Das Interesse an Jesus von Nazareth bricht immer neu auf - keineswegs nur bei überzeugten Christen, sondern oft auch bei skeptischen oder kritischen Zeitgenossen. Ein Indiz dafür sind Artikel über Jesus und das frühe Christentum in Zeitungen und Zeitschriften, beispielsweise im Nachrichtenmagazin “Der Spiegel”, Artikel, die oft in der Zeit vor Weihnachten oder Ostern erscheinen, deren Autoren offenbar mit dem Interesse breiter Leserkreise rechnen. Darüber hinaus erscheint eine Vielfalt populärwissenschaftlicher Literatur, die oft auf Sensationen abzielt und den Eindruck erweckt, als würden Entdeckungen bisher geheimer Tatsachen präsentiert, die das überlieferte Bild der biblischen und kirchlichen Tradition in Frage stellen.
In dieser Situation ist es beachtenswert, dass jetzt von mehreren bekannten Neutestamentlern Bücher zum Thema vorliegen. Genannt seien vor allem die Bücher von Eduard Schweizer (“Jesus, das Gleichnis Gottes”), Klaus Berger (“Wer war Jesus wirklich?”), Jürgen Becker (“Jesus von Nazaret”), Gerd Theißen/Annette Merz (“Der historische Jesus”)1. In der Aufnahme von Fragestellungen und Erkenntnissen dieser Forschungen soll gezeigt werden, wie bei der Frage nach dem historischen Jesus ein äußerst verantwortungsbewusster Umgang mit den Quellen erforderlich ist.
Die Quellen
Bei der Auseinandersetzung mit den Fragestellungen der letzten Zeit stellt sich immer wieder die Frage: gibt es neue Erkenntnisse über Jesus, die aus den außerbiblischen Quellen gewonnen werden können? Zunächst muss daran erinnert werden, dass die außer-christlichen Quellen weithin bekannt sind. So überliefern der römische Historiker Tacitus und der jüdische Schriftsteller Josephus die Tatsache des gewaltsamen Todes Jesu. Josephus erwähnt auch, dass Jesus als Lehrer gewirkt hat. Die römischen Schriftsteller Sueton und Plinius setzen die Existenz der christlichen Gemeinde voraus, die auf Christus (Chrestus) zurückgeht. Die Bedeutung dieser Quellen besteht darin, dass neutrale Beobachter und auch Gegner die Geschichtlichkeit Jesu voraussetzen. Die Tatsache, dass Jesus gelebt hat, wird in diesen Quellen nirgends bezweifelt.
Besonderes Interesse haben in der letzten Zeit die außerbiblischen (apokryphen) Evangelien gefunden. Die meisten dieser Texte sind seit langem veröffentlicht 2 .In diesem Zusammenhang ist zunächst das Thomas-Evangelium zu nennen. Es enthält 114 Logien (Gleichnisse, Weisheitsworte, Gesetzesworte usw.) und ist zwischen den Jahren 70 und 140 entstanden. In der Forschung ist umstritten, ob das Thomas-Evangelium von den synoptischen Evangelien abhängig oder unabhängig ist. Stellt man fest, dass beispielsweise das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Markus 12, 1f) im Thomas-Evangelium in einer ursprünglicheren Form überliefert wird, so kann man sagen: im Thomas-Evangelium lässt sich ein eigenständiger Traditionsstrang erkennen, der bis in die frühe Zeit zurückreicht. Allerdings muss man auch feststellen, dass eine Reihe von Texten durch gnostische Anschauungen geprägt sind.
Besondere Aufmerksamkeit hat das so genannte “geheime Markusevangelium” gefunden. Im Jahre 1958 wurde ein Fragment eines Briefes des Theologen Clemens von Alexandrien entdeckt. Clemens spricht hier von einer zweiten geistlicheren Version des Markus-Evangeliums. Er bestreitet dabei, dass sich in ihm Passagen finden, auf die sich eine christlich-gnostische Gruppe mit Recht berufen könne. In diesem Fragment zitiert Clemens die Geschichte von der Auferweckung eines jungen Mannes, die an Johannes 11 (die Lazarus-Geschichte) erinnert.
