Das Alter ist in den westlichen Wohlstandsländern ein Thema geworden. Und das allüberall in Kultur und Gesellschaft, in Werbung und Lifestyle-Magazinen. Auch in der Pop- und Rockmusik – ursprünglich in den 1960er Jahren als Musikkultur der Jugend mit programmatischen Parolen wie „Never Get Old!“ gestartet – ist das Thema angekommen und wird vielfältig bearbeitet: von der Negation des Alters und der Schwierigkeit des Alterns mitten im Jugendhype und damit verbundenem Peter-Pan-Komplex über das Altern als geschlechtsspezifisches Problem bis hin zu realistischen und bisweilen hoffnungsvollen Umgangsweisen mit Alter, Krankheit, Sterben und Tod.
Der Popkünstler Bob Dylan hat 1997 das Album „Time Out Of Mind“ veröffentlicht – vom Fachmagazin „Rolling Stone“ zum Album des Jahrhunderts gekürt – und damit im Alter von damals 56 Jahren sein Spätwerk eröffnet. Denn auffällig viele Songs auf diesem mit Blues getränkten Album kreisen um die Themen des Alters. Das gilt auch für das im Dunstkreis dieses Werkes entstandene und aufgenommene, aber erst 2008 auf der Kompilation „Tell Tale Signs“1 herausgekommene Songjuwel „Red River Shore“2 . Darin blickt der Songerzähler auf sein gelebtes Leben mit dem sich durchziehenden Thema der verpassten Chance zurück: Schon der Beginn des Songs skizziert die Situation der Dunkelheit und Nacht, womit metaphorisch das Alter und Lebensende anklingt.
„Well I been to the east and I been to the west
And I been out where the black winds roar
Somehow though I never did get that far
With the girl from the red river shore”3
Diese zitierte Strophe zeigt: Der Erzähler war eigentlich überall, hat alles erlebt – nur nicht die Erfüllung des Lebenstraums, mit dem einen Mädchen dauerhaft zusammen zu sein. Das Alter wird hier als Zeit der Rückschau in den Blick genommen, die auch etwas davon „atmet“, Rechenschaft zu geben. Dies ist nicht im juristischen Sinne zu verstehen, sondern eher in die Richtung gehend, dass er, das Lyrische Ich, sein Bedauern, seine Reue über verpasste Chancen und unglücklich gelaufene Entwicklungen des Lebens zum Ausdruck bringt.
So erscheint das Alter hier als Zeit der Melancholie, der Beichte und Reue sowie des realistischen Sich-Eingestehens verpasster Chancen und Gelegenheiten.
Well the sun went down on me a long time ago
I‘ve had to pull back from the door
I wish I could have spent every hour of my life
With the girl from the red river shore
Now I heard of a guy who lived a long time ago
A man full of sorrow and strife
That if someone around him died and was dead
He knew how to bring ‚em on back to life
Well I don‘t know what kind of language he used
Or if they do that kind of thing anymore
Sometimes I think nobody ever saw me here at all
Except the girl from the red river shore”
Hier deutet sich an, dass das Alter auch die Phase der Akzeptanz, des Seinen-Frieden-Machens mit dem Leben, so wie es nun einmal gelaufen ist, bedeuten kann.
In der finalen Strophe kommt schließlich eine Sehnsucht zum Ausdruck, dass das Lyrische Ich doch gesehen und nicht vergessen wird – wohl auch über sein Ableben hinaus – und dass es eine Revision geben möge, eine Änderung oder gar ein neues Leben, eine neue Chance, durch das Wunder der Auferstehung erwirkt. Denn der hier ins Spiel gebrachte Typ oder Mensch ist eindeutig Jesus und die Anspielung ergeht in Richtung seiner Wundertätigkeit, speziell im Hinblick auf das, was in Johannes 11 über die Auferweckung des Lazarus berichtet wird.
So bleibt am Ende die Ambivalenz des Alters: Inmitten von Melancholie und Bedauern, Abgeklärtheit und Bitternis begegnet doch ein Hauch von Hoffnung in Gestalt der hier implizierten Sehnsucht nach Auferstehung in der Fülle ihres Bedeutungsgehalts.
Anmerkungen:
- Verfügbar als Bob Dylan, Bootleg Series Vol. 8: Tell Tale Signs – Rare And Unreleased 1989 – 2006, Doppel-CD von Columbia Legacy – Sony Music oder online z. B. anzuhören unter www.youtube.com/watch?v=IjKMZn3gU5o
- Bob Dylan, Lyrics 1962 – 2012. Sämtliche Songtexte. Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2016, 1084 – 1087.
- A.a.O., 1084.
- A.a.O., 1086.