I |
Gott kann nicht definiert werden - alle uns heute hypertroph anmutenden Versuche, Gott durch eine menschliche Vernunftanstrengung zu beweisen, finden in diesem Grundsatz ihre Grenze, den sich die mittelalterliche Metaphysik von der Theologie vorschreiben ließ. Am Beginn der Neuzeit vollzieht sich eine alle Denkperspektiven umwälzende Verschiebung: das Prädikat der Nichtdefinierbarkeit wird auf den Menschen übertragen. (Vgl. Jüngel 3/4/7f.). Der Mensch entzieht sich fortan nicht nur der Feststellbarkeit, er wird nicht nur zum homo absconditus (vielleicht eine besonders sublime Form der Selbstbehauptung des gottlosen Menschen), sondern der Mensch wird sich selbst zur schöpferischen Aufgabe. Selbstverwirklichung wird ein Programm der Menschheit. dass davon heute nur noch ein individueller Emanzipationsanspruch übrig bleibt, zuweilen gar nur eine Freizeitbeschäftigung, ist auch ein Symptom für den Niedergang neuzeitlicher Verheißungen.
“Wir stoßen hier auf ein von dunkler Erhabenheit umhülltes Rätsel”: der Mensch “vermag zu sein, was er begehrt”. Pico della Mirandola reflektiert die Schöpfungsgeschichte - und blendet den Sündenfall aus (Ringshausen 98). Sein Text bietet eine Fülle von Anklängen an künftige anthropologische Entwürfe: die “Weltoffenheit” des Menschen, der “nicht trieb- und umweltgebunden” ist (Scheler); der Mensch als “das nicht festgestellte Tier” (Nietzsche/Gehlen); die “exzentrische Position” des Menschen (Plessner). Die Menschwerdung rückt bei Mirandola vor das Menschsein. Menschsein wird seither fast nur noch in Kategorien des Werdens denk- und beschreibbar. Der neuzeitliche Fortschrittsgedanke ist nicht etwa vorrangig an den unendlich evolvierenden wissenschaftlich-technischen Komplex gebunden, sondern bezieht sein Pathos in erster Linie aus einer humanistischen Perfektibilitätsutopie. Freilich sind in der Aufklärung selbstkritische Stimmen von Anfang an vernehmbar.
Kein Wunder, dass gerade Kant, der der menschlichen Vernunft kritisch die Grenzen aufwies, nüchtern darauf insistierte, der Mensch sei aus “krummem Holz” geschnitzt. Und so kann Hannah Arendt ganz zu Recht unter Berufung auf Kant bemerken, dass “gerade die Idee des Fortschritts - wenn dieser mehr sein soll als eine bloße Veränderung der Verhältnisse und eine Verbesserung der Welt - dem Begriff der Menschenwürde (widerspricht).” (Arendt 226). Die Menschenwürde bleibt nur geachtet, wenn der Mensch (im Singular) seinen Zweck in sich selbst hat, und wenn er nicht als Mittel für außer ihm liegende Zwecke gilt. Marx' in die Zukunft projiziertes emanzipiertes Gattungssubjekt gibt ebenso wie der von Nietzsche verkündigte Übermensch Zweckbestimmungen vor, wonach je gegenwärtiges menschliches Leben nur beurteilbar bleibt im Hinblick auf seine Kettengliedfunktion für eine Zukunft, die ihre Opfer erheischte und erheischt. Prinzipiell kann auch das naturgeschichtliche Fortschrittsparadigma Darwins, das die Vergangenheit erhellen soll, keinen Grund angeben, warum wir gegenwärtigen Menschen für künftige Geschlechter etwas anderes sein sollen als die ins Vergessen abgesunkenen Sedimente vergangenen menschlichen Lebens: ein Wellengekräusel auf der Oberfläche der Evolution.
Wir heute können freilich deutlicher als einige selbstkritische Stimmen im großen Chor der Aufklärung die Einsicht artikulieren, dass der Mensch mit seiner projektiven Selbstvergöttlichung zugleich seine Sterbeglocke läutet. “Es zählt zu den Paradoxien, dass der Mensch dort, wo er immer neue anthropologische Tempel mit seinem Bilde errichtet, zugleich den humanen Ausverkauf betreibt und seinen Untergang vorbereitet.” (Baden 668). In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, nach der Erfindung der Massenvernichtungswaffen und nach der Entdeckung des Ozonlochs, nach dem Zusammenbruch der real-existierenden Menschheitsutopien - vor allem aber: nach Auschwitz - kann man nicht mehr unschuldig von Humanismus reden.
Am Ende seiner eigenen Idolatrien kann der moderne Mensch unverstellt sehen, welche kleinsten Schritte von Macht zu Ohnmacht führen, vom Triumph zur Selbstlähmung, vom moralischen Handlungsanspruch in die Verstrickung des Bösen; wie die moderne Wissenschaft, indem sie Wissen erzeugt, immer mehr Unwissen erzeugt. Das können wir heute retrospektiv mit Blick auf die Geschichte der Neuzeit als der Geschichte der sich selbst aufspreizenden autonomen Vernunft - der “Dialektik der Aufklärung” (Adorno/Horkheimer) - wissen.
Die Protestanten kommen in dieser Situation nicht darum herum, sich auf die Einsichten Luthers zurückzubesinnen, der vom Wort Gottes ein skeptisches Licht auf den Menschen fallen sieht - ohne deshalb den menschenfreundlichen Blick, mit dem sich Gott zu uns herabneigt, zu übersehen. Luthers Sicht des Menschen liegt quer zu allen neuzeitlichen anthropologischen Formulierungen: “Paulus gibt eine kurzgefasste Definition des Menschen, indem er sagt, der Mensch werde durch den Glauben gerechtfertigt.” (Disputatio de homine, WA 39/I, 176). Welche Plausibilitätschance gewinnt Luthers Rechtfertigungslehre heute dadurch hinzu, dass sie für die Ernüchterungen, für die Entzauberungen humanistischer Idolatrien Verständhorizonte aufspannt, die zugleich den nihilistischen Fall ins Bodenlose auffangen!