In der Forschung wird die Frage diskutiert, ob das geheime Markus-Evangelium eine Vorstufe des synoptischen Markus darstellt oder eine frühe Erweiterung des Markus-Evangeliums. Die meisten Forscher halten es für eine gnostische Überarbeitung.
Theißen zieht nach gründlicher Analyse der Texte das Fazit: Im Blick auf die Frage nach dem historischen Jesus ist ein Überblick über die außerbiblischen Quellen insgesamt ernüchternd. Denn in diesen Texten begegnet man nicht dem irdischen Jesus, sondern verschiedenen Jesusbildern. Das Thomas-Evangelium bezeugt Jesus als den Vermittler geheimer Offenbarungen. In den judenchristlichen Evangelien (Nazaräer -, Ebionäer -, Hebräer-Evangelium) trägt die Botschaft Jesu einen unverkennbar ethischen Akzent. Die Evangelienfragmente mit synoptischen und johanneischen Elementen vermitteln kein einheitliches Jesusbild. Gelegentlich ist behauptet worden: man müsse sich gegen die “Tyrannei des synoptischen Jesus” wenden und deshalb stärker die apokryphen Evangelien berücksichtigten. Es darf allerdings dann nicht die “Tyrannei des apokryphen Jesus” an seine Stelle treten.
Die synoptischen Evangelien bleiben schon wegen ihrer Materialfülle die entscheidenden Quellen. Allerdings ist es wichtig, ihren Auswahlcharakter im Bewusstsein zu behalten. So ist es möglich, andere Quellen als Ergänzungen und Korrektive mit einzubeziehen.
Jesus und die religiösen Strömungen seiner Zeit (Qumran)
Das Verhältnis zwischen Jesus und den verschiedenen religiösen Gruppierungen seiner Zeit - Pharisäern, Sadduzäern, Zeloten - ist seit langem untersucht. Besonderes Interesse finden immer wieder die Essener, die Schriften aus Qumran. Hier stellt sich die Frage: geben sie neue Aufschlüsse über das Leben und Wirken Jesu. lässt sich eine Verbindung zwischen Qumran und Jesus erkennen? Zu diesen Fragen gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen, zum Teil reißerisch aufgemachte Bücher. Der Göttinger Neutestamentler Hartmut Stegemann, der selbst seit langem an der Edition von Qumran-Texten beteiligt ist, hat in seinem Standardwerk die wichtigsten Fakten zusammengestellt.3 Zunächst ist festzustellen, dass alle umfangreicheren Schriftrollen bereits in den Jahren 1950-56 veröffentlicht sind. An den restlichen Schriften bzw. den vielen Fragmenten arbeiten die Forscher aus verschiedenen Ländern kontinuierlich weiter. “Geheim” ist also gar nichts mehr.
Zum Alter der Handschriften lässt sich sagen: sie sind zwischen dem 3. Jahrhundert vor Christus und 68 nach Christus entstanden. Diese Erkenntnisse sind vor einigen Jahren zusätzlich durch einen naturwissenschaftlichen Test an den Handschriften bestätigt worden, der von einem physikalischen Institut der Universität Zürich durchgeführt wurde. Kein Dokument ist erst nach dem Jahre 30 nach Christus angefertigt worden. In den Jahren zwischen 30 und 68 nach Christus (Zerstörung Qumrans) sind nur ältere Werke kopiert worden. Der Habakuk-Kommentar (um 50 vor Christus) ist das letzte essenische Werk.
