Das Recht des Kindes auf seine Bilder von Gott

von Martin Küsell 

 

Es ist eine alte Frage der Religionspädagogik, ob die anthropomorphen Gottesbilder der Kinder ihr Recht haben, oder ob sie möglichst schnell durch abstraktere Vorstellungen ersetzt werden sollen, was dann eine Aufgabe der Erwachsenen wäre. Die Frage wurde zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz ergreift für die Gottesbilder der Kinder Partei, und er tut es nicht allein, um ihnen ihre Bilder zu lassen, sondern vor allem, weil es dieser Phase des Menschseins angemessen ist, sich Gott menschlich-konkret vorzustellen, und weil diese Vorstellungen auf dem Weg zum Erwachsenen und damit zu abstrakteren Vorstellungen geradezu notwendig sind. Diese Position ist Ende der 80-iger Jahre zunächst von Anton Bucher im katholischen Raum entfaltet worden und hat dort zu heftigen Auseinandersetzungen geführt.1Auf evangelischer Seite wurde sie zuerst von Frieder Harz vertreten2 - dessen Darstellung ich in weiten Teilen folge - und hat unter dem Stichwort "Perspektivenwechsel" Eingang in die Kundgebung "Aufwachsen in schwieriger Zeit - Kinder in Gemeinde und Gesellschaft" der EKD gefunden.3

 

"Warum ist die Banane krumm?"

Kinder fragen nach Gott und der Welt und deuten ihre Lebenszusammenhänge

Kinder setzen sich mit ihrer Wirklichkeit fragend auseinander: "Warum...?". Sie fragen nach Gott und der Welt, nach Gott auch dann, wenn dieses Thema von Eltern und/oder Erziehern/innen gemieden wird. Sie fragen nach Gott, weil unsere Kultur christlich geprägt ist, vor allem aber, weil diese Frage im Menschen angelegt ist. Denn wenn die Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens nicht nur in ihren biologischen Zusammenhängen gesehen wird, enthält sie die Frage nach dem Ursprung und dem Sinn des Lebens. Damit sind religiöse Dimensionen angesprochen, die sich in Vorstellungen von Gott verdichten, die aber noch nicht durch die biblisch-christliche Tradition geprägt sein müssen.

Dabei haben Kinder grundsätzlich dieselben Schwierigkeiten wie Erwachsene. Gott kann man nicht sehen, anfassen, beweisen (wie viel an Ersterfahrung geht bei Kindern über das Tasten, Fühlen, Schmecken!). Und dennoch leben Menschen in der Gewissheit, dass Gott für sie da ist. Dieser Gegensatz macht ihn nicht nur für Kinder zu einem geheimnisvollen Wesen, das in ihrer Vorstellungswelt dennoch - wie alles andere - seinen Platz haben muss.

Auf die meisten Fragen erhalten die Kinder in der Regel bereitwillig Antwort, mit der Frage nach Gott stoßen sie aber nicht selten auf Schweigen oder erhalten vage Antworten. Denn sie treffen auf Erwachsene, die sich mit einer Antwort schwer tun, weil sie selber unsicher sind. Die eigenen Gottesvorstellungen der Kindheit tragen nicht mehr; von ihnen gilt es, sich abzugrenzen. "Erwachsen werden heißt auch, die kindlichen Vorstellungen von Glauben bewusst hinter sich zu lassen!"4 Und vielleicht muss es so sein. Vielleicht sind diese Gottesbilder zu klein, zu eng, zu festgelegt, wie ein paar Kinderschuhe, aus denen man herauswächst. Nur werden Schuhe dann durch andere ersetzt, für Gottesbilder trifft das nicht gleichermaßen zu.Die Gründe dafür können ganz verschieden sein. Vielleicht:

fehlten den heute Erwachsenen schon Gesprächspartner, also Menschen, die zu einem offenen Gespräch - auch über Gott - in der Lage und dazu bereit waren, Menschen, die dieses Gespräch partnerschaftlich, also mit den Kindern und nicht als die alles Wissenden führten; tragen die Antworten der biblisch-christlichen und kirchlichen Tradition nicht mehr.
ist das Abstraktionsvermögen größer geworden und Gott kann damit auch weniger konkret gedacht werden;
haben sich durch die Kenntnis anderer Religionen und allem, was mit dem Begriff "New Age" bezeichnet wird, Vorstellungen ins Bewusstsein, die sich immer weiter von den biblisch-christlichen Aussagen über Gott als einem personalen Gegenüber zum Menschen entfernen.

Es kann also sein, dass die Fragen der Kinder an Erwachsene gerichtet werden, denen darin ihre eigene, überwunden geglaubte Kindheit begegnet, und mit ihr die uneingelöste Aufgabe bzw. unbeantwortete Frage, wie sie denn weitergehen soll, "die Sache mit Gott" (Heinz Zahrnt).

