Was ist evangelisch am Evangelischen Kindergarten?

von Martin Küsell

 

I Vorbemerkungen

Manchmal ist es hilfreich, einen Blick zurückzuwerfen und sich in Erinnerung zu rufen, was vor dem war, was heute selbstverständlich und vertraut ist. So möchte ich das Rad der Zeit kurz um 30 Jahre zurückdrehen - in das Jahr 1968.

Zu diesem Zeitpunkt waren einige in diesem Raum noch nicht geboren. Andere gingen vielleicht gerade in den Kindergarten. Die hießen damals noch ganz offiziell so und Erzieherinnen entsprechend Kindergärtnerinnen. Sie wurden häufig mit "Tante" angeredet und trugen z. T. Schürzen. Im Vergleich zu heute gab es nur wenige Evangelische Kindergärten. Für die aber war es keine Frage, was sie als evangelisch auszeichnete: Morgen- und Tischgebet, fromme Lieder, und regelmäßig wurde eine biblische Geschichte erzählt. Das wurde Katechese genannt und vielfach ganz selbstverständlich von den Kindergärtnerinnen selbst erledigt; schließlich zählte manche Diakonisse dazu. Oder der Pastor - Pastorinnen waren noch weitgehend unbekannt - kam an einem bestimmten Tag der Woche in den Kindergarten und übernahm diese Aufgabe. Religionspädagogik ereignete sich zu bestimmten Zeiten und in festen Formen.

So war es (fast) immer gewesen; aber Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre wehte ein kräftiger Reformwind durch die westliche Republik. Er wehte auch durch den Kindergarten: "antiautoritäre Erziehung" und "Kinderladen" sind zwei Schlagworte aus dieser Zeit. Wichtiger als solche Schlagworte wurden die Bildungsreformen. Jetzt wurde dem Kindergarten ein eigener Bildungsauftrag zugesprochen. Seine Aufgabe war nicht mehr zuerst die Betreuung der Kinder. Am Ende dieser Entwicklung steht das niedersächsische Kindertagesstättengesetz von 1994.

Der Bildungsauftrag äußerte sich zunächst vor allem in der Vorschulerziehung. Vorschulmappen und die Sesamstraße wären hier zu nennen. Gleichzeitig wurde das Angebot an Kindergartenplätzen enorm ausgeweitet. Viele der Evangelischen Kindergärten stammen aus den 70er Jahren.

Der Reformwind veränderte vieles, was bis dahin selbstverständlich gewesen war. Die vielfältigen Lebens- und Familienformen unserer Tage haben darin ebenso ihren Ursprung, wie die Tatsache, dass überkommene Institutionen und Traditionen ihre Bindungskraft verloren haben. Auch religiöse Bindungen, Bindungen an eine der großen christlichen Kirchen sind nicht mehr selbstverständlich. Und damit ist auch nicht mehr selbstverständlich, was denn an einem Evangelischen Kindergarten evangelisch ist. Die Antworten können hier so vielfältig ausfallen wie auf die Frage, was Menschen von der Kirche erwarten. Aber viele Eltern erhoffen sich heute vom Evangelischen Kindergarten eine religiöse Erziehung, zu der sie sich vielfach selber nicht in der Lage sehen.

Der Bildungsauftrag des Kindergartens, die gesellschaftlichen Veränderungen und Erwartungen von Eltern an die religiöse Erziehung haben die religionspädagogische Arbeit und das Selbstverständnis des Evangelischen Kindergartens verändert.

 

"Was ist also evangelisch am Evangelischen Kindergarten?"

Aller (möglichen) Rechtschreibreformen zum Trotz hat es etwas zu bedeuten, wenn ich "E/evangelisch" einmal klein und einmal groß geschrieben habe. Klein geschrieben ist damit eine Eigenschaft gemeint; groß geschrieben ist es ein Name. Und Namen sind alles andere als Schall und Rauch: sie können auch Programm sein, ein Markenzeichen, etwa so:

  • "Nur da, wo Evangelischer Kindergarten draufsteht, ist auch Evangelischer Kindergarten drin."
  • "Evangelischer Kindergarten? Man gönnt sich ja sonst nichts."
  • "Evangelischer Kindergarten? Nicht immer aber immer öfter."