Diese Erkenntnisse zur Entstehungszeit der Schriften sind nun in besonderem Maße wichtig für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Qumran und dem Urchristentum. Schon aufgrund der zeitlichen Zusammenhänge und natürlich aufgrund der inhaltlichen Aussagen lässt sich als Fazit festhalten: Die Qumran-Schriften bieten viel für das Judentum sowie als Verständnishilfe für das Neue Testament. Sie bieten aber nichts über Jesus und das frühe Christentum, vor allem “nichts, was die christlichen Glaubensgrundlagen auch nur antastet geschweige denn erschüttern könnte” 4 .
Jesus, die Jünger und die Frauen
Jesus beruft einen Kreis von Jüngern, wobei die Zwölfzahl die zwölf Stämme Israels repräsentiert. Zu der weiteren Gruppe von Freunden und Anhängern, die mit ihm durch Galiläa und schließlich nach Jerusalem ziehen, gehören erstaunlicherweise auch eine Reihe von Frauen (Lukas 8, 1-3, Markus 15, 40f). Nun hat besonders Maria von Magdala immer wieder besonderes Interesse geweckt: besteht zwischen Jesus und ihr eine besondere Nähe, möglicherweise eine besondere erotische Beziehung? Das (außerbiblische) Philippusevangelium nennt Maria von Magdala die Gefährtin, die besondere Offenbarungen durch den “Kuss auf den Mund” empfangen habe (vgl. Berger, S. 153). Da das Philippusevangelium gnostisch geprägt ist und Bilder der Brautmystik benutzt, müssen diese Aussagen im Rahmen der gnostischen Anschauung verstanden und können nicht als historische Tatsachen gesehen werden.
Die neuzeitliche Sensationsliteratur wittert hier natürlich ein ergiebiges Feld. So verwundert es nicht, wenn in einigen der erwähnten Bücher behauptet wird, Jesus sei mit Maria Magdalena verheiratet gewesen, sie haben eine Tochter gehabt, Jesus habe auch die Kreuzigung überlebt usw. Dies alles ist natürlich pure Phantasie 5 . Die Quellen geben darüber hinaus nichts her; und ein sorgfältiges Wahrnehmen der Quellen ist hier das erste Gebot der Wahrhaftigkeit.
Die Frage nach den Kriterien
Klaus Berger geht bei der Frage nach Jesus auf alle christlichen Quellen bis zum Jahre 200 nach Christus zurück. Er lehnt es dabei ab, zwischen “echt” und “unecht” zu unterscheiden. Bei diesen Versuchen komme nur heraus, was man sich ohnehin schon unter Jesus vorgestellt habe. Außerdem unterscheidet Berger nicht zwischen dem vorösterlichen historischen Jesus und dem nachösterlichen Christus des Glaubens. Zweifellos hat dieser Zusammenhang im Neuen Testament erhebliches Gewicht. Dennoch erscheint es m.E. problematisch, die historische Rückfrage einfach als unzulässig zu bezeichnen. Wie die anderen Veröffentlichungen zeigen, lassen sich bei einer behutsamen Auswertung der Quellen durchaus begründete historische Erkenntnisse gewinnen.
Für Jürgen Becker ist dabei das “Differenzkriterium” wichtig. Es besagt: Worte, die gegenüber dem Frühjudentum wie gegenüber dem Urchristentum Originalität besitzen, gehen wahrscheinlich auf den historischen Jesus zurück. Dabei darf allerdings die Kontinuität zwischen Jesus und dem Urchristentum nicht unterschätzt werden. Auch darf man das Differenzkriterium nicht überziehen; vielmehr geht es darum, zugleich die Verflechtung innerhalb der Geschichte angemessen wahrzunehmen. Jesus ist “kein Nomade in der Weltgeschichte” 6 . Außerdem ist für Becker das so genannte “Kohärenz-Prinzip” wichtig. Es fragt: Inwiefern stimmt die Verkündigung Jesu mit seiner Lebensgestaltung und mit seinem Geschick überein? Auch diese Fragerichtung ist wichtig, um an den Texten Erkenntnisse über den historischen Jesus zu gewinnen.