Wenn die Fragen der Kinder aufgegriffen und nicht - wie so oft - beiseitegedrängt werden, dann stellt sich die Frage, wie zu reagieren ist:

Sollen die Kinder möglichst schnell von ihren kindlichen Gottesbildern "befreit" und zur Annahme möglichst abstrakter Vorstellungen gedrängt werden, um ihnen den späteren mühsamen Ablöseprozess zu ersparen, also frühzeitig zu den "richtigen" Gottesbildern zu verhelfen?

Oder sollen die Kinder bei ihren Gottesbildern bleiben und vielleicht sogar noch darin bestärkt werden, obwohl der Erwachsene/die Erwachsene sie doch selber als überholt abgelegt hat?

Beide Ansätze sind in der Religionspädagogik vertreten worden und werden weiter vertreten. Der erste orientiert die religionspädagogische Aufgabe an den Erwachsenen: es gilt, die kindlichen Gottesbilder abzustoßen, um zu "Erwachsenenvorstellungen" vorzudringen, die auch bei einer differenzierteren Sicht der Wirklichkeit Bestand haben. Ziel ist es also, von vorneherein für Erwachsene tragfähige Gottesbilder anzubieten.

Der zweite Ansatz orientiert die religionspädagogische Aufgabe an den Kindern: Es gilt, die kindlichen Gottesbilder ernst zu nehmen, sie von dem Erleben und Denken, den Bedingungen und Möglichkeiten der Kinder (kurz: im Rahmen ihrer Entwicklung) her aufzunehmen, so dass sie ihre Vorstellungen entfalten und weiterentwickeln können.

Der zweite Ansatz fügt sich ein in das Stichwort vom "Perspektivenwechsel" und bedeutet, dass sich die Erwachsenen auf die Perspektive der Kinder einstellen, dass sie ihre eigenen Bedenken zurückstellen und sich auf die Denkbewegung der Kinder einlassen.

Ihn möchte ich im Folgenden begründen. Doch um Missverständnisse auszuschließen, sei zuvor noch einmal betont: Es geht weder darum, den Kindern kindliche Gottesbilder anzubieten, so als wüssten die Erwachsenen, was den Vorstellungen der Kinder angemessen ist, noch geht es gar darum, kindliche Gottesbilder zu zementieren und Kinder auf eine für Erwachsene vielleicht niedliche Kindlichkeit festzulegen. Ziel ist es vielmehr, die Kinder zu ermutigen, ihre Vorstellungen, ihr Vertrauen zu Gott, ihre Fragen an Gott in eigenen Bildern auszudrücken und darüber in einen offenen Dialog zu treten, bei dem die Erwachsene wirkliche Gesprächspartner sind. Damit ist auch Veränderung möglich, ja, sie ist sogar erwünscht.

Für solches Vorgehen gibt es eine Reihe guter Gründe.

Kinder erobern sich schrittweise ihren Lebensraum und ziehen die Kreise dabei immer weiter. Sie versuchen, ihre Erfahrungen in "ihr" Weltbild - also das Bild von der Welt, wie sie sich ihnen darstellt - einzubauen. Gleichzeitig wird sich damit das Weltbild selbst immer wieder verändern. Das gilt für den Bereich der sichtbaren Dinge ebenso wie für den Bereich der unsichtbaren. Im Bereich der sichtbaren Dinge werden Kinder immer wieder dazu ermutigt, eigene Erfahrungen zu machen. Eine ganze pädagogische Richtung hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Kindern Erfahrungsräume zu eröffnen, in denen sinnliche Wahrnehmung, die in der technisierten und für Kinder oft überbehüteten Welt verkümmern können, ermöglicht werden. Ganzheitlichkeit ist ein Schlagwort. Warum sollen Transzendenzerfahrungen nicht zur Ganzheitlichkeit des Menschen dazugehören? Warum nicht auch zum Suchen und zu eigenen Erfahrungen mit Gott ermutigen?

Kinder fragen nicht nur nach sichtbaren Dingen, sondern durchaus auch nach den nicht sichtbaren. Vertrauen und Angst, Annahme und Abgewiesenwerden, Freude und Traurigkeit begleiten sie ja vom ersten Lebenstag an. Und sie machen sich - auf ihre Weise - Gedanken über Gott und die Welt. Kinder sind - wie es einmal hieß - "kleine Philosophen". Sie sind auch "kleine Theologen". Neben das spielerische Einordnen der Dinge, mit denen die Kinder in Kontakt treten, kann und muss ein gedankenspielerisches Einordnen solcher Erfahrungen und Fragen nach dem Woher und Wohin und dem Sinn treten.