Wie Sie gleich sehen werden, sollten das nicht nur scherzhafte Bemerkungen sein.

 

Die Frage nach dem, was evangelisch am Evangelischen Kindergarten ist, lässt sich auf drei Bereiche beziehen und von daher beantworten:

  • den der Sozialpädagogik
  • den der Religionspädagogik
  • den des Trägers

Diese drei Bereiche scheinen mir die für das Selbstverständnis eines Evangelischen Kindergartens bestimmenden Faktoren zu sein, wenngleich natürlich auch andere die Arbeit bestimmen: die Kinder, ihre Eltern und nicht zuletzt Sie selbst, die Erzieherinnen und Erzieher.

Ich werde mich den genannten Bereichen zweimal nähern: einmal eher allgemein, sozusagen auf den ersten Blick, und einmal bei genauerem Hinsehen. Doch bei allem sollte klar sein, dass es die Antwort auf die gestellte Frage nicht gibt. Was evangelisch am Evangelischen Kindergarten ist, muss jeder Kindergarten für sich beantworten. Die Grundzüge aber möchte ich aufzeigen, wobei natürlich auch Bekanntes wiederholt wird.

 

II Was ist evangelisch am Evangelischen Kindergarten, bzw. was zeichnet ihn aus?

1. Durchgang - auf den ersten Blick

 

1. Den Evangelischen Kindergarten zeichnet eine durchdachte und verantwortete sozialpädagogische Arbeit aus.

Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, und eigentlich sollte es das auch sein. Aber es ist auch beim besten Willen nicht immer so. Vieles bleibt im Trubel des Alltags zwangsläufig auf der Strecke. Und auf der Suche nach dem evangelischen Profil wird von Erzieherinnen und vor allem von Seiten des Trägers oft leicht vergessen, dass auch der Evangelische Kindergarten zuerst eine sozialpädagogische Einrichtung ist. Wie Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt oder Kommunen nehmen die Kirchen mit einem Kindergarten in ihrer Trägerschaft zuerst eine öffentliche Aufgabe war.

Kindergärten einzurichten ist eine staatliche Aufgabe, in diesem Fall eine der Kommunen. Wo es möglich ist, sollen sie diese Aufgabe Trägern der Freien Wohlfahrtspflege übertragen. So ist es seit 1949 in der Bundesrepublik geregelt. Und darum tragen die Kommunen auch den größten Teil der Kosten. Es steht zwar jedem Träger frei, die pädagogische Arbeit nach seinen Grundsätzen auszurichten, aber auch der Evangelische Kindergarten bleibt eine öffentliche Einrichtung, und wie jeder andere schuldet er den Kindern eine verantwortete sozialpädagogische Arbeit. Darum muss es heißen: "Wo Evangelischer Kindergarten drauf steht, ist auch eine verantwortete Sozialpädagogik drin".

 

2. Den Evangelischen Kindergarten zeichnet aus, dass hier die religiöse Dimension des Lebens wahrgenommen und angenommen wird.

Der Bildungsauftrag des Kindergartens ist inzwischen unbestritten. Bildung schließt auch religiöse Bildung ein. Der Mensch wird nicht nur von dem bestimmt, was er lernt und von den Fertigkeiten, die er sich aneignet. Menschen stellen auch Fragen, die sich einer nachprüfbaren und damit allen einsichtigen Antwort entziehen. Die Frage: Wo komme ich her? verlangt ja nicht nur nach einer biologisch richtigen Antwort von Zeugung und Geburt. In dieser Frage klingt auch die Sehnsucht nach Vergewisserung mit: Wer bin ich? Bin ich gewollt, gewünscht, geliebt angenommen? Wer oder was hält mich? Solche Fragen lassen sich nicht objektiv beantworten. Ohne dass gleich von Gott gesprochen wird, sind es im weitesten Sinn religiöse Fragen, weil sie über den Alltag hinausweisen. Und die Antwort hängt von den persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen der antwortenden Person ab. Om der Antwort spiegelt sich, worin der Einzelne sein Leben gründet. Und da es sich um Überzeugungen hanelt, nicht um nachprüfbare Tatsachen, kann es eine Neutralität nicht geben. Wo Kinder diese Fragen stellen, sind Erwachsene mit ihrer ganzen Person gefordert.