Luthers prognostische Gedankenkraft muss gar nicht mystifiziert werden. Seine theologische Einsicht in die Bedürftigkeit des Menschen kann die Hypertrophien der Neuzeit deshalb aufhellen, weil er den geheimen cantus firmus menschlicher Selbstbehauptung generell hörbar macht. Nicht erst in der Moderne stapelt sich, systematisiert bei Feuerbach, die Anthropologie zur Theologie hoch. Auf diese Weise entfaltet sich laut Luther vielmehr schon immer die condition humaine bis zur Kenntlichkeit: “Der Mensch kann natürlicherweise nicht wollen, dass Gott Gott ist, vielmehr will er, dass er Gott ist und dass Gott nicht Gott ist.” (Disputatio contra scholasticam theologiam, WA I,225).
Daraus ist die Bestreitung der Göttlichkeit des Menschen als zentrale Aufgabe theologischer Anthropologie zu folgern. Am deutlichsten findet eine so verstandene theologische Anthropologie ihren kritischen Gegenpart in der Tat bei Feuerbach, der beansprucht, Gott als menschliche Projektion durchschaubar gemacht zu haben. Feuerbach blendet damit seine Reprojektion aus, mit der er die Prädikate Gottes (Unendlichkeit, Allgegenwart, Allmacht, Vollkommenheit) der Menschheit beimisst. Freilich: insofern Feuerbach nicht nur die Theologie in Anthropologie auflöst und damit (vice versa) den Menschen vergöttlicht, sondern auch religionskritisch die Selbstvergöttlichung des Menschen aufdeckt, findet die protestantische Theologie nach dem ersten Weltkrieg bei ihm ein Hauptthema. Karl Barths Richtungsbestimmung, wonach das Wort Gottes “senkrecht von oben” einschlägt, deckt mit Feuerbach die humanistischen Projektionen und Selbstgerechtigkeiten des bürgerlichen Kulturprotestantismus auf. Der kulturprotestantische Gott gerät zu Recht in den Verdacht, reiner Anthropomorphismus zu sein, projektive Verhimmelung des Humanen.
Ich möchte an dieser Stelle eine zeitdiagnostische Bemerkung zur innertheologischen Situation formulieren, die vielleicht der jüngeren Theologengeneration trivial erscheint, die aber für die in den 50er und 60er Jahren in Unterricht und Studium an das theologische Denken herangeführten Pastoren und Lehrer noch genügend Brisanz besitzt: die wechselseitigen Anwürfe zwischen - plakativ gesprochen - Troeltschianern und Barthianern (“Offenbarungspositivismus vs. “Anthropologisierung der Theologie”) machen blind für die radikale Veränderung der
geistesgeschichtlichen resp. soziokulturellen Problemlage, auf die sich theologische Denkbemühungen heute einzustellen haben. Heute ist nicht ein kulturprotestantischer Optimismus , sondern ein zivilisations- und kulturkritischer Pessimismus die Hintergrundfolie für das theologische Nachdenken wie für die Verkündigung des Evangeliums. Heute ist nicht nur die Leugnung Gottes, sondern die Leugnung des Menschen als Person - als Geschöpf und Ebenbild Gottes - der wirkmächtigste Einspruch gegen den christlichen Glauben. Nicht länger die Selbstbehauptung des Menschen, deren Krisis wir gegenwärtig erleben, sondern die sich immer stärker abzeichnende entmutigte Subjektmüdigkeit verfinstert die Zukunft.
Der emphatische, humanistisch verklärte “Machtbarkeitswahn”, der aus den immensen Verfügungszuwächsen, den grandiosen Möglichkeitsgewinnen der Moderne inspiriert wurde, hat sich von allen optimistischen geschichtsphilosophischen Weltanschauungen abgelöst. Jedoch lebt dieser Machbarkeitswahn dennoch weiter - entweder zynisch oder blind: z.B. als “Sachzwang”. Er schlägt gegen den Menschen, der sich selbst machen zu können glaubt und sich damit als Menschen in Frage stellt, zurück: die größte Allmacht - man denke nur an die schwindelerregenden Projekte der Gentechnologie - reißt Abgründe der tiefsten Dehumanisierung auf. Schließlich wird - um eine Formulierung Robert Spaemanns aufzugreifen - der Mensch sich selbst zum Anthropomorphismus.
II |
Die funktionalistischen Symstemtheorien versuchen, alle wissenschaftlichen Modelle vom Menschen, die bislang in biologische und soziologische Frageperspektiven ausdifferenziert waren, unter ein einheitliches Paradigma zu zwingen. Bei diesem Unternehmen wird die seit einiger Zeit zu beobachtende Nietzsche-Renaissance vielleicht nicht auf den ersten Blick ähnlich deutlich wie bei der Lektüre französischer “Poststrukturalisten”. Das liegt wohl aber eher am szientistischen Duktus dieser Theorien als an ihrem Inhalt. Ein kleiner gedanklicher Umweg kann hier weiterhelfen. Die radikale Perspektivität Nietzsches, der alles Denken und Sprechen unter Ideologieverdacht stellt, macht es unmöglich, menschliches Denken und Sprechen verantwortlichen Subjekten zuzuschreiben und zugleich an intersubjektiven Gültigkeitskriterien zu messen. Insofern unterliegt Nietzsche, sobald er denkt und spricht, einem performativen Selbstwiderspruch, denn seine - zumal seine publizierten - Worte wären ja, auch in der Verkündigerpose, ohne Verständigungsabsicht sinnlos. Dieser performative Selbstwiderspruch liegt prinzipiell ebenso vor, wenn eine Mutter, die sich nach Dawkins als “Maschine zur optimalen Ausbreitung ihrer Gene” (kann man sagen?:) “zu verstehen” hat, ihre liebevolle Zuwendung zu ihrem Kinde reflektiert oder thematisiert - oder wenn Dawkins diese Mutter - womöglich seine eigene - über die Qualität ihres Fühlens, Denkens und Handelns aufklärt. Ein Menschenbild, das einer allenfalls etwas komplexeren Version des Pawlowschen Reflexes ähnelt, ist 1992 immerhin für nobelpreiswürdig erachtet worden: Die rigorose Reduktion des Menschen auf ein Wesen, das ausschließlich der Rationalität des individuellen Nutzenkalküls folgt, war in der neoklassischen Wirtschaftstheorie zwar schon länger üblich. Der Ökonom Gary S. Becker generalisiert diese Sicht des homo oeconomicus nun zu einer allgemeinen Handlungstheorie, die auf Fragen nach Moralität mit Verständnislosigkeit reagiert. Wenn aber der Altruist als ein besonders raffinierter Egoist zu gelten hat, streicht sich nicht nur der Begriff des Altruismus selbst aus. Jede Reflexion auf Motive, auf Interessen und Normen, die ein selbstbewusstes Subjekt unterstellt - also mehr als ein Computerprogramm für Nutzenoptimierung wäre - erschiene dann in handlungspraktischer Hinsicht absurd.
