, wenn sonst niemand da ist; mitgehen, wo allein nichts auszurichten ist; sich mitfreuen, wenn es doch noch klappt; dabei sein, wenn es brenzlig wird; heraushören, was nicht so einfach zu sagen ist; abwarten und nachgehen, raten und handeln; zeigen, wo es weitergehen kann, auch wenn es sich alles nicht mehr zu lohnen scheint; Druck machen, falls nötig; abpuffern, wenn es zuviel wird; merken, was abgeht; vorwarnen, wenn Schwierigkeiten unterschätzt werden; sich mal wieder melden, wenn man schon lange nichts mehr voneinander gehört hat; sich freuen, wenn es (wieder) gut läuft; Widerstand bieten, wo andere längst aufgegeben haben; Kritik üben, wenn niemand sonst sich traut; Highlights und Action inszenieren gegen Alltagsgrau und Langeweile."
Mit diesem langen Zitat wird der Gesamtumfang des Aufgabenfeldes verdeutlicht. Es geht darum zu prüfen, inwieweit Erwachsene und ältere Menschen - das sind sowohl aktive Lehrerinnen und Lehrer als auch ausdrücklich "engagierte Laien" - insofern für junge Menschen "jugendtauglich" und attraktiv werden können, als sie für diese als Ansprechpartner, Sachverwalter und Beistand "komplizenhaft" in schwierigen und geschädigten Situationen zum Anwalt werden. Herr Sommer hat dabei für sich festgestellt, dass es darauf ankäme, das er dazu in Kontakt zu Expertinnen und Experten treten müsse, die sich in der Jugend- und Sozialhilfegesetzgebung auskennen, die als Schuldnerberater, Ärztinnen, Therapeuten, Juristinnen, Bankkaufleute, Steuerberaterinnen oder auch Theologen tätig sind oder Kontakte zu Personen der genannten Berufsgruppen haben. Als Zielperspektive hat sich Herr Sommer die Schaffung eines Netzwerkes gesetzt, das sich aus Menschen der genannten Berufsgruppen zusammensetzt und in dem diese sich bereit erklären, ihre Dienste ggf. auch außerhalb der üblichen Bürozeiten den Betreuten möglichst kostenlos zur Verfügung zu stellen. Dabei ist es ihm selbstverständlich, dass auch Regionalpolitikerinnen und –politiker sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zuständigen Jugend-, Arbeits-, Sozial- und Ausländerverwaltung in dieses Netzwerk einzubinden sind. Diese Utopie entwickelte Herr Sommer, weil es ihm wichtig scheint, dass Angehörige verschiedener Professionen mit meist sehr unterschiedlichem sozialen und kulturellen Hintergrund bewusst und gegenseitig aufeinander einwirken. Ziel dieses alters- und professionsheterogenen Netzwerkes ist die Institutionalisierung verlässlicher Kontakte jenseits von Familie, Verwandtschaft und Clique.
"Alltagsbegleitung benachteiligter junger Menschen, inszeniert als Komplizenschaft auf Zeit, ließe sich somit begreifen als durchaus im professionellen wie privaten Interesse derer begründet, die sich im pädagogischen Feld der fundamentalistischen Versuchung erwehren, und den Herausforderungen der Moderne stellen wollen." Von besonderer Wichtigkeit für das Gelingen einer Alltagsbegleitung ist, dass Begleiterinnen und Begleiter, die als Problemlage erkannten Umstände gemeinsam einer Lösung näher bringen. Lösungsversuchen und -strategien der oder des Betreuten kommen dabei erste Priorität zu.