Der Platz, den Kinder Beobachtungen und Erfahrungen in ihrem Weltbild zuweisen, ist selten ein endgültiger. Vielmehr experimentieren sie, suchen sie so lange nach Antworten, bis "es passt" - für den Moment jedenfalls. Da verhalten sie sich ähnlich wie mit ihren Fragen. Sie verlangen ja keine lexikalisch umfassende Antwort auf ihre Fragen. Wenn ihr Wissenswurst gestillt ist, weisen Kinder den Becher der Antworten zurück und wechseln das Thema. Aber vielleicht knüpfen sie einige Wochen später knüpfen sie mit einer weiteren Frage genau dort wieder an - und jetzt wollen sie weitergehen.

Alle abstrakten Gottesvorstellungen erreichen zumindest kleinere Kinder im Kindergartenalter nicht, weil die Fähigkeit zu abstraktem Denken noch nicht vorhanden ist. Untersuchungen zur kognitiven Entwicklung haben gezeigt, dass Kinder erst im Schulalter, oft erst mit 10 und mehr Jahren - in der Lage sind, z. B. den vielschichtigen Sinn von Gleichnissen zu erfassen. Bis dahin kann nur konkret gedacht werden, auch im Blick auf Gott. Wenn Gott keine sichtbare Gestalt hat, in der er sich manifestiert - so wie sich Liebe und Zuwendung in der Person der Eltern manifestieren können - dann muss ihm eine Gestalt gegeben werden, damit er verstehbar wird und bleibt. So kommt es zu anthropomorphen Gottesvorstellungen: Gott braucht eine Gestalt, er braucht einen Ort, er braucht eine Wohnung. Wo sollen die Bilder dafür herkommen, wenn nicht aus der konkreten Erfahrungswelt? Menschliche Gestalt, Himmel (= oben), vielleicht ein Haus, ein Garten auf einer Wolke. Umgekehrt sind ja auch Gegenstände beseelt (Kuscheltiere!).

Es ist anzunehmen, dass diese anthropomorphen, konkreten Gottesbilder neben den abstrakten, die von Erwachsenen angeboten werden, weiter existieren. Übrigens nicht nur bei Kindern. Auch Erwachsene sind selten ganz frei davon, und es ist kein Fehler!

Nicht zuletzt kann dieses Vorgehen für die beteiligten Erwachsenen entlastend sein. Sie müssen gerade nicht das tun, was im Bereich religiöser Fragen oft so mühsam ist, und was der Struktur der Sache nach eigentlich auch gar nicht möglich ist: Gültige, unwiderrufliche Antworten zu geben.

Stattdessen können sich die Erwachsenen auf die Suchbewegungen der Kinder einlassen, können sich mit ihnen auf die Suche begeben und ihre Antworten als ihre Antworten anbieten. Kinder werden sie aller Subjektivität und aller Vorbehalte zum Trotz annehmen können. Das entspricht den Erfahrungen der Erwachsenen eher, denn - wie schon gesagt - auf religiöse Fragen gibt es keine allgemeingültigen, unumstößlichen, wahren Antworten. Es gibt zwar unumstößliche Wahrheiten, die aber nur dann als solche erkannt und angenommen werden können, wenn es gelingt, sie in Beziehung zu den eigenen Erfahrungen zu setzen. Von daher drücken sie sich immer wieder anders aus, in anderen Bildern, in anderen Worten, in anderen Gesten und Ritualen. Biblische Bilder und Formen der kirchlichen Tradition bieten ein Fundament für viele Menschen und Erfahrungen, auch über Generationen hinweg. Garanten für Einheitlichkeit können und dürfen sie dennoch nicht sein.

Wenn Kinder und Erwachsene in einen offenen Dialog treten, können letztere von den Kindern lernen. Deren Bilder mögen anders, aus der Sicht der Erwachsenen kindlich, vielleicht sogar lächerlich sein. Aber was sie ausdrücken, ist oft gar nicht so weit von den abstrakten Aussagen entfernt. Lassen wir sie gleichberechtigt nebeneinander stehen und versuchen vielleicht sogar, ihnen Bilder der biblisch-christlichen Tradition zuzuordnen.

 

Warum kann man Gott nicht sehen?