Nietzsche ist dem gerade formulierten Einwand bekanntlich damit begegnet, dass er alle Geltungsansprüche von der Vernunft abkoppelte und auf Kriterien des Geschmacks und des Adels (d.h. des genealogisch Ursprünglichen) übertrug. Zugleich reklamierte er ein Erkenntnisprivileg für die exzentrische Außenseiterperspektive am Rande des Wahnsinns. Wie wenig diese Denkoperationen aus dem Dilemma herausführen, lässt sich nicht zuletzt an dem oben auszugsweise zitierten berühmten Text ablesen. Im tollen Menschen, der am helllichten Tag mit der Laterne herumläuft, um den Tod Gottes zu verkünden, spricht doch wohl unmittelbar und jenseits aller literarischen Stilisierungen Nietzsche selbst zu uns. Die Trauer über den Tod Gottes, die in Nietzsches Text hinter dem Erschrecken kaum verborgen bleibt, scheint mit dem Wissen zu tun zu haben, dass die Frage “wohin ist Gott?” sofort die Frage “wohin ist der Mensch?” nach sich zieht. “Nietzsche enttarnt mit seinen Überlegungen die Naivität der modernen Religionskritik, die da meinte, mit Preisgabe des Gottesgedankens die Macht und die Größe des modernen Subjekts überhaupt erst freisetzen zu können. Hellsichtig stellt er den Konnex her zwischen dem Tod Gottes und dem Tod jenes Menschen, den die europäische Moderne noch unbeschädigt unterstellen und mit ihren Freiheits- und Mündigkeitsidealen ausstatten konnte. Er spricht... selbst schon vom Tod des Subjekts, er hält das Subjekt für eine bloße 'Fiktion' und die Rede vom 'Ich' für einen Anthropomorphismus. Er beschreibt schon den Zerfall der wahrheitssuchenden Sprache im Taumel der Metaphern und der subjektlosen Diskurse. Er prophezeit und fordert das Ende des normativ-moralischen Bewusstseins in einem Leben 'jenseits von Gut und Böse', in dem der Nachfolger des Menschen, der überhöhte Mensch, nichts anderes ist als das unendliche Experiment seiner selbst.” (Metz 318f.).
Nietzsche spielt im Bild der von der Sonne losgeketteten Erde wohl auf das Kantsche Diktum von der “Kopernikanischen Wende” an: die Entdeckung der Subjektivität als dem Zentralprinzip neuzeitlichen Denkens. Gerhard Sauter bemerkt zu dieser Metaphorik Kants: “Ginge es nur um die Ortsbestimmung des Menschen, dann wäre die Konzentration auf die Subjektivität eher der Weltsicht des Ptolemäus zu vergleichen. Aber die Metapher umfasst beides: die Versammlung der Welt um den Standpunkt des Menschen und dessen Zerstreuung.” (Sauter 74). Die Konsequenzen des Sachverhalts, dass in der Neuzeit alle Wirklichkeitserkenntnis durch das Nadelöhr der Subjektivität gezwängt wird (m.a.W.: ontologischem Denken der Boden entzogen wird), lässt sich auch in einer anderen Metapher verdeutlichen: der Mensch verstrickt sich mit der Frage nach sich selbst - wenn er sie ohne Gott stellt - in einen Zirkel: er ist sowohl Subjekt als auch Objekt anthropologischen Forschens. Zum Fragenden, der nach sich selbst fragt, “gehört... auch die Frage nach dem Grund (nach dem Warum) dieses seines Fragens und Fragen-Könnens: der Mensch fragt, warum er fragt bzw. fragen kann; und dieses Fragen nach dem Warum seines Fragens ist aber selbst wieder ein Fragen; er fragt, warum und inwiefern er nach seinem Fragen - Können fragt.” (Haag 14).
Anthropologisches Fragen mündet in einen - wie die Philosophen sagen - “infiniten Regress”. Es gibt keine festen Punkte als Ausgangsbasis für ein gesichertes Wissen vom Menschen, keine außerhalb des Menschen liegende Erkenntnisquelle, aus der er sich (wissenschaftlich) über sich selbst belehren könnte, keinen gleichsam extraterrestrischen Beobachtungsposten, der nicht wiederum in die Beobachtung einzuschließen wäre. Kurzum: “'Tatsachenfeststellungen' können auf die Frage 'was ist der Mensch?' oder 'wer bin ich?' keine zureichenden Antworten sein.” (ebd).