So betrachtet müsste in jedem Kindergarten in der einen oder anderen Form religionspädagogisch gearbeitet werden. Manchmal geschieht es auch. Aber die Mehrzahl der Kindergärten in kommunaler oder anderer Trägerschaft blendet alle religiöse Erziehung aus. Religion ist Privatsache. Und sie grenzen sich damit ganz bewusst von den kirchlichen Einrichtungen ab. Viele Eltern wollen das. Sie haben vielleicht schlechte Erfahrungen gemacht, setzen religiöse Anteile in der Erziehung mit kirchlicher Bevormundung und Beeinflussung gleich. Die Kinder sollen sich einmal frei entscheiden können. Nur: wie sollen sie sich entscheiden können, wenn religiöse Fragen ausgeblendet werden und die Antworten des Glaubens nicht bekannt sind?

Viele Eltern wünschen aber auch, dass ihre Kinder religiös erzogen werden, auch wenn sie selber ihre Schwierigkeiten haben und unsicher sind. Vereinzelt gibt es sogar muslimische Eltern, die ihre Kinder in einem kirchlichen Kindergarten anmelden, weil sie hier wenigstens etwas von Gott erfahren. Die Korrekturen durch den Koran folgen später. Doch man braucht gar nicht so weit zu greifen, um sagen zu können: "Evangelischer Kindergarten? Man gönnt sich ja sonst nichts an Religion".

 

3. Den Evangelischen Kindergarten zeichnet die Nähe zum Träger aus.

Ich bin mir bewusst, dass dieses Merkmal aus der Sicht des Kindergartens und vor allem der dort arbeitenden Menschen auch negative Gefühle auslösen kann. Dies gilt vor allem dann, wenn der Träger in erster Linie fordernd auftritt. Der eine erwartet vielleicht eine religionspädagogische Arbeit, wie ich sie eingangs beschrieben habe und kann nicht einsehen, dass sich die Verhältnisse der Kinder und ihrer Familien grundlegend verändert haben. Der andere Träger erwartet vielleicht, dass die Erzieherinnen selbstverständlich beim Gemeindefest die Kinderbetreuung übernehmen - ehrenamtlich versteht sich.

Wie jede Beziehung, so lebt auch die zwischen Kirchengemeinde und Kindergarten von einem gesunden Verhältnis von Distanz und Nähe. Beide sind notwendig. Und wo das Verhältnis stimmt, da ist die Nähe auf dem sog. "kurzen Dienstweg" zu erreichen. Der Träger ist eben keine Verwaltung in Person eines Sachbearbeiters. Und der Träger ist - wenn nötig - auch außerhalb von Öffnungszeiten zu erreichen. Das ist ein großer Vorteil. Darum kann es für Kinder, Eltern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heißen: "Träger Kirchengemeinde? Nicht immer, aber immer öfter erreichbar".

 

 

III Was ist evangelisch am Evangelischen Kindergarten, bzw. was zeichnet ihn aus?

2. Durchgang - Bei näherem Hinsehen.

 

1. Den Evangelischen Kindergarten zeichnet aus, dass die soz.-päd. Arbeit vom christlichen Menschenbild her gestaltet wird.

Bei der ersten Annäherung an den Bereich der Sozialpädagogik hatte ich darauf hingewiesen, dass der Evangelische Kindergarten einerseits eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, dass der Träger aber andererseits die pädagogische Arbeit nach seinen Grundsätzen gestalten kann. Für einen Evangelischen Kindergarten können diese Grundsätze nur ein Menschenbild sein, das in der Bibel angelegt und in christlicher Tradition entfaltet worden ist. In diesem Zusammenhang möchte ich das Menschenbild in drei Punkten zusammenfassen:

 

  • Der Mensch ist ein einmaliges Geschöpf Gottes.
  • Er verdankt sein Leben nicht sich selbst. Darum braucht er sein Leben auch nicht vor sich und anderen zu rechtfertigen. Als Geschöpf Gottes kommt ihm eine unbestreitbare Würde zu. Sie ist nicht abhängig von dem, was der Einzelne zu leisten imstande ist. Daraus folgt eine unbedingte Achtung vor dem Leben jedes Menschen. Und daraus folgt, dass jeder Mensch in allen Lebensphasen mit seinen Fähigkeiten, Begabungen und Bedürfnissen akzeptiert und gefördert wird.