Kinder und ihr theologisches Denken

Sowohl die Bilder der Bibel als auch die der Menschen lassen sich nicht mit dem - in der lutherischen Tradition übergangenen - 2. Gebot: "Du sollst Dir kein Bildnis machen" verurteilen. Es kann folglich auch kein Argument dafür sein, Kinder möglichst schnell von ihren anthropomorphen Vorstellungen abzubringen. Denn zum einen können Menschen von Gott nicht anders als in Bildern sprechen, wobei sie sich allerdings bewusst sein müssen, dass sie auf Vergleiche und Vorläufigkeit angelegt, also immer eine Hilfskonstruktion sind und Gott nie gänzlich erfassen können. So gesehen bietet die Bibel selbst eine Fülle bildhafter Aussagen. Zum anderen hat das atl. Bilderverbot eine einheitliche, konkret-dingliche Darstellung im Blick, die zudem Objekt von Anbetung und Verehrung wird. Damit will das Bilderverbot jede Festlegung und damit Vereinnahmung Gottes abwehren, mit anderen Worten seine Freiheit und Souveränität wahren.

Auf menschliche Vorstellungen von Gott übertragen verhindert das Bilderverbot jede starre Fixierung auf ein Gottesbild, als dem einzig wahren und richtigen; m. a. W.: es lässt dem Menschen die Freiheit, Gott in immer neuen Bildern zu deuten und zu beschreiben.

Die Bilder, die sich Kinder von Gott machen, sind oft nicht nur für Erwachsene befremdlich, sondern ebenso oft von den Aussagen und Bildern der biblisch-christlichen Tradition entfernt. Denn Kinder entwickeln ihre Bilder i. d. R. bevor sie die der biblischen Tradition kennen lernen. "Sie fragen auch unabhängig vom biblischen Angebot, wie sie sich angesichts der Unsichtbarkeit Gottes eine Beziehung zu ihm vorstellen können."5Doch wenn sich Gottesbilder wandeln, muss das nicht zwingend bedeuten, dass sich damit auch die Aussagen, für die sie stehen, wandeln. Daher können verschiedene Bilder gleichberechtigt nebeneinander stehen. So gesehen liegen die Bilder der Kinder und die Aussagen von Erwachsenen manchmal vielleicht gar nicht so weit auseinander, wie es der erste Eindruck nahe legt. Und wenn dann noch zutrifft, dass die Bilder der biblisch-christlichen Tradition es vielen Menschen ermöglichen, ihre Erfahrungen auszudrücken - sonst wären sie nicht zur Tradition geworden - , dann lassen sie sich vielleicht auch in Beziehung setzen zu den Vorstellungen der Kinder.

Noch einmal: Es geht auch hier nicht darum, die eine Vorstellung durch die andere zu ersetzen, sondern darum, Bilder der biblisch-christlichen Tradition anzubieten, damit Kinder, wenn ihnen ihre Bilder zu eng werden, darauf zurückgreifen können - vorausgesetzt, dieses Bild passt ihnen und erscheint ihnen als tragfähig. Das ist aber nur der Fall, wenn diese Bilder in Beziehung zu den eigenen Überzeugungen, Vorstellungen und Fragen gebracht werden und sie ausdrücken können.

Die Fragen der Kinder nach Gott lassen sich grob in drei Bereiche gliedern:

"Das Problem seiner Unsichtbarkeit drängt zu Fragen nach dem Aussehen Gottes."

"Die Frage, wo er denn in unserer Welt erfahren werden kann, drängt zu Versuchen, ihm einen Ort, einen Wohnort zuzuweisen."

"Das Bekenntnis zu ihm als dem in unserer Welt Schaffenden und Wirkenden sucht nach Vorstellungen, wie dieses Wirken gedacht werden kann."6Diesen Fragenkreisen entsprechen Herausforderungen, die K. E. Nipkow im Blick auf Jugendliche beschrieben hat, und die in ähnlicher Form auch für Erwachsene gelten7:Die Unsichtbarkeit Gottes führt zu der Frage, ob Gott nicht eine Fiktion ist.Die Zweifel an seiner Erfahrbarkeit drängen zu der Frage, wo Gott in der Welt erfahren werden kann.

Das unermessliche Leiden in der Welt lässt danach fragen, wie sich das Leid mit dem Glauben an einen "lieben Gott" vereinbaren lässt.

Wie die "theologische Theoriebildung der Kinder" zu den Fragen und Antworten der Erwachsenen und denen der biblisch-christlichen Tradition in Beziehung gesetzt werden kann, soll ich im Folgenden an den skizzierten Grundfragen veranschaulicht werden.

 

"Warum können wir Gott nicht sehen?"

In dieser Frage schwingt Enttäuschung mit - Enttäuschung darüber, dass die Beziehung zu Gott so ganz anders ist als die, die Erwachsene und Kinder gewohnt sind.

Und zugleich schwingt in dieser Frage - zumindest für Erwachsene - der Zweifel mit, ob Gott nicht doch nur eine Fiktion ist, ein Hirngespinst, ein Produkt unerfüllter Sehnsüchte und Wünsche des Menschen, und ob nicht diejenigen Recht haben, die sagen: "Ich glaube nur, was ich sehe."