Das Problemzentrum wissenschaftlicher Anthropologie konvergiert an diesem Punkt mit dem Problemzentrum der neuzeitlichen, auf Subjektivität gegründeten Philosophie. Das Zerrissenheitsleid, mit dem sich ein weltgenerierendes Selbstbewusstsein belastet fühlen muss, findet am Rande der neuzeitlichen Philosophie bezeichnenderweise kaum begrifflich-systematischen, sondern literarisch-dichterischen Ausdruck - der bei Hölderlin in Sprachverlust und Verwirrung endete, längst ehe der Sprachverlust etwa durch Hofmannsthals word chandos literarisch reflektiert wurde. Das Selbstbewusstsein erfährt sich doppelt: als ein die Welt umschließendes Subjekt, das sich nicht mehr wie ein Ding in der Welt bestimmen kann, und als Person, als ein endlicher Mensch unter anderen. Aus der Perspektive der Subjektivität bleibt dem Menschen Personalität, der Fakt also, gerade diese eine Person zu sein, zufällig. Die Selbsterfahrungen als Person und als Subjekt sind gegenläufig. Die Besonderheit des Einzelnen besteht gerade darin, dass ihm Selbstbewusstsein zukommt und er sich somit nicht vollständig mit der Kategorie der Einzelheit erfassen kann. Aber “wir verstehen uns gleichursprünglich als Einer unter den Anderen und als der Eine gegenüber der ganzen Welt.” (Henrich).
Es ist undenkbar, dass der Zusammenhang, unter dessen Voraussetzungen Selbstbewusstsein entsteht, als seine eigene Leistung durchsichtig gemacht werden kann. Selbstbewusstsein kann weder erschöpfend als Selbstreflexion gedacht werden, noch lässt es sich - weil Subjektivität vorgeblich allein um den Preis der Objektivierung der äußeren wie der eigenen inneren Natur möglich ist - durch das Prinzip der Intersubjektivität vollständig ablösen. Den Zwiespalt, dass das Selbstbewusstsein “unhintergehbar, aber nicht undifferenziert” ist (Frank), deutete Hölderlin als “Sein aus unverfügbarem Grunde”, dem eine Grundstimmung des Dankes antwortet. Selbstgenügsam lässt sich unsere Beziehung zu uns selbst schon deshalb nicht erfassen, weil “Selbstbewusstsein nur als eine Wirklichkeit eintreten”, aber “nicht zur Wirklichkeit gebracht werden kann”. (Henrich). Unüberbietbar klar formuliert Hölderlin die philosophische Aporie in der Vorrede seines “Hyperion-Romans”: “Man wird sich vielleicht ärgern an diesem Hyperion... aber es muss ja Ärgernis kommen. - Wir durchlaufen eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung. Die selige Einigkeit, im einzigen Sinn des Wortes, ist für uns verloren und wir mussten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen wollten. Wir reißen uns los vom friedlichen hen kai pan der Welt, um es herzustellen, durch uns selbst. Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jetzt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir Alles und die Welt Nichts...”
Kaum, dass der Mensch dem Geheimnis Gottes ein Ende gemacht hat und sich selbst “jene Unbegrenztheit zuschreibt, die die metaphysische Tradition Gott vorbehalten hatte”, wird er sich selbst zum unauflöslichen Rätsel. (Jüngel 347f.). Aus der Not wird bei einem Teil der Gegenwartsphilosophie eine fragwürdige Tugend. Die Unmöglichkeit einer abschließenden Bestimmung des Menschen wird ersetzt durch die Bestimmung des Menschen als radikale Fraglichkeit: indem die Nichtdefinierbarkeit des Menschen behauptet wird, wird sie doch zugleich preisgegeben. Denn dem Zwang zur Objektivierung, zur “Feststellung” des Menschen bleibt nichts entgegenzusetzen als eine leere existentialistische Gebärde.
An dieser Stelle lässt sich die Aufgabe der theologischen Anthropologie präzisieren: der Behauptung, der Mensch sei eine Frage, auf die wir die Antwort nicht kennen, hat sie mit der Aussage zu begegnen: der Mensch ist eine Antwort, zu der wir die Frage (noch) nicht ausreichend kennen. (A.a.O. 349). Von Christus her ist der Mensch definiert - und offen zugleich. Nur aus dieser Sicht ist der Mensch - um mit Hölderlins Hyperion zu reden - weder “alles” (III), noch “nichts” (IV). Und nur diese narzisstische “Alles - oder Nichts” - Attitüde mündet zwangsläufig in jener Erschöpfung der Subjekt-Energien, die vor unseren Augen zur Abdankung des Menschen als urteilsfähiges, mit Personalität begabtes Wesen führt.
III |
IV
(Aus: K.F.Haag, Bausteine für eine christliche Anthropologie, S. 108f.) |
V. |
VI. |
Der Mensch versucht, sich selbst allmächtig zu machen und macht sich dabei zum Gegenstand - in unserer Gegenwart, so lässt sich resümieren, verschränken sich diese beiden Tendenzen der Moderne zu einer breiten Strömung der Subjektmüdigkeit. Diese bleibt nicht auf philosophische Seminare, auf literarische Zirkel und auf die Feuilletons beschränkt. Sie färbt nicht nur die Oberflächenstrukturen der Modewellen ein, sondern dringt zunehmend auch in die Tiefenschichten des Zeitgeistes vor. Und die reale Erfahrung mit den großen gesellschaftlichen Automatismen, den eigendynamischen Selbstzwecken von Markt und Macht, an denen alles individuelle Handeln abzuprallen scheint, sichert dem Zeitgeist ein festes materielles Motivationsfundament. Verschiedene Versionen “ganzheitlichen” Denkens oder Fühlens, in denen der Mensch konsequent als Systemteil unter Systemteilen codiert, als Faser ins Gewebe ökologischer Netze verwoben oder gar mit dem Bewusstseinsstrom des kosmischen Geistes verschmolzen wird - all diese Versionen versöhnen, gleich ob resignativ oder verklärend, mit dem Gedanken einer Selbstpreisgabe des Menschen. “Kalte” (szientistische, funktionalistisch - systemtheoretische) Konzepte unterscheiden sich bei genauerem Hinsehen nur habituell, v.a. im kognitiven Stil, von den als kulturelles Massenphänomen erfolgreichen “warmen” Versionen z.B. des “New Age”. Vor allem aber verwirbelt die bunte Alltagskultur die Restbestände des humanistischen Religionsersatzes und entmystifiziert dabei zugleich das dionysische Selbstmissverständnis Nietzsches: die “dionysisch gestimmte Selbstverwirklichung des europäischen Geistes ist nicht unbedingt utopisch; ihre trivialste Verwirklichung ist nahe liegend: der Mensch als sanft funktionierende Maschine, als zur Maschine erstarrte Rhapsodie der Unschuld.” (Metz 318).