Gerd Theißen wendet sich scharf gegen das Differenzkriterium und vertritt demgegenüber das “historische Plausibilitätskriterium” 7 . Es rechnet mit der Einbindung in einen jüdischen Kontext und mit historischen Wirkungen Jesu auf das Urchristentum. Nun ergibt sich bei genauerer Betrachtung, dass die genannten Kriterien sich trotz des scharfen begrifflichen Gegensatzes jedenfalls zum Teil überschneiden. Zugleich zeigt die ausgeführte Darstellung in den beiden Büchern: Die von Becker und Theißen herausgearbeiteten Schwerpunkte der Verkündigung Jesu stimmen in wesentlichen Punkten überein. Diese Übereinstimmung ist gerade im Blick auf die populärwissenschaftliche Literatur und ihre zum Teil abenteuerlichen Thesen von besonderer Wichtigkeit: bei verantwortungsbewusster Interpretation der Quellen sind die wesentlichen Grundzüge der Verkündigung Jesu erkennbar.
Die Gottesherrschaft
Die Verkündigung der Gottesherrschaft steht im Zentrum des Wirkens Jesu. Besonders Becker arbeitet dabei heraus, dass Jesus damit eine Tradition aufgreift, die in Israel besonders deutlich von Deuterojesaja, dem Propheten in der Zeit des Exils, vertreten wird. Dieser Prophet verkündet eine Hoffnung, nach der der entscheidende Machterweis Gottes noch aussteht. In der Aussage Jesaja 43, 18f kommt dieses besonders deutlich zum Ausdruck: “Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?” Der Prophet kündigt die Heimkehr des Volkes aus dem Exil als das künftige Heilsereignis an und versteht seine Verkündigung damit als Freudenbotschaft (vgl. Jesaja 52, 7).
Zugleich sind die Botschaft und das Wirken Johannes des Täufers wichtig. Wenn Jesus sich von ihm hat taufen lassen, dann hat er damit der Botschaft des Täufers zugestimmt: die heilsgeschichtliche Erwählung Israels nützt nichts mehr, nur eine neue Zuwendung Gottes kann noch Abhilfe schaffen. Doch hier wird bereits ein Unterschied sichtbar: der Täufer bezeugt einen Gott, der sich ganz Israel im Zorn zugewandt hatte. Jesus dagegen vertritt den Gott, dessen eigentliches Werk die Güte ist. Angesichts der Gerichtsverfallenheit Israels verkündigt Jesus Gott als den Retter der Verlorenen. Die gegenwärtige Zeit wird so zur Zeit des Heils. In ihr beginnt die Gottesherrschaft sich durchzusetzen. Charakteristisch dafür ist ein Wort wie Lukas 10, 18: “Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen”. Dem entspricht die andere Aussage Lk. 11, 20 par.: “Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Gottesherrschaft zu euch gekommen. Die künftige Gottesherrschaft bricht schon jetzt an (vgl. Lukas 17, 20f).
Dieses Geschehen spricht Jesus den Menschen zu, vor allem in den Gleichnissen. Seine Verkündigung wird durch sein Verhalten bestätigt - die gemeinsame Mahlzeiten und die Heilungen. Aus alledem ergibt sich: Im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu steht nicht die Tora - die Weisung -, sondern die Gottesherrschaft. Er eröffnet seinen Hörern Gotteserfahrung, indem er die “Nähe Gottes durch Wort und Tat gegenwärtig macht” .
Das Verständnis der Gebote - die Tora
Nimmt man ernst, dass Jesus im Judentum verwurzelt ist, dann stellt sich die Frage, wie er es mit der Tora hält, welche Bedeutung also der Weisung, der Forderung Gottes zukommt. Theißen formuliert in diesem Zusammenhang: Die Ethik Jesu bewegt sich zwischen Tora-Verschärfung und Tora-Entschärfung 8 .