Kinder suchen anschauliche Antworten auf ihre Fragen, und so wird Gott wenigstens in ihren Gedanken anschaulich. Er gewinnt eine Gestalt, die sich an den Gestalten orientiert, die ihnen bekannt und vertraut sind; sie entwickeln eine Beziehung, die sich an den Beziehungen orientiert, in denen sie leben. "In ihrem anthropomorphen Gottesbild kommt zum Ausdruck, dass er lebendig ist, wir uns ihm mitteilen können, er in unserer Welt wirksam ist."8Aber es ist Gott, der da Gestalt gewinnt. Darum werden die bekannten menschlichen Züge übersteigert: Gott wird riesengroß, er hat viele Füße oder viele Hände, große Augen oder große Ohren, um überall hin zu kommen und zu helfen, um alle Menschen zu sehen und zu hören.

Auch die Gottesbilder vieler Erwachsener tragen ähnliche Züge - menschliche, um dem personalen Gegenüber Ausdruck zu geben, übersteigerte, bzw. abstrakte (d. h. auf das Wesentliche reduzierte - z.B. Dreieck, Auge), um der Gottheit Gottes gerecht zu werden.

Selbst die Bibel spricht vom Angesicht Gottes, vom Schemel seiner Füße, von seiner rechten Hand. Und Jesus hat z.B. im Gleichnis vom verlorenen Sohn Gott ganz menschliche, positive väterliche (eigentlich altorientalisch-patriarchalische) Züge gegeben.

 

"Wohnt Gott im Himmel?" - "Wie kann er dann zu uns Menschen kommen?"

Auch hinter solchen Fragen steht die Sehnsucht nach der Erfahrbarkeit Gottes. Er soll einen vorstellbaren Platz im Leben und in der Welt haben.

Für die Erwachsenen ist es letztlich die Frage, welcher Platz Gott in dieser Welt bleibt, die doch genauso gut ohne ihn zu existieren und zu funktionieren scheint. Oder diese Frage begegnet in der skeptischen Form, wo denn Gott gewesen sei, als dieses oder jenes Schreckliche passierte.

"Für den unsichtbaren, aber anthropomorph vorgestellten Gott ist der Himmel ein angemessener Wohnort"9, dort ist er gut aufgehoben. Wenn Gott aber auch bei den Menschen ist, dann muss er diesen Wohnort verlassen. Für die Vorstellungswelt der Kinder ist das kein Problem: Gott setzt sich in Bewegung.Erwachsene können da abstrakter denken. Für sie kann Gott in allem und in allen sein. Und der Himmel kann dann weniger einen zugewiesenen Ort bezeichnen, als mehr ein Prädikat für das Göttliche und seinen Herrschaftsbereich sein, die Sphäre seiner Macht und Liebe bezeichnen, die auch auf der Erde erlebt und erfahren werden kann.

Wieder finden sich diese Vorstellungen in der Bibel. Da sieht Gott auf die Erde nieder, da hört er das Schreien der Menschen, da fährt er hernieder, setzt Zeichen und hinterlässt Spuren. In den Geschichten von Jakob und der Himmelsleiter oder der Geburtsgeschichte Jesu werden Brücken zwischen Himmel und Erde geschlagen. Und von Jesus heißt es in einem alten Lied der Christen, dass er nicht um jeden Preis daran festgehalten sondern darauf verzichtet habe, Gott gleich zu sein. Er hat menschliche Gestalt angenommen, um den Menschen in allem gleich zu sein, auch im Tod.

Das Reden von Gottes Geist spiegelt dagegen mehr die abstrakten Vorstellungen von Gottes Wirken in der Welt.

 

"Kann Gott zaubern?"

Wenn Kinder sich Gott mit ganz menschlichen Zügen vorstellen, ihm eine Wohnung im Himmel zuweisen, die er verlässt, um zu den Menschen zu kommen, dann wird auch sein Wirken ganz konkret gedacht - aber auch wieder mit jenen Überzeichnungen, die schon bei seinem Aussehen auffielen: Gottes Wirken ist nicht den Begrenzungen menschlichen Handelns unterworfen. Zugleich erfahren Kinder, dass ein konkret gewünschtes Handeln Gottes ausgeblieben ist. Sie erfahren die gleiche Spannung wie die Erwachsenen.

Zwar stellen die Erwachsenen sich Gottes Handeln nicht mehr so handgreiflich vor, aber der Gegensatz von Gottes Macht und seiner "Tatenlosigkeit" angesichts des Unrechts und des Leidens in der Welt oder persönlich erfahrenen Unrechts und Leidens bricht genauso auf. Die "Warum?" - Fragen der Kinder sind auch die "Warum?" -Fragen der Erwachsenen. Die Ratlosigkeit der "Kleinen" trifft auf die der "Großen".