Die zu betreuenden jungen Menschen befinden sich bereits in einer sich generalisierenden Lebenskrise, deren Auswirkungen alleine im Religionsunterricht nicht aufzuarbeiten sind. Die frühen Brüche in ihrer Schul-, Ausbildungs- und Lebenskarriere bedürfen "eine zuverlässige Begleitung in Halbdistanz durch Vertrauenspersonen mit Sach- und Strategiewissen, mit guten Einfällen und Kontakten, mit Durchhaltevermögen trotz erweiterter Enttäuschungen und Rückschläge. Dass man sich freiwillig aufeinander einzulassen bereit war, begründet wechselseitigen Respekt und schafft bei aller Abhängigkeit beiderseits wesentlich größere Spielräume für die inhaltliche Ausgestaltung und Intensität der Zusammenarbeit."
Alltagsbegleitung kann für Herrn Sommer den Religionsunterricht nicht ersetzen. Allerdings ist sie geeignet, dass die Worte des Evangeliums nicht ohne Konsequenz bleiben und in einer Zeit der zunehmenden Ausweglosigkeiten, Momente der Hoffnung inszeniert werden. Herrn Sommer ist dabei bewusst, dass er allein nicht allen benachteiligten Jugendlichen in der gleichen Weise zu einem "solidarischen Komplizen" werden kann – aber sollte er es deshalb ganz lassen?
Literatur
- Baur, W.; Storz, M.: Von der Schule ins Absits? (Aus-)Bildungschancen für Modernisierungsverlierer. In: Loccumer Pelikan 2/2000
- Blandow, J.: Über Erziehungshilfekarrieren. Stricke und Fallen der postmodernen Jugendhilfe. In: Gintzel, U.; Jordan, E. u.a. (Hg.): Jahrbuch für soziale Arbeit. Münster 1997
- Fragner, J.: Pädagogik der Vielfalt. unveröffentlichtes Manuskript. 1997
- Freire, P.: Pädagogik der Unterdrückten. Hamburg 1977
- Friedemann, H.-J., Schröder, J.: Von der Schule ... ins Abseits? Untersuchungen zur beruflichen Eingliederung benachteiligter Jugendlicher. Langenau-Ulm 2000
- Hiller, G.G.: Ausbruch aus dem Bildungskeller - Pädagogische Provokationen. 2. Auflage. Langenau-Ulm 1991
- Hiller, G.G.: Vom hilflosen Helfer zum kompetenten Komplizen - Zur Befreiung pädagogischer Verhältnisse aus fundamentalistischer Ideologie. In: Schroeder, J.; Storz, M. (Hg.): Einmischungen - Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Langenau-Ulm 1994
- Hiller, G.G., Schroeder, J.: Alltagsbegleiter für Benachteiligte - Aufgaben und Chancen der Volksbildung in der modernen Gesellschaft. In: Schroeder, J.; Storz, M. (Hg.): Einmischungen - Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Langenau-Ulm 1994
- Jetter, K: Auf dem Weg zu einer kooperativen Pädagogik. In: Schönberger, F., Jetter, K., Praschak, W.: Bausteine zu einer kooperativen Pädagogik. Teil 1. Stadthagen 1987
- Mack, W. (Hg): Hauptschule als Jugendschule - Beiträge zur pädagogischen Reform der Hauptschule in sozialen Brennpunkten. Ludwigsburg 1995.
- Pestalozzi, J.H.: Übersicht der Fundamente der Volksbildung. in: Lienhard und Gertrud, 2. Fassung, 3. Teil /1790/92). In: Sämtliche Werke (KA), Berlin und Leipzig 1927ff., Band 4
- Rose, Barbara: Flexibel organisierte Ortserziehungshilfen: Ein Konzept und seine Risiken. Oder: Vom Lob des Patchworking. In: Klatetzki, T. (Hg.): Flexible Erziehungshilfen. Ein Organisationskonzept in der Diskussion. Münster 1995
- Schönberger, F.: Kooperative Didaktik - Unterrichtslehre einer handlungsorientierten Sonderpädagogik. In: Schönberger, F.: Kooperative Didaktik. Stadthagen 1987
- Schroeder, J.; Storz, M. (Hg.): Einmischungen - Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Langenau-Ulm 1994
- Stark, W. (Hg.): Lernschwächere Jugendliche im Übergang zum Beruf. Stuttgart 1997