- Die Antithesen der Bergpredigt (z.B. Matth. 5, 21f, 27f) zeigen: Die Tora wird nicht interpretiert, nicht kritisiert und nicht aufgehoben, sie wird vielmehr transzendiert. Man kann den Willen Gottes erst erfüllen, wenn man den eigenen Willen, das Herz von ihm bestimmt sein lässt.
- Am Beispiel des Sabbatgebotes (Markus 2, 23f, 3,1f) wird deutlich: Der ethische Wille Gottes - Heilung und Hilfe - setzt sich auch gegen bestehende Sabbatpraxis durch. Die Aussage Markus 2, 27 “Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen” stimmt mit der Intention der Tora überein, kann aber Übertretung der buchstäblichen Regel bedeuten. Jesus vertritt innerhalb des Judentums eine “liberale Tora-Auffassung” (so auch Berger).
In ähnlicher Weise sieht Pinchas Lapide das Verständnis der Tora bei Jesus innerhalb des Judentums. Mit keiner Aussage, auch nicht mit seinem Verhalten, verlasse Jesus grundsätzlich den Rahmen des Judentums. Im Blick auf die verschiedenen Strömungen und Gruppierungen sieht Lapide eine besondere Nähe zur Gruppe der Pharisäer, und zwar rechnet er Jesus innerhalb der verschiedenen pharisäischen Schulen zu den “Liebespharisäern”, also zu der Gruppe, für die das Liebesgebot im Mittelpunkt steht. Und er spricht von Jesus als dem “gekreuzigten Pharisäer” 9 .
Wie immer man die zweifellos zugespitzte These Lapides im einzelnen beurteilen mag, so ist doch für den Zusammenhang und das Verständnis des irdischen Jesus grundsätzlich zu beachten: In seiner Verkündigung und in seinem Wirken steht, wie oben aufgezeigt, die Gottesherrschaft im Mittelpunkt. Die Gottesherrschaft bestimmt daher die Lebensgestaltung. Sie gibt auch die Richtung an, wie mit der Tora umzugehen ist. Die Auslegung der Tora durch Jesus ist Teil eines innerjüdischen Dialoges. Dabei bringt Jesus eine Position ein, die von vielen als unbequem oder ärgerlich angesehen wurde. Von der Gottesherrschaft gewinnt das Liebesgebot besondere Bedeutung.
Der Prozess Jesu und die Kreuzigung
Jesus hat mit seiner Verkündigung und seinem Verhalten nicht nur Zustimmung gefunden, sondern auch Widerspruch und Ablehnung hervorgerufen. Zu der Frage, wie Jesus selbst seine Zukunft eingeschätzt, was er in Jerusalem erwartet hat, finden sich nur wenige Worte in den Evangelien. Das Problem, wie es zur Verhaftung und Verurteilung gekommen ist, hat die Forschung seit langem beschäftigt. Auch in den letzten Jahren ist darüber immer wieder diskutiert worden.
Folgende historische Fakten dürften dabei zu beachten sein:
Die Gegner Jesu in Jerusalem sind vor allem die Sadduzäer, die jüdische Priesteraristokratie. Sie ergreifen die Initiative bei der Gefangennahme und treten als Ankläger bei Pilatus auf (Markus 14, 1, 43,53,60; 15, 11; vgl. Becker S. 426). Im Hause des Hohenpriesters wird ein Verhör Jesu und der Zeugen stattgefunden haben und damit die Vorbereitung der Anklage vor Pilatus 10 . Die historischen Fragen zum Prozess Jesu vor Pilatus sind nur noch sehr allgemein wahrzunehmen. Fest steht im jedem Fall die Verurteilung zur römischen Strafe der Kreuzigung. Als Todesursache dürfte der politische Aufruhr angesehen werden. Dazu ist die Kreuzesinschrift “König der Juden” zu vergleichen. Nun hat Jesus nie einen solchen Anspruch in seinem Wirken erhoben. Man kann sich aber sehr gut vorstellen, wie der sadduzäische Adel, dem das Wirken Jesu religiös sehr suspekt war, “so die Jesus-Botschaft auf den politischen Punkt bringen konnte” 11 .