Ich will nun versuchen, die Aufgaben der Religionspädagogik in anthropologischer Hinsicht etwas genauer in den Blick zu nehmen.
Im Anschluss an Jüngel habe ich oben die spezifische anthropologische Fragestellung der Theologie im Kontrast zu den Fragestellungen wissenschaftlicher bzw. philosophischer Anthropologie formuliert. Wenn die sozialkulturelle Situationsanalyse, die ich skizziert habe, auch nur annähernd stimmt, müsste es ohne Verzicht auf das Proprium theologischen Fragens möglich sein, Anschluss an die kritische, zeitdiagnostische Kraft eines etwa an Plessner geschulten anthropologischen Denkens zu gewinnen. Im Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ist gewissermaßen die Plausibilitätsgrenze, die den christlichen Glauben von der Suggestionskraft des Zeitgeistes trennt, so weit, wie es ohne die Verletzung des Geheimnisses Gottes geht, auf das Terrain argumentierender Vernunft vorzuschieben. Ein Programmbegriff wie “natürliche Theologie” ist für diese Aufgabenbeschreibung wahrscheinlich missverständlich und zu ambitioniert. So weit natürliche Theologie sich aber apologetisch verstand und nicht auch die Offenbarungsquelle mit Vernunftmitteln ausleuchten wollte, ist ihre Motivlage mit den Explikationsanstrengungen vergleichbar, mit denen die Religionspädagogik den christlichen Glauben zu entfalten und vor Missverständnissen zu schützen hat.
Zwei Frageperspektiven sind zu verschränken: wie kann Gott - philosophisch - als Postulat gedacht werden, das die Bedingung der Rettung des Menschen ist, ohne dass Gott - jetzt käme die theologische Kritik zum Zuge - dadurch im Sinne funktionalistischer Zumutungen an die “Kontingenzbewältigungs”-Aufgabe der Religion zur sinnstiftenden Denkfigur reduziert wird?
Die Frage nach Gott als die Bedingung der Frage nach dem Menschen legt den Rekurs auf Bonhoeffers Gedanken eines “religionslosen Christentums” nahe, das in der Welt lebt, “etsi deus non daretur”. Die darin enthaltene Weigerung, Gott zu einem Gegenstand des Wissens und des Besitzes zu verdinglichen, wird ihre Spitze allerdings heute gegen eine Lebensorientierung, in der Gott in der Regel gar nicht mehr vorkommt, gerade umgekehrt formulieren müssen: nämlich als Forderung, zu denken und zu leben, “etsi deus daretur”. Der Religionsunterricht stünde dann also unter der Frage, ob sich Schüler gewissermaßen hypothetisch auf Existenzentwürfe und Handlungskonzepte einlassen können, die Gott gegen die Evidenz geschlossener Weltzusammenhänge kontrafaktisch unterstellen. Plausibilitätsgründe (im Sinne so allererst möglicher Begründung von Normen jenseits zweckrationaler Kalküle) und Befreiungserfahrungen (im Sinne des Aufbrechens und der Verflüssigung systemischer Sachzwang-Logiken) wären auf diese Weise aufeinander beziehbar.
Feuerbach hatte die religiösen Projektionsmechanismen noch mit großer Denkanstrengung aufzudecken. Inzwischen sind sie relativ leicht durchschaubar geworden, nachdem die Feuerbachsche Denkweise ins halbwegs aufgeklärte Reflexionswissen unserer Zeit eingesickert ist. Trifft der Vorwurf des Anthropomorphismus heute noch auf gleiche Weise einen problematischen Kern des christlichen Glaubens, wie es zu Zeiten Feuerbachs den Anschein haben konnte? Oder gilt es nicht gerade heute, wo die Personalität des Menschen bedroht erscheint, wo sie nicht mehr überall zu den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten gehört, die Denkrichtung umzukehren? Es ließe sich ja zeigen, dass die kritischen Hinweise auf die Naivität mancher personaler Gottesbilder deren Einsichtsgehalt eher unterbieten. Um projektive Mechanismen zu durchschauen, braucht es mittlerweile weder Mut noch ungewöhnliche Reflexionskraft. Ist heute aber nicht eher dann mit der Trivialität von Gemeinplätzen zu rechnen, wenn Gott statt als Person als geistiges Prinzip oder Abstraktum vorgestellt wird?
Hier kann ein Gedanke Wolfhart Pannenbergs zu den nötigen Differenzierungen und Präzisierungen verhelfen und gleichzeitig die Zumutung der Beweislast an den Projektionsverdacht zurückgeben: “Gewöhnlich hat man ... einen am Menschen gewonnenen Begriff von Personalität auf Gott übertragen... jeder auf diese Weise konzipierte Begriff von Person schließt die Endlichkeit des Menschen als konstitutives Element mit ein und bleibt daher untauglich zur Bezeichnung der alle Wirklichkeit bestimmenden, nicht endlichen Macht. Über diese kritische Auflösung der Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes und damit des Gottesgedankens überhaupt führt erst die Beobachtung hinaus, dass die Personhaftigkeit des Menschen selbst keineswegs selbstverständlich ist (Hervorhebung B.D. )... Ist der Gedanke des Personalen dann überhaupt primär am Menschen gewonnen? Ist nicht vielleicht der Ursprung des Persongedankens gerade in der Phänomenologie der religiösen Erfahrung zu suchen, sofern man dabei auf das in ihr sich jeweils geltend machende Widerfahrnis blickt?...