Darum ist im Umgang mit Kindern hier besondere Sensibilität gefordert, denn es existieren Antworten, die Kinder zwar anzunehmen bereit sind, die die Erwachsenen, die sie geben, für sich selber aber nicht akzeptieren würden. Sei es, dass das Ausbleiben von Gottes Hilfe als erzieherische Maßnahme gedeutet oder auf einen verborgenen Sinn verwiesen wird. Oder sei es nur so, dass das grenzenlose "kindliche" Vertrauen den Erwachsenen deshalb so berührt, weil er selbst sich dazu nicht mehr in der Lage sieht.

Dagegen soll das Leiden auch an Gottes ausbleibendem Eingreifen nicht vorschnell weggetröstet werden, denn es drängt zur Auseinandersetzung und darauf, eigene Antworten zu finden.

Allenthalben kann und sollte die Antwort der Erwachsenen darauf hinweisen, dass es in den meisten Fällen zu einem Ineinander von Gottes Handeln und der Verantwortung des Menschen kommt, bei dem sich beide nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen lassen.

Das Leiden an dem verborgenen Gott findet sich vielfältig auch in der Bibel (z. B. Psalmen). In der Deutung des Geschicks Jesu findet sich dann auch die Vorstellung von dem leidenden Gott: Gott setzt sich den Verhältnissen dieser Welt und dem Leiden aus, die vielfach daher rühren, dass sich der Mensch seiner Verantwortung für gelingendes Leben nicht stellt. Er fährt nicht dazwischen, aber er leidet mit denen, die an diesen Verhältnissen leiden.

 

Die Entwicklung der Kinder und Grundaussagen der Bibel

F. Harz zeigt Parallelen in der Entwicklung und der Suchbewegung der Kinder zu den Intentionen biblischer Gottesbilder auf. Grundlage dafür ist, dass nach biblischen Zeugnis sich Gott und Mensch (als Schöpfer und Geschöpf) gegenüber stehen und Beziehung zueinander treten können. Gegenüber und lebendige Beziehung sind also die entscheidenden Stichworte. Sie prägen auch die Entwicklungsschritte des Kindes zu anderen Menschen und der Welt.

 

Gott, der Fürsorger und Begleiter

Am Anfang eines Lebens ist diese Beziehung i. d. R. auf eine Person, die Mutter fixiert. Mit ihr hat das Kind bis zu Geburt in körperlicher Einheit gelebt. Sie steht nach der Geburt für Nahrung, Fürsorge, Nähe. "Sie ist...das Leben spendende, Bergende, alles umfassende Gegenüber"10 und wird so der "erste Gott des Kindes".11Ein diesen Grunderfahrungen entsprechendes Gottesbild zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel. Es reicht von den Vätergeschichten (Abraham, Isaak, Jakob) über die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei bis ins NT. Es ist das Bild von Gott, der sich den Menschen zuwendet, der sie (durch das Leben) begleitet, der zu denen geht, die am Rande sind.

Gott, dessen Treue weiter reicht als die der MenschenWenn sich die Wahrnehmung der Kinder weitet, kommen mehr und mehr die sie umgebende Welt und mit ihr andere Menschen in den Blick. Trennungsängste und erste Ablöseprozesse stehen als Erfahrung nebeneinander. Gott wird zu der Kraft, von der Schutz und Begleitung erwartet werden, die über die menschlicher Bezugspersonen hinausreicht. Gott ist größer und stärker als Menschen. Dogmatisch gesprochen wird Gott zum "Allmächtigen". Dieses Bild erscheint in den Geschichten des AT und NT, in denen in plastischen Bildern von Gottes wunderbarem und unerwartetem Eingreifen erzählt wird: z. B. die Rettung am Schilfmeer oder die Sturmstillung; aber auch in solchen Geschichten, vor allem des NT, die von Gottes grenzenloser Liebe erzählen: z. B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

 

Gott, der Garant der Welt und des Lebens

In einem nächsten Schritt, mit der Wahrnehmung räumlicher und zeitlicher Dimensionen, wird nach Gottes Wohnen und Wirken gefragt. "Gott wird von den Kindern am Rand der wahrnehmbaren Welt lokalisiert, dort, wo sich unsere Welt ins Unendliche zu verlieren droht".12 Gott ist nicht mehr nur der, der sich dem Menschen liebevoll zuwendet und sie auf wunderbare Weise beschützt, sondern er ist auch der, der den Bestand der erfahrbaren Welt garantiert, "in den hinein sich das eigene Leben entfalten kann".13 Die personale Beziehung wird um die räumliche ergänzt, und beide gehören zusammen. Das gibt Kindern Sicherheit, die Kreise ihrer Aktivitäten immer weiter zu ziehen und Neues zu erkunden.