Im Zusammenhang der Kreuzigung (und der Kreuzesinschrift) ist immer wieder die Frage gestellt worden: gehörte Jesus zur Befreiungsbewegung der Zeloten? So wird in dem Bestseller von Baigent und Leigh “Verschlusssache Jesus” (1991) behauptet, Jesus sei ein kämpferischer Rebell gewesen. Die Quellenlage ergibt demgegenüber, dass diese Deutung durch nichts zu belegen ist. Grundlegende Worte Jesu wie die vom Friedenstiften, von der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit sowie sein eigenes Verhalten sprechen eindeutig dagegen. Aus der Jesusüberlieferung insgesamt dürfte sich kaum begründen lassen, dass Jesus den Zeloten nahe gestanden habe. Nach Lapide bedeutet die Botschaft vom Gottesreich für die Juden immer auch Befreiung im politischen Sinne. So habe es Jesus gewagt, waffenlos gegen die Römerherrschaft zu protestieren als ein “Rebell der Gewaltlosigkeit” 12 . Für die Aussagen zur Gewaltlosigkeit lassen sich Stellen aus den Evangelien heranziehen. Jedoch lässt sich aus den Evangelien insgesamt nicht wahrscheinlich machen, dass für Jesus die Botschaft vom Gottesreich mit der Befreiung von der Römerherrschaft verbunden ist.
Für eine differenzierte Beurteilung der Kreuzigung Jesu ist vor allem die folgende Erkenntnis wichtig: Das Neue Testament behauptet nicht, dass die Juden insgesamt am Tod Jesu schuld seien. Die Evangelien sprechen vielmehr von den Hohenpriestern, also den religiösen Repräsentanten Israels, die im Prozess Jesu eine Rolle spielen, und einer Volksmenge in Jerusalem, die vom römischen Statthalter Pilatus die Kreuzigung fordert. Damit besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen der Hauptlinie der neutestamentlichen Aussagen und der später im Laufe der Kirchengeschichte geprägten Bezeichnung, die Juden insgesamt seien die “Gottesmörder”. Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es sich hier um eine verhängnisvolle Verzerrung handelt, die in äußerst unheilvoller Weise in der Geschichte gewirkt hat, und die bis in die Gegenwart hineinspielt. Eine solche Verzerrung kann gerade von einer verantwortlichen historischen Besinnung nachdrücklich korrigiert werden.
Die Auferstehung Jesu
Das Urchristentum verarbeitete die geschichtlichen Spuren Jesu unter der Voraussetzung, dass damit die Geschichte eines Lebenden vergegenwärtigt wird. Die Sammlung der Überlieferungen stand von Anfang an unter besonderen Bedingungen, nämlich unter der Voraussetzung der Ostererfahrung. Die verschiedenen neutestamentlichen Texte lassen deutlich erkennen, dass kurz nach der Kreuzigung Jesu die Jünger mit dem Bekenntnis auftreten: “Jesus ist auferweckt”. Sie gründen dieses Bekenntnis auf Erscheinungen des lebendigen Christus: Er ist erschienen”. Betrachtet man diese Zusammenhänge unter historischer Fragestellung, so lässt sich sagen: Der Osterglaube der Jünger, ihr Bekenntnis, sowie das Entstehen der christlichen Gemeinde sind historische Tatsachen. Dagegen sind die Erscheinungen sowie die Auferweckung Jesu selbst, mit den Mitteln historischer Erkenntnis nicht zu fassen. Dieses ist keine bedauerliche Einschränkung, sondern in der Natur der Sache begründet. Die Ostererfahrung bestätigt und vertieft die Gotteserfahrung, die Jesus mit seiner Botschaft und seinem Leben bezeugt hat. Sie erschließt die Gewissheit: Auch angesichts von Schuld und Tod bleibt Gott den Menschen als seinen Geschöpfen zugewandt.