Solche Erwägungen legen die Vermutung nahe, dass es sich bei der Personalität um eine ursprüngliche religionsphänomenologische Kategorie (Hervorhebung B.D.) handelt. Als solche charakterisiert sie die Unverfügbarkeit der Macht, die doch zugleich in jenem Widerfahrnis, das die religiöse Erfahrung konstituiert, den Menschen konkret beansprucht... Nur wenn die alles Wirkliche bestimmende Macht ihre Personalität, durch die sie als Gott in Erscheinung tritt, nicht aus einer Übertragung von der Selbsterfahrung des Menschen her empfängt, wenn vielmehr umgekehrt alles Reden von Personalität im Bereich der religiösen Erfahrung selbst seinen Ursprung hat, nur dann ist der Kritik... an der Auffassung Gottes als Person zu begegnen. So verstanden würde nämlich der Gedanke der Personalität der Gottheit... von aller anthropomorphen Vorstellungsweise grundsätzlich unterscheidbar, wäre aber geeignet, die Bedeutung des anthropomorphen Redens in der religiösen Sprache verständlicher zu machen.” (Pannenberg 380ff).
Gott ist, lässt sich mit H. Ott weiterdenken, nicht “unterpersonal”: er ist dem menschlichen Personsein (“verstanden als Selbstbewusstsein, Du - sagen - können, Antworten - können, Verantwortlichkeit, Freiheit”) nicht unterlegen. Der wirkliche skandalöse Anthropomorphismus liefe darauf hinaus, “dass der Mensch sich einen ihm unterlegenen Gott erdenkt”. Gott wäre “überpersonal” zu denken. Er steht uns nicht wie ein anderer Mensch - als endliche Person - gegenüber, “sondern als unendliche Person”. (Ott 134f.).
Fünf spezifische Aufgabenkomplexe der Religionspädagogik lassen sich zum Schluss umreißen, wobei im schulischen Kontext auch die kritisch - integrierende Aufgabe des Religionsunterrichts im Fächerkanon zu bedenken ist, in dem die Humanwissenschaften (die anthropologischen Themen in naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fächern) zur Recht einen hohen Rang beanspruchen sollten, damit zuweilen aber auch weltanschauliche Geltungsansprüche erheben. (Zum folgenden vgl. Frey 95ff.).
- Die Rahmenbedingungen des RU nötigen die Theologie zu einer Neubestimmung ihres Verhältnisses zu den Humanwissenschaften. Die Theologie kann die Humanwissenschaften in einzelnen Aspekten nach konkreten Antworten fragen, die sie sich selber nicht geben kann. Vor allem aber sieht sie sich durch humanwissenschaftliche Ergebnisse, die Rückhalt an Erfahrungen mit den Menschen finden, gezwungen, ihre eigenen Konzepte, Vorstellungen und Begriffe zu präzisieren, zu vertiefen, ggf. auch im Sinne eines Gewinns an Verständlichkeit zu modifizieren. Im RU ist zu verdeutlichen, dass die Einheit unseres Menschenbildes durch die unterschiedlichen Feststellungsverfahren zerbrochen ist, mit denen einzelne Beobachtungen am Menschen quantifiziert, systematisiert und synthetisiert werden. Eine geschlossene integrale Anthropologie wird - nicht aus Mangel an Wissen, sondern auf Grund prinzipieller Erkenntnisgrenzen - nicht möglich sein. Insofern ist hinsichtlich unserer Erkenntnismöglichkeiten und als Grenzziehung gegenüber wissenschaftlichem Fragen und technischem Verfügen das Recht der Rede vom “homo absconditus” zu verteidigen.
- Was kann - umgekehrt - die theologische Anthropologie an die Humanwissenschaften herantragen? Im Wesentlichen hat sich die theologische Anthropologie als Kritik geläufiger Konzeptionen von Menschsein zu Gehör zu bringen. (Zum folgenden vgl. auch Haag 82). Sie hat durch ihr kritisches Nachfragen vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu irritieren (muss man den Menschen so sehen?), Ausblendungen bewusst zu machen (was ist vergessen/übersehen worden?), Probleme - vielleicht auch als unbeantwortbare Fragen - wach - und offen zu halten. Neben ihrem kritischen Fragen hat die theologische Anthropologie Deutungsangebote zu formulieren und zu unterbreiten, die a) die ihr vorgegebene Tradition auf die aktuellen Probleme humaner Existenz und menschlichen Selbstverständnisses beziehen, und die b) den Anspruch verdeutlichen, dass der christliche Glaube dem Menschen etwas zu sagen hat, was er sich nicht selbst erdenken und sagen kann.
- Gegenüber neuen, an die Gnosis erinnernden Formen von Religiosität im Umfeld des “New Age” ist der christliche Glaube vor dem Missverständnis zu bewahren, er bestreite nur dem gefallenen Menschen die Göttlichkeit. Auch im Versöhnungshandeln Gottes in Jesus Christus wird Erlösung nicht als eschatologische Vergöttlichung des Menschen verheißen. Dem entspricht schöpfungstheologisch, dass der Mensch vor dem Sündenfall durchaus nicht “gottgleich” ist. “Gottebenbildlichkeit” bedeutet nicht Identität mit Gott. Die Sünde ist nicht einfach Unterschiedenheit von Gott, sondern trennt uns über die schon vorab bestehende fundamentale Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf hinaus von Gott: Sie wird in der jahwistischen Paradiesgeschichte als Ausschluss aus der kommunikativen Gemeinschaft mit Gott verstanden. Entsprechend verheißt das Neue Testament die Erlösung als Gemeinschaft, nicht als Gleichheit mit Gott. Das Heil wird in Bildern ungehinderter Kommunikation gedacht - aber auch in der Tischgemeinschaft des himmlischen Jerusalem bleiben wir Gott gegenüber. Verschmelzungsphantasien finden in der Bibel keinen Rückhalt.