 

Für die Arbeit mit Kindern bedeutet das:

  • Jedes Kind ist ein vollwertiger Mensch.
  • Der Mensch durchläuft verschiedene Lebensphasen, vom Kind über die/den Jugendliche/n zu der/dem Erwachsenen. Aber damit ist die Entwicklung ja nicht abgeschlossen. Wie viele Phasen können Erwachsene durchlaufen: als junge Erwachsene, als Eltern kleiner Kinder, als Eltern erwachsener Kinder, als alte Menschen. In jeder dieser Phasen leben sie anders, entwickeln sie andere Fähigkeiten, haben sie andere Bedürfnisse. Kinder sind vollwertige Menschen in der Lebensphase der Kindheit. So wie alte Menschen es in ihrer Lebensphase sind.

    Auch das klingt für unsere Ohren selbstverständlich. Aber wie viele pädagogische Konzepte gehen offen oder unausgesprochen von sogenannten "Defizitmodellen" aus? Sie sehen auf das, was das Kind noch nicht kann oder auf das, was der alte Mensch nicht mehr kann. Folglich ist es Ziel pädagogischen Bemühens, dem Kind möglichst schnell die fehlenden Fähigkeiten zu vermitteln, bzw. sie beim alten Menschen unterstützend auszugleichen. Der Maßstab für das Handeln ist ein Mensch irgendwo zwischen 30 und 50, oder besser zwischen 20 und 40, oder 40 und 60? Natürlich lernen Kinder enorm viel, genauso wie sich die Möglichkeiten alter Menschen einschränken. Und natürlich hat der gesunde Mensch in der Mitte des Lebens beiden etwas voraus. Das rechtfertigt aber nicht, diesen Lebensabschnitt zum absoluten Maßstab zu machen.

D.h. Kinder wollen mit ihren Äußerungen ernst genommen werden. Erwachsene sollten sehen, was das einzelne Kind kann, welche Begabungen und Fähigkeiten es entwickelt, und nicht nur das, was es noch nicht kann. Bei gesunden Kindern entwickelt sich das von alleine. Erwachsene sind ihnen nur an Lebensjahren und Erfahrungen voraus. Das ermöglicht ihnen, sie zu begleiten, behutsam Hilfestellung zu leisten, aber nicht, sie zu dirigieren.

Als die Jünger miteinander stritten, wer der Größte sei, da hat Jesus ein Kind in die Mitte gestellt, hat es geherzt und gesagt: "Wer einen solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf."

Wie bei der Kindersegnung auch hat Jesus damit deutlich gemacht, dass Kinder vor Gott genauso wertvoll sind, wie Erwachsene. Und er hat damit den Vorstellungen seiner Zeit widersprochen. Denn nach diesen Vorstellungen, war erst der Erwachsene ein vollwertiger Mensch, weil er in der Lage ist, Gottes Wort zu verstehen und zu studieren. Einmal abgesehen von Gottes Wort ist solches Denken leider noch immer weit verbreitet.

  • Der Mensch ist von Gott angenommen mit allen Stärken und Schwächen.
  • Scheitern und Schuld, Widersprüche und Leiden werden von allen Menschen erfahren. Auch in solchen Situationen bleibt der Mensch von Gott angenommen. Das ermöglicht Hoffnung, die über den Tag hinausreicht. Das ermöglicht, neu anzufangen. Das befreit zu vergebendem Handeln.

Wenn diese Grundsätze auch nur ansatzweise erfahrbar werden sollen, dann bedarf es einer durchdachten und verantworteten sozialpädagogischen Arbeit. M.a.W.: Ohne kompetente sozialpädagogische Arbeit hängen alle religionspädagogischen Bemühungen in der Luft.

Der Evangelische Kindergarten schuldet die verantwortete sozialpädagogische Arbeit nicht nur den Kindern, sondern sie ist auch eine Voraussetzung für die eigenen Akzente und ein evangelisches "Profil".