Glaube und Geschichte
Abschließend sollen einige Einsichten formuliert werden zu der Frage, welche Bedeutung das Erforschen und Verstehen der Geschichte des Urchristentums für den Glauben hat. Der christliche Glaube braucht die kritische Untersuchung seiner Grundlagen nicht zu scheuen und sich nicht verunsichern zu lassen. Als Fazit der jüngsten Diskussion möchte ich folgende Thesen formulieren, die natürlich ihrerseits der weiteren Entfaltung und auch des weiteren Gespräches bedürfen:
- Historische Forschung kommt zu mehr oder weniger wahrscheinlichen Ergebnissen, und manche Fragen bleiben offen. Eine verantwortungsbewusst wahrgenommene historische Forschung zeigt aber: Über Jesus von Nazareth sind wichtige Tatsachen seines Lebens erkennbar, vor allem aber die Grundzüge seiner Botschaft und seines Wirkens.
- Der christliche Glaube ist auf einen geschichtlichen Menschen bezogen. Darin kommt eine wichtige Erfahrung zum Ausdruck: Christlicher Glaube ist nicht ein Gebäude von Ideen oder Dogmen, sondern er hat seinen Grund in einem gelebten Leben.
- Der christliche Glaube entsteht nicht dadurch, dass ein Wort mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den historischen Jesus zurückgeführt werden kann. Vielmehr entsteht christlicher Glaube, wenn ein Wort in das Leben von Menschen hineinspricht und sie überzeugt. Dies kann durch Worte Jesu geschehen oder durch die Christusbotschaft der ersten Zeugen in dem Sinne, wie es im Johannes-Evangelium formuliert wird (Joh. 7, 16f): Jesus sprach: “Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich von mir selbst aus rede.”
Anmerkungen
- E. Schweizer, Jesus das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?, Göttingen 1985, Kleine Vandenhoeck-Reihe 1572,
- K. Berger, Wer war Jesus wirklich?, Stuttgart 1995
- J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996
- G. Theißen, A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen 1996
- Als neuere katholische Darstellung ist zu nennen: R. Hoppe, Jesus. Von der Krippe an den Galgen, Stuttgart 1996
- Zu G. Laudert-Ruhm, Jesus von Nazareth. Das gesicherte Basiswissen - Daten, Fakten, Hintergründe, Stuttgart 1996, vgl. die Rezension von M. Künne in “Loccumer Pelikan” 1997/1
- Wichtig für die Auseinandersetzung mit populärwissenschaftlicher Literatur ist R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1997; nicht mehr berücksichtigt werden konnte das umfangreiche Werk von E. Drewermann, Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden, Zürich/Düsseldorf 1996.
- W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, I Evangelien 6. Auflage 1990
- H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus 1993. 3. Auflage 1995
- H. Stegemann, a.a.O., S. 360
- vgl. R. Heiligenthal, a.a.O., S. 56-70
- a.a.O., S. 17, vgl. auch E. Schweitzer, a.a.O., S. 27
- a.a.O., S. 117
- J. Becker, a.a.O., S. 274
- vgl. G. Theißen a.a.O., S. 323
Die Formulierung findet sich in dem Buchtitel allerdings in Frageform: P. Lapide, Jesus - ein gekreuzigter Pharisäer?, Gütersloh 2. Aufl. 1990
demgegenüber ist auch eine andere Auffassung (schon Hans Lietzmann) vertreten worden: Die Angaben über das Verhör vor Kaiaphas seien historisch wertlos; historisch sei allein der Prozess vor Pilatus - J. Becker, a.a.O., S. 433
- G. Lapide, a.a.O. S. 120