- Aus der Bestreitung der Göttlichkeit des Menschen - die übrigens heute, angesichts der unübersehbaren Entmystifizierungen humanistischer Idolatrien, sich weniger um Plausibilität als um die Vermeidung zynischer Häme zu bemühen hat - lässt sich eine Definition des Menschen gewinnen. Im Anschluss an Luther formuliert Jüngel (351): “Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott kann als Definition des Menschen gelten, weil sie das Sein des Menschen dem Zugriff menschlichen Handelns entzieht, ohne zu bestreiten, dass der Begriff des Seins des Menschen das Tun mitbegreift”. “Definition” bedeutet in diesem Verständnis, dass Gottes Handeln die Grenze zieht, innerhalb derer sich der Mensch verstehen darf und kann. Damit ist scharf zu betonen, dass das “Menschsein... keine ethische Aufgabe” ist und weder kommunikativ, noch moralisch hervorgebracht wird; “aber eben deshalb kann und soll es gleichzeitig ethisch bewährt werden.” (Sauter 92).
- Der Möglichkeit der Bestreitung der Göttlichkeit des Menschen geht die in Jesus Christus ereignete Menschlichkeit Gottes voraus. “In Jesus Christus Gott Mensch sein lassen und gerade deshalb den Menschen nicht Gott werden lassen” (Jüngel 371) - diese Aufgabe hat sich kein Glaube erdacht, sie ist aber vom christlichen Glauben dem Denken zuzumuten. Die Menschlichkeit des Menschen wird erschlossen aus der unausdenkbaren, als bezeugtes Ereignis aber - mit sachangemessenem Bezug auf die Quellen des Zeugnisses - weiterzusagende Menschlichkeit Gottes. “Gott wurde Mensch, damit wir endlich den Wahn unserer Göttlichkeit fahren lassen und zu wirklichen Menschen werden” (Sauter 89f.). Im so erschlossenen Menschsein werden alle Illusionen über das Menschenmögliche hinfällig. Im wahren Menschen Jesus Christus scheint kein Ideal des Menschseins auf. Von utopischen Programmen - und den daraus zu folgernden Anforderungen - ist die Verheißung der Menschlichkeit zu unterscheiden. “Weil jeder Mensch sein Menschsein in der Vollkommenheit seiner Beziehungen von Gott empfängt und von Gottes Gebot her erkennt, müssen wir nicht in unserem Verhalten von Mensch zu Mensch ständig um unsere Menschlichkeit besorgt sein.” (Sauter 91).
- Die Menschen versuchen heute in unseren Breiten mehr und mehr, ihre Göttlichkeit nicht länger als Mosaik aus jüdisch-christlichen Traditionstrümmern zu imaginieren. Die Rede vom Menschen als der “Krone der Schöpfung” hat sich zu verdächtig gemacht. Neue, östlich oder gnostisch inspirierte Religiosität verspricht Göttlichkeit als Partizipation am göttlichen Ganzen. Dahinter ist ein höchst ambivalenter Affekt zu vermuten: die “Einschmelzung” des Menschen in eine kosmische Alleinheit verspricht nicht nur die Rückkehr ins Göttliche, sondern gleichzeitig läuft sie auf das resignierte, mutlose Einverständnis mit dem “Tod des Menschen” hinaus. Dagegen hat der RU die Ermöglichung des Menschseins durch Gottes Menschwerdung anzusagen. Neben und gleichzeitig mit der kritischen Aufarbeitung der humanistischen Utopien und Ideologien geht es im Religionsunterricht um die Stärkung des Ich gegen den Sirenengesang der Subjektmüdigkeit. Stark wird das Ich freilich nicht in der Selbstbezüglichkeit und unter dem Zwang zur Selbstbehauptung, sondern durch die Einzigartigkeit und Würde, die uns von Gott zukommt, der uns bei unserem Namen ruft. Die im Anruf und Zuspruch Gottes gestärkten Menschen bieten die einzige Gewähr, dass nicht alle armen, kleinen, schwachen Iche sich vorm großen Weltlauf niederducken und sich in narzisstischer Verkrümmung in sich selbst zu lauter kleinen Göttern machen.
Anmerkungen
- Einen Interpretationsversuch hierzu s. bei G. Ringshausen (99).
Es gehört zu den irritierenden innerkirchlichen Erfahrungen, dass gerade heute die zeitkritische Kraft der Rechtfertigungstheologie verspielt zu werden droht, indem sich protestantische Christen z.B. mittels der Psychologisierung des Sündenbegriffs (“Angst”) an modische Zeitströmungen menschlicher Selbstverharmlosung akkomodieren oder die Luthersche Entdeckung der Gewissensfreiheit als Vorgriff auf den Selbstbehauptungsanspruch modernen Autonomiedenkens missverstehen. Vertrackt wird die theologische Selbstreflexion dieses Vorgangs, wenn die Zeitgemäßheit der christlichen Botschaft durch einen “Erlösungs”-Begriff gewahrt werden soll, der doch aber gerade das fromme individuelle Selbstbewusstsein auf eine mittelalterliche Sühne-Theologie zurückverweist. Statt dessen wäre die Heilung des Verhältnisses Gottes zu seiner Schöpfung als sein Versöhnungshandeln neu zu verstehen. Vgl. hierzu auch die exemplarische Kontroverse zwischen H.G. Pöhlmann und Gerold Graf.
Vielleicht kann der Bruch nur dann in aller Schärfe wahrgenommen werden, wenn man beide zivilisatorischen Grundstimmungen kennen gelernt und aufgesaugt hat: den letzten Aufschwung des modernen Fortschrittsoptimismus im Übergang der 50er zu den 60er Jahren wie den nicht mehr nur am flüchtigen geistigen Zeitaroma, sondern an den harten Facts der ökologischen Krise orientierten Endzeitpessimismus. Für manche Jüngeren ist das Denken innerhalb der “Grenzen des Wachstums” schon so selbstverständlich geworden, dass sie auf die erkenntnisschärfende Bedeutung des Bruchs mit den vorangegangenen Kulturparadigmen allererst hingewiesen werden müssen.