Biblisch gesehen sind es vor allem die Bilder vom Himmel als "Deiner Finger Werk" (Psalm 8) und als der Wohnung Gottes, der sich z. B. in der Geschichte von Jakob und der Himmelsleiter oder der lukanischen Weihnachtsgeschichte mit der Erde verbindet. Sie sind gerade weit davon entfernt, Gott ins Jenseits, in ein Refugium außerhalb der sichtbaren Welt abzuschieben.

 

Gott, der Schöpfer der Welt und des Lebens

Eng damit verbunden sind die neugierig bohrenden Fragen der Kinder nach dem Ursprung und dem Ziel der Welt und des Lebens. Hier versuchen die Geschichten von der Schöpfung auf ganz verschiedene Weise Antwort zu geben; aber sie sind sich darin einig, dass Anfang und Ziel bei Gott liegen - für die Welt und die Menschheit ebenso wie für jeden Einzelnen.

 

Gott, der Mitleidende

Je differenzierter die Welt, in der sie leben, von den Kindern wahrgenommen wird, desto näher rücken Erfahrungen, die bisherige Erfahrungen mit Gott und ihnen entsprechende Bilder in Frage stellen: Leid, Zweifel, Situationen, in denen Gottes Wirken und seine Nähe nicht zu spüren sind. Es hat keinen Sinn, solche Erfahrungen verzweifelt von den Kindern fernzuhalten oder mit dem Hinweis auf die Allmacht Gottes zu verharmlosen. Sie sind Teil dieses Lebens, und sie können bitter sein. Das bisherige Bild von Gott bekommt Risse und verlangt nach Korrekturen. Auch in der biblischen Überlieferung tritt - nicht erst im NT - das Bild von einem Gott, der mitleidet, der sich dem klagenden, verzweifelten Menschen an die Seite stellt, neben die bereits beschriebenen Bilder. Gott leidet z. B. an der Sturheit der Menschen, er bereut die Sintflut und garantiert den weiteren Bestand der Welt, und nicht zuletzt liefert er sich in Jesus von Nazareth dem Leiden und dem Tod aus - und überlässt ihnen doch nicht das letzte Wort.

Diese Spannung lässt sich nicht auflösen. Sie lässt immer neu nach Gott fragen, und sie schärft den Blick für die eigene Verantwortung.

 

Kinder und Erwachsene im Dialog

Das Nachdenken über Gott, das Fragen und Zweifeln ist ein Prozess, in dem sich die Sichtweisen und Fragestellungen immer wieder verändern.

Er ist auch von Spannungen geprägt. Die Gleichung geht nicht immer glatt auf. Kinder sind zwar bemüht, hier Klarheit zu schaffen, und oft gelingt es ihnen auch. Je differenzierter sie aber die Wirklichkeit wahrnehmen, desto häufiger gelingt es nicht. In solchen Fällen können Kinder beide Erfahrungen nebeneinander stehen lassen. Solche Fähigkeit geht aber mit zunehmendem Alter verloren.

Beides - die Prozesshaften Veränderungen und die Spannungen - sind ein Zeichen von Lebendigkeit. So wie sich der Mensch ständig nicht nur äußerlich verändert, so verändert sich auch das Verhältnis zu Gott und damit das Gottesbild. Die stärksten Veränderungen finden natürlich in den Jahren der Kindheit und im Jugendalter statt; aber im Verhältnis zu Gott sollten sie nie aufhören. Denn jede Erstarrung (und sei es die Erstarrung in kirchlich-dogmatischen Formeln) verhindert Lebendigkeit.

"Bleibt solches bewegliche Nachdenken über Gott in Gang, dann müssen die Gottesvorstellungen auch nicht in Konkurrenz geraten zu dem sich nach und nach differenzierenden Bild der Welt und den zunehmenden naturwissenschaftlichen Einsichten, sondern sie begleiten es, werden von ihm immer wieder herausgefordert. An und mit Kindern können wir lernen, wie das Nachdenken über Gott offen bleiben kann und muss!"14Es sollte also alles vermieden werden, was Kinder auf ein Bild von Gott festlegt - sei es kindlich konkret oder (vorzeitig) erwachsen abstrakt.Im ersten Fall kann es geschehen, dass später mit dem kindlich-konkreten Gottesbild auch die Beziehung selbst verworfen wird; im zweiten Fall kann es geschehen, dass sich mit dem erwachsen-abstrakten Gottesbild keine vertrauensvolle Beziehung entwickeln kann.