Aus dem christlichen Menschenbild und der Verantwortung für die Kinder kann es auch notwendig sein, dass sich der Evangelische Kindergarten, bzw. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Anwalt der Kinder machen:

  • Gegen das Diktat knapper Kassen, mit dem Standards gesenkt werden sollen. Der Bildungsauftrag kann nur mit ausreichend qualifiziertem Personal erfüllt werden. Bleibt am Ende wieder vor allem die Betreuung? Evangelische Kindergärten dürfen das nicht hinnehmen.
  • Gegen die geltende Tendenz alles nach Kosten und Nutzen aufzurechnen. Menschsein geht nicht in Bilanzen auf.
  • Gegen überzogene Erwartungen von Eltern. Der Wert menschlichen Lebens ist nicht oder nicht alleine von dem abhängig, was der Mensch kann und leistet.

Wo die beschriebenen Grundsätze des christlichen Menschenbildes auch nur ansatzweise erfahrbar werden, da wird religionspädagogisch gearbeitet. Hier vermischen sich Sozial- und Religionspädagogik. Im Evangelischen Kindergarten sind sie die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

Natürlich werden auch in anderen Kindergärten Kinder in ihrer Persönlichkeit angenommen und individuell gefördert. Und diese Kindergärten nehmen ihre Aufgabe, Anwälte für die Kinder zu sein, unter Umständen genauso war. Da haben die Evangelischen Kindergärten kein Monopol. Ja, es kann sogar sein, dass ihnen andere Kindergärten darin voraus sind. Dennoch bleiben die beschriebenen Grundsätze Erkennungszeichen eines Evangelischen Kindergartens. Er ist zugleich gefordert, die Gründe für solches Handeln zu benennen und damit die Wurzeln, die Menschen halten. Denn: "Nur wo Evangelischer Kindergarten drauf steht, ist auch Evangelischer Kindergarten drin".

 

2. Den Evangelischen Kindergarten zeichnet aus, dass auf die Grundfragen des Lebens Antworten des christlichen Glaubens angeboten werden.

Im ersten Durchgang hatte ich in diesem Abschnitt darauf hingewiesen, dass sich bestimmte Fragen nicht objektiv beantworten lassen. Wer bin ich? Bin ich gewollt, gewünscht, geliebt angenommen? Wer oder was hält mich? Das sind im weitesten Sinn religiöse Fragen, und die Antwort hängt von den persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen der antwortenden Person ab. Neutralität kann es nicht geben. Im Evangelischen Kindergarten werden die Antworten des christlichen Glaubens angeboten.

Dabei geschieht die religionspädagogische Arbeit im engeren Sinn auf drei verschiedenen Weisen. Sie bedingen und ergänzen einander und lassen sich mit den Begriffen Situation, Tradition und Propädeutik kennzeichnen.