Die geistige Situation der Zeit, auf deren Katastrophe dann die Dialektische Theologie reagierte, ist heute kaum noch nachvollziehbar. Es trennen uns ja Abgründe von dem in den ersten Weltkrieg ziehenden Theologiestudenten, wie Walter Flex (“Wanderer zwischen zwei Welten”) ihn uns schildert: mit dem Neuen Testament, Goethe und Nietzsches Zarathustra im Tornister. Indessen kann zur richtigen Ortsbestimmung die Erinnerung daran hilfreich sein, welche dem Kulturprotestantismus zumindest ähnliche Gedanken bis vor kurzem noch durch die Studier- und Lehrerzimmer geisterten. Das Beispiel des auch bei Religionspädagogen recht populären Autors Erich Fromm: “Unter radikalem Humanismus verstehe ich eine globale Philosophie, die das Einssein der menschlichen Rasse, die Fähigkeit des Menschen, die eigenen Kräfte zu entwickeln, zur inneren Harmonie und zur Errichtung einer friedlichen Welt zu gelangen, in den Vordergrund stellt. Der radikale Humanismus sieht in der völligen Unabhängigkeit des Menschen sein höchstes Ziel.” Entsprechend: “'Gott' ist eine der vielen poetischen Ausdrucksweisen für den höchsten Wert im Humanismus und keine Realität an sich.” (Fromm 15 u.19).
Oberhalb des Alltagsbewusstseins, in das Spuren dieser Sichtweise schon abgesunken sind, finden wir diese Denkfigur implizit in den funktionalistischen Systemtheorien, sofern sie sich nicht methodologisch begrenzt mittels ihrer heuristischen Erkenntnisgewinne legitimieren, sondern als Gipfelpunkt des Szientismus die vollständige Wirklichkeitsbeschreibung für sich reklamieren. ( So v.a. H. Maturana.) Ein genetischer Determinismus, wie er etwa einflussreich von Dawkins vertreten wird, verstrickt seine Protagonisten freilich unentwegt in performative Selbstwidersprüche. Das beginnt nach meinem Verständnis bereits bei der allmorgendlichen Entscheidung aufzustehen. Oder: wie kann für die Selbstachtung von jemandem eingetreten werden, der Selbstachtung für ein funktionales Äquivalent einer genetisch codierten Umweltanpassung hält?
Stärker als bei Kant selbst, dessen transzendentale Fragestellung zwischen der Skylla des totalen Objektivismus und der Charybdis des totalen Subjektivismus durchzuschlüpfen versucht, zeichnet sich die Problematik dieser “Kopernikanischen Wende” schon bei Descartes ab: die selbstvergewissernde Suche nach einem letzten Fixpunkt der Erkenntnis landet beim cogito, einem dünnsten, entleiblichten Ich (res cogitans), dem alles andere als unbelebte Materie (res extensa) analog zu Maschinen erscheint - warum dann nicht auch der empirische andere Mensch?
Peter Biehl bringt im Zusammenhang mit einem “erfahrungsbezogenen Reden von Gott” die Sprache auf “natürliche Theologie als religionspädagogisches Problem” (53ff.)
Nur so ist die Sünde über ihren tödlichen Unheilscharakter hinaus auch als ein ambivalentes Phänomen, als ein “Fort”-schritt von Gott zu deuten. Für eine heute immer notwendigere nicht nur moralische Interpretation der biblischen Sündenvorstellung erschließt sich so eine daseinshermeneutische Perspektive, die die Verstrickungen einer als radikale Autonomie verstandenen Freiheit aufdecken hilft.
Literaturverzeichnis
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- Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes 2, München 1989.
- Baden, Hansjürgen: Genug vom Menschen geredet. Stimmen des Protestes gegen die Idolatrie des Humanen; in: Lutherische Monatshefte 14/75.
- Biehl, Peter: Erfahrung, Glaube und Bildung. Studien zu einer erfahrungsbezogenen Religionspädagogik, Gütersloh 1991.
- Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Berlin 1978.
- Frank, Manfred: Der Philosoph Dieter Henrich; in: Merkur 470/April 1988.
- Fromm, Erich: Ihr werdet sein wie Gott, Reinbek 1970.
- Graf, Gerold: Die Überwindung der Angst. Der Erlösungsglaube hat Vorrang; in: Lutherische Monatshefte 11/92.
- Haag, Karl Friedrich: Bausteine für eine christliche Anthropologie (Hrsg. von der Gymnasialpädagogischen Materialstelle der Ev- luth. Kirche in Bayern); Arbeitshilfe Themenfolge 80.
- Henrich, Dieter: Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt/M. 1982.
- Jüngel, Eberhard: Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie; in: Hans-Georg Gadamer/ Paul Vogler, Neue Anthropologie, Band 6, Stuttgart 1975.
- Metz, Johann Baptist: Das Christentum und der europäische Geist; in: P. Koslowski (Hg.), Europa imaginieren. Der europäische Binnenmarkt als kulturelle und wirtschaftliche Aufgabe, Berlin/ Heidelberg 1992.
- Ott, Heinrich: Die Antwort des Glaubens. Systematische Theologie in 50 Artikeln, Stuttgart/Berlin3 1981.
- Pannenberg, Wolfhart: Grundfragen systematischer Theologie, Band 1, Göttingen3 1979.
- Pöhlmann, Horst Georg: Das Elend der halben Transzendenzen. Ist die Rechtfertigungslehre nur ein Begriffsdinosaurier?; in: Lutherische Monatshefte 11/92.
- Ringshausen, Gerhard: Ist der Mensch definierbar?; in: Glaube und Lernen 2/89.
- Sauter, Gerhard: Menschsein - Menschbleiben. Anthropologie als theologische Aufgabe; in: H. Fischer (Hg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978.