D. h.: Kinder muten den Erwachsenen zu, eigene Bedenken zurückzustellen und sich auf ihre Denkbewegungen einzulassen. Zugleich dürfen die Erwachsenen darauf vertrauen, dass Kinder in der Lage sind, sich zur rechten Zeit (d. h. zu dem in ihrer Entwicklung richtigen Zeitpunkt) von enggewordenen Vorstellungen zu lösen und tragfähigere zu suchen.

In einem Gespräch mit Kindern, das ihre Gedanken und Überzeugungen, ihre Fragen und Zweifel ernst nimmt, kann es also weder darum gehen, deren Aussagen nur zu bestätigen oder die eigenen Antworten als "richtig" zu verkaufen. Vielmehr ist es ein Dialog, in dem die Kinder spüren, dass sie ernstgenommen werden und darum auch die Äußerungen der Erwachsenen ernst nehmen können; ein Dialog, in dem die Kinder erfahren, dass ihre Gedanken und Überzeugungen, ihre Fragen und Zweifel auch die der Erwachsenen sind, und dass sich beide mit ihnen Gott anvertrauen können.

Die eingangs formulierte Grundthese, dass die menschlich-konkreten Vorstellungen von Gott im Kindesalter eine wesentliche Voraussetzung dafür sind, im Dialog zu abstrakteren Vorstellungen zu gelangen wird durch eine Untersuchung von Helmut Hanisch bestätigt.15In den neuen Bundesländern hat er zwei Schülergruppen im Alter von 7 - 16 Jahren, von denen die eine religiös, die andere nicht-religiös erzogen worden ist, nach ihren Gottesbildern befragt.

Das Ergebnis zeigt, dass anthropomorphe Gottesbilder im Alter zwischen sieben und neun Jahren in beiden Gruppen etwa gleich stark vertreten sind (um 90 %). Ab zehn Jahre nimmt der Anteil bei den religiös Erzogenen dann aber kontinuierlich ab und erreicht bei den 16-jährigen einen Wert von ca. 20 %. Bei den nicht-religiös Erzogenen pendelt sich dieser Anteil bei 75 - 80 % ein. Umgekehrt entwickeln die religiös Erzogenen sehr viel früher und häufiger abstraktere (in der Untersuchung "symbolische Vorstellungen" genannt) als die nicht-religiös Erzogenen.

Ähnliche Tendenzen zeigen sich bei anthropomorphen Attributen wie Bart, Wolken, Heiligenschein, Flügel. Es ist leicht auszudenken, welche zusätzliche Hürde anthropomorphe Vorstellungen für eine spätere Gottesbegegnung sein können, wenn sie sich im Jugend- und Erwachsenenalter verfestigt haben und den Bereich des Glaubens als kindisch qualifizieren.

 

 Anmerkungen

  1. Bucher, Anton: Gottesvorstellungen in der kindlichen Entwicklung. In: Lebendige Katechese, 13. Jg. 1991, Heft 1, S. 19ff.ders.: Kinder als Theologen? In: RL, Zeitschrift für Religionsunterricht und Lebenskunde 1992, Heft 1, S. 20.ders.: Wenn wir immer tiefer graben... kommt vielleicht die Hölle. Plädoyer für die erste Naivität. In: Katechetische Blätter, 114. Jg. 1989, S. 654ff.Grom, Bernhard: Zurück zum alten Mann mit Bart?. In: Katechetische Blätter, 114. Jg. 1989, S. 790 ff.Oser, Fritz/Reich, Helmut: Nicht zurück zum alten Mann mit Bart sondern vorwärts zum eigenständigen Kind. In: Katechetische Blätter, 115. Jg. 1990, S. 170ff.
  2. Harz, Frieder: Mit kleinen Kindern von Gott reden. In: Harz, Frieder/Schreiner, Manfred (Hg.): Glaube im Lebenszyklus, München 1994, S. 119ff. (im Folgenden zitiert als: Harz)
  3. Aufwachsen in schwieriger Zeit. Kinder in Gemeinde und Gesellschaft. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1995. Hier vor allem das Kapitel: Wie Kinder glauben, S. 65ff.
  4. Harz, S. 119.
  5. Harz, S. 124.
  6. Harz, S. 130.
  7. Vgl. Nipkow, Karl Ernst: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 1987, S. (zitiert nach Harz, S. 130)
  8. Harz, S. 130.
  9. Harz, S. 131.
  10. Harz, S. 125
  11. Fraas, Hans-Jürgen: Religiöse Erziehung und Sozialisation im Kindesalter, Göttingen 1973, S. 93.
  12. Harz, S. 126.13 Harz., S. 126.
  13. Harz, S. 124.
  14. Hanisch, Helmut: Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart und Leipzig 1996.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/1997

2/1997

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