  • Situation oder Atmosphäre
    Hier wäre all das zu wiederholen, was ich eben zum christlichen Menschenbild gesagt habe. Das Kind erfährt, dass es angenommen ist. Es wird in seinen Äußerungen ernst genommen. Das Kind wird seinen Begabungen, Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechend gefördert, so weit das möglich ist. Das Kind erfährt, dass Vergebung befreien kann und es möglich ist selber zu vergeben. Schwächen und Schuld können eingestanden werden. Und ich betone noch einmal: Das ist bereits religionspädagogische Arbeit; zumindest ein Teil von ihr.
  • Tradition
    Mit diesem Begriff meine ich, dass die Gründe für solches Handeln benannt werden.
    Hierher gehören z.B.
  • die biblischen Geschichten, die davon erzählen, dass Gott die Erde geschaffen und den Menschen das Leben gegeben hat. Aber auch dass der Einzelne Verantwortung für die Schöpfung und den Mitmenschen trägt.
  • die biblischen Geschichten, die davon erzählen, dass Gott den Menschen bedingungslos annimmt und dass er aus Schuld befreit. Aber auch, dass der Einzelne darum selber annehmen und vergeben kann.
  • entsprechende Gebete und Lieder. Sie sind eine Form, in der sich der Glauben äußern kann. Kinder sollten sie kennen lernen und einüben können, damit sie später ggf. darauf zurückgreifen können.
  • eine Einführung in die wichtigsten Feste des Kirchenjahres. In ihnen feiern Christen die liebende Zuwendung Gottes. Sie sind fester Bestandteil unserer Kultur und wollen von ihrem christlichen Ursprung her gedeutet werden.
  • das Kirchengebäude und sein besonderer Raum sowie die Feier kleiner Gottesdienste. In der Kirche versammeln sich Christen, und im Gottesdienst besinnen sie sich auf das, was sie in ihrem Leben trägt und ihnen Halt gibt.
    Nur der Vollständigkeit halber sei noch einmal darauf hingewiesen, dass sich auch die traditionellen Formen religionspädagogischer Arbeit, also biblische Geschichten, Gebete, Lieder, nicht wie früher auf bestimmte Orte und Zeiten beschränken lassen. Sie sollten Teil des Alltags und der sozialpädagogischen Arbeit sein.
  • Propädeutik
    Das Fremdwort bedeutet soviel wie: die Einführung in notwendige Vorkenntnisse. Dazu gehört aber nicht nur, dass "Wissen" im engeren Sinn vermittelt wird, sondern ebenso, dass bestimmte Erfahrungen ermöglicht werden und für die Grundfragen des Lebens sensibilisiert wird.
    Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Unsere Gesellschaft ist zunehmend von Technik geprägt. Die natürlichen Erfahrungsräume schrumpfen nicht nur für Kinder immer mehr zusammen. Das gilt vor allem in den Städten, wo der Verkehr die Bewegungsmöglichkeiten einschränkt. Als Ersatz werden Inseln geschaffen, künstliche Freiräume. Sie zu erreichen ist mit Aufwand verbunden. Auch der Kindergarten ist so ein Freiraum, eine Insel. Was für frühere Generationen vielleicht das Wäldchen hinter dem Dorf war, ist heute der Abenteuerspielplatz, nur: der ist künstlich geschaffen. Zudem werden viele Erfahrungen nur noch mittelbar gemacht. Die Kinder kennen zwar vieles aus dem Fernsehen, aber eben nicht aus eigener Anschauung. Wie lässt sich solchen Kindern zum Beispiel der Sinn des Erntedankfestes vermitteln, wenn sie nicht die elementare Erfahrung des Säens, Wachsens und Erntens machen können? Also ist es eine religionspädagogische Aufgabe, Kinder diese Erfahrung machen zu lassen. Es muss ja nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erntedankfest sein.
    Ähnliches ließe sich von der Erfahrung mit Stille sagen - wie laut und hektisch ist unsere Zeit;
    von der Erfahrung mit Hell und Dunkel - Licht gibt es im Überfluss;
    von der Erfahrung mit Warm und Kalt und überhaupt den Jahreszeiten - in zentralgeheizten Räumen kann man die Jahreszeiten vergessen; und Dinge die es früher nur im Sommer (Eis) oder im Winter (Marzipan) gab, kann man inzwischen das ganze Jahr über kaufen.

    M.a.W.: Kindern elementare Erfahrungen des Lebens zu ermöglichen, ist Teil der religionspädagogischen Arbeit. Ohne sie ist vieles von dem, was christlichen Glauben ausmacht, nur schwer nachzuvollziehen. Und zu diesem Bereich gehören schließlich auch die Gefühle: Freude und Jubel sind ebenso elementare Lebensäußerungen wie Enttäuschung, Wut und Trauer. Sie haben ihr Recht und müssen geäußert werden können. Das gilt auch für die sog. negativen Erfahrungen und Gefühle.

Darum kann es heißen: "Evangelischer Kindergarten? Man gönnt sich das ja sonst nicht."

 

3. Einen Evangelischen Kindergarten zeichnet aus, dass er in eine Glaubens-Gemeinschaft eingebunden ist.

Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen: Wenn es um die Grundfragen des Lebens geht, kann es keine Neutralität geben. Je jünger die Fragenden sind, desto mehr messen sie die Glaubwürdigkeit der Antwort von Erwachsenen daran, ob sie ehrlich gemeint ist als an ihrer rationalen Überzeugungskraft. Zu den Grundfragen des Lebens gehört auch die nach Gott. Wenn von Gott gesprochen wird, dann schwingen die schon genannten Fragen mit: Wo komme ich her? Wer bin ich? Bin ich gewollt, geliebt, angenommen? Wer oder was hält mich? Zugleich antwortet der Glaube auf diese Fragen. Er bietet eine Deutung des Lebens an, er kann Sinn stiften, Hoffnung schenken und Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

Nun gibt es keinen allgemeinen Glauben, keine allgemeine Religion. Glauben gibt es immer nur in einer konkreten Form, in Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Das gilt insbesondere für den christlichen Glauben: Er ist auf Gemeinschaft angelegt. Jesus ruft Menschen in die Gemeinschaft mit sich und mit Gott. Die ersten Christen fanden sich in Gemeinschaften zusammen. Sie beteten und sangen miteinander, sie teilten und aßen miteinander. Und sie wandten sich an Menschen, die außen standen und an solche, die in Not waren.

Aus dem letztgenannten Motiv sind auch die ersten kirchlichen Kindergärten entstanden. Auch darum sind sie bis heute sozialpädagogische Einrichtungen: Sie sind ein Dienst der Kirche an der Gesellschaft. Und zu diesem Dienst gehört, dass Kindern und Eltern die Antworten angeboten werden, die der christliche Glaube auf die Grundfragen des Lebens gibt. Damit das gelingen kann, sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Begleitung, die Hilfe und die Unterstützung der Kirchengemeinde angewiesen. Darum hat der Träger zuerst die Aufgabe, den Erzieherinnen und Erziehern den Rücken für die sozialpädagogische Arbeit freizuhalten. Wenn das geschieht, kann auch religionspädagogisch gearbeitet werden. Dafür hat der Träger dann notwendige Hilfestellung und Begleitung anzubieten, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre eigenen Fragen klären können. Erst dann können sie Antworten des christlichen Glaubens den Kindern und manchmal auch den Eltern anbieten.

Der Evangelische Kindergarten aber ist nicht automatisch Kirche und nur ansatzweise eine Glaubensgemeinschaft. Das zu sein, ist nicht sein Auftrag und das zu werden, ist nicht Auftrag der in ihm arbeitenden Menschen. Der Evangelische Kindergarten kann die Gemeinschaft immer nur ansatzweise leben. Kinder - und ich denke auch: Eltern und Mitarbeiter - brauchen ergänzende Erfahrungen in der Gemeinschaft, die sich zuerst als Glaubens-Gemeinschaft versteht: in der Kirchengemeinde. Dafür bietet der Evangelische Kindergarten die besten Voraussetzungen. Das lässt sich schon an den Gebäuden erkennen, die für den Träger Kirchengemeinde stehen. Es sind Kirche und Gemeindehaus, nicht Rathaus (ein Amt) oder eine Bezirksverwaltung. In Kirche und Gemeindehaus herrscht außerhalb normaler Öffnungszeiten Leben, treffen sich Menschen. Die Wege dahin sind in den meisten Fällen kurz. Sie müssen nicht in jedem Fall von jedem gegangen werden, aber die Türen sollten einladend offen stehen. Der Weg kann allerdings mühsam sein - für die Kirchengemeinde ebenso wie für den Kindergarten. Vor allem ist dies dann der Fall, wenn sich Enttäuschungen und Verletzungen aufgebaut haben. Für den Evangelischen Kindergarten - wenn er denn evangelisch sein will - sehe ich aber keinen anderen Weg. Mit anderen Worten: Wo ein gesundes Verhältnis von Distanz und Nähe besteht, können auch Beziehungen zwischen Kindergarten und Kirchengemeinde, Mitarbeiterinnen des Kindergartens und Kirchenvorständen, bzw. Pastorinnen und Pastoren, sowie Kindern und Eltern zur Kirchengemeinde wachsen. Dann kann es heißen: "Evangelischer Kindergarten und Träger Kirchengemeinde - nicht immer, aber immer öfter."

Überarbeitete Fassung des Vortrags beim Treffpunkt Kindergarten am 8./9. Januar 1998 im Religionspädagogischen Institut Loccum.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/